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Pécuchet war der Sohn eines kleinen Kaufmanns und hatte seine Mutter nicht gekannt, die in jungen Jahren gestorben war. Man hatte ihn mit fünfzehn Jahren aus dem Internat genommen, um ihn zu einem Gerichtsdiener zu geben. Die Gendarmen erschienen unvermutet, und der Prinzipal wurde auf die Galeeren geschickt; eine grausige Geschichte, die ihn noch in Schrecken setzte. Dann hatte er sich in mehreren Berufen versucht: Apothekerlehrling, Studienmeister, Rechnungsführer auf den Paketbooten der oberen Seine. Schließlich hatte ihn ein Ministerialbeamter, der durch seine Handschrift gewonnen war, als Expedienten in Dienst genommen; aber das Bewußtsein einer mangelhaften Ausbildung mit den daraus entstehenden geistigen Bedürfnissen verdarb seine Laune; er lebte vollständig allein, ohne Verwandte, ohne Verhältnis. Seine einzige Zerstreuung war, am Sonntag die öffentlichen Arbeiten zu besichtigen. Seine frühesten Erinnerungen versetzten Bouvard auf den Hof eines Pachtgutes an den Ufern der Loire. Ein Mann, der sein Onkel war, hatte ihn nach Paris gebracht, damit er den Handel erlerne. Als er großjährig war, zahlte man ihm einige tausend Franken aus. Da hatte er sich eine Frau genommen und einen Zuckerwarenladen eröffnet. Sechs Monate später verschwand seine Gattin, wobei sie die Kasse mit sich nahm. Die Freunde, das gute Leben und seine Faulheit hatten den Ruin bald vollständig gemacht. Doch er hatte die Eingebung, seine schöne Hand zu benutzen; und seit zwölf Jahren hielt er sich in derselben Stellung bei den Herren Gebrüder Descambos, Stoffe, Rue Hautefeuille Nr. 92. Was seinen Onkel anging, der ihm vor Zeiten besagtes Bild zur Erinnerung hatte zugehen lassen, so kannte er nicht einmal dessen Aufenthaltsort und erwartete nichts mehr von ihm. Fünfzehnhundert Franken Rente und sein Einkommen als Schreiber erlaubten ihm, jeden Abend einen Nicker in einer Kneipe zu machen. So hatte ihr Zusammentreffen die Bedeutung eines Abenteuers gehabt. Sie hatten sich sogleich mit geheimen Fibern aneinander festgehakt. Wie übrigens die Zuneigung erklären? Warum bezaubert bei dem einen diese Eigenheit, jene Unvollkommenheit, die bei dem andern gleichgültig oder hassenswert ist? Was man den zündenden Blitz zu nennen pflegt, gilt für alle Leidenschaften. Bevor die Woche zu Ende war, duzten sie sich. Oft suchten sie einander in ihren Kontoren auf. Sobald der eine erschien, schloß der andere sein Pult, und sie gingen zusammen auf die Straße hinab. Bouvard machte große Schritte, während Pécuchet, der die seinigen verdoppelte und dem der Rock auf die Fersen schlug, dahin zu rollen schien. Ebenso standen ihre besonderen Neigungen miteinander im Einklang. Bouvard rauchte Pfeife, liebte den Käse und trank regelmäßig seine kleine Tasse Kaffee. Pécuchet schnupfte, aß zum Nachtisch nur Eingemachtes und tauchte ein Stückchen Zucker in seinen Kaffee. Der eine war vertrauensselig, unbesonnen, großherzig; der andere verschwiegen, nachdenklich, sparsam. Um Pécuchet ein Vergnügen zu machen, wollte Bouvard ihn mit Barberou bekannt machen. Das war ein ehemaliger Handlungsreisender, gegenwärtig Börsenspekulant, ein gutherziger Junge, Patriot, Damenfreund, der die Sprechweise des Faubourg nachzuahmen suchte. Pécuchet fand ihn unangenehm, und er führte Bouvard zu Dumouchel. Dieser Autor (er hatte nämlich eine kleine Mnemotechnik veröffentlicht) gab Literaturstunden in einem Pensionat für junge Mädchen, hatte orthodoxe Anschauungen und ein sehr ernstes Benehmen. Er langweilte Bouvard. Keiner hatte dem andern seine Meinung vorenthalten. Jeder erkannte die Richtigkeit der des anderen an. Ihre Gewohnheiten änderten sich, sie gaben ihren bürgerlichen Mittagstisch auf und speisten schließlich alle Tage zusammen. Sie stellten Betrachtungen über die Theaterstücke an, von denen man sprach, über die Regierung, über die hohen Lebensmittelpreise, über die Betrügereien im Handel. Von Zeit zu Zeit erschien die Halsbandgeschichte oder der Prozeß Fualdès in ihren Unterhaltungen; und dann suchten sie nach den Ursachen der Revolution. Sie schlenderten an den Trödlerläden entlang. Sie besuchten das Conservatoire des Arts et Métiers, Saint-Denis, die Gobelinwebereien, den Invalidendom und alle öffentlichen Sammlungen. Wenn man ihnen ihren Paß abverlangte, so taten sie, als hätten sie ihn verloren, indem sie sich für zwei Fremde, zwei Engländer, ausgaben. In den Galerien des Museums schritten sie mit Verwunderung an den ausgestopften Vierfüßlern vorbei, mit Vergnügen an den Schmetterlingen, mit Gleichgültigkeit an den Metallen; die Fossilien regten sie zu Träumen an, die Schal- und Muscheltiere langweilten sie. Sie spähten aufmerksam durch die Scheiben in die Treibhäuser, und sie erschauerten bei dem Gedanken, daß diese Gewächse Gifte absonderten. An der Zeder bewunderten sie, daß man sie in einem Hut herbeigeschafft hatte. Im Louvre bemühten sie sich, für Raffael sich zu begeistern. Auf der großen Bibliothek hätten sie die genaue Zahl der Bände wissen mögen. Einmal gingen sie in die arabische Vorlesung am Collège de France, und der Dozent war erstaunt, die beiden Unbekannten zu sehen, die nachzuschreiben versuchten. Dank der Hilfe Barberous drangen sie hinter die Kulissen eines kleinen Theaters. Dumouchel verschaffte ihnen Eintrittskarten für eine Sitzung der Akademie. Sie unterrichteten sich über die Entdeckungen, lasen Anzeigen, und durch diese Wißbegier entwickelte sich ihre Intelligenz. Fern an einem Horizont, der täglich sich erweiterte, nahmen sie Dinge wahr, die zugleich undeutlich und merkwürdig waren. Wenn sie ein altes Möbel bewunderten, bedauerten sie, daß sie nicht zu der Zeit gelebt hatten, da man sich seiner bediente, obgleich sie nicht die geringste Kenntnis über jene Zeit hatten. Bei gewissen Namen dachten sie sich Länder, die um so schöner waren, je ungenauer ihre Vorstellung davon war. Die Werke, deren Titel für sie unverständlich waren, schienen ihnen ein Geheimnis zu umschließen. Und wenn sie keine Gedanken mehr hatten, so litten sie um so mehr. Wenn auf der Straße eine Post ihren Weg kreuzte, wandelte die Lust sie an, mit ihr abzureisen. Der Blumenkai erregte ihnen Sehnsucht nach dem Landleben. Eines Sonntags setzten sie sich gleich am Morgen in Marsch; sie nahmen ihren Weg über Meudon, Bellevue, Suresnes, Auteuil und trieben sich den ganzen Tag lang zwischen den Weinbergen umher, rissen am Rande der Felder Mohn aus, schliefen im Grase, tranken Milch, aßen unter den Akazien der Wirtshäuser und kamen sehr spät heim, bestaubt, erschöpft, entzückt. Sie wiederholten diese Spaziergänge oft. Am folgenden Tage waren sie so traurig, daß sie sie schließlich aufgaben. Die Eintönigkeit des Bureaus wurde ihnen verhaßt. Immer und ewig das Radiermesser und der Sandarak, dasselbe Tintenfaß, dieselben Federn und dieselben Gefährten! Da sie sie für dumm erachteten, sprachen sie immer weniger mit ihnen. Das trug ihnen Hänseleien ein. Sie kamen jeden Tag nach Beginn, und sie erhielten Verweise. Früher waren sie beinahe glücklich gewesen; aber ihre Tätigkeit demütigte sie, seitdem sie sich mehr achteten, und sie bestärkten sich in diesem Widerwillen, begeisterten sich gegenseitig, verdarben sich. Pécuchet nahm das ungestüme Wesen Bouvards an, auf Bouvard ging etwas von der Grämlichkeit Pécuchets über. „Ich möchte Kunstreiter auf den öffentlichen Plätzen werden!“ sagte der eine. „Wäre ebensogern Lumpensammler!“ sagte der andere. Welch eine scheußliche Lage! Und keine Möglichkeit, herauszukommen! Nicht einmal die Hoffnung! — Eines Nachmittags (es war am 20. Januar 1839) empfing Bouvard im Kontor einen Brief, den der Briefträger gebracht hatte. Seine Arme hoben sich, sein Kopf sank allmählich zurück, und er stürzte ohnmächtig zu Boden. Die Angestellten eilten herbei, man löste seine Halsbinde. Man ließ einen Arzt holen. Er schlug die Augen wieder auf; und dann, auf die Fragen, die man an ihn richtete: „Ach!... nämlich... nämlich... etwas frische Luft wird mir helfen. Nein! lassen Sie mich! Erlauben Sie!“ Und trotz seiner Beleibtheit lief er in einem Atem zum Marineministerium, während er sich mit der Hand über die Stirn fuhr, verrückt zu werden glaubte und sich zu beruhigen versuchte. Er ließ Pécuchet rufen. Pécuchet erschien. „Mein Onkel ist tot! Ich erbe!“ „Nicht möglich!“ Bouvard zeigte folgende Zeilen: Bureau des Rechtsanwalts Tardivel, Notar. Savigny-en-Septaine, den 14. Januar 1839. Mein Herr! Ich ersuche Sie, sich in meinem Bureau einzufinden, um dort von dem Testamente Ihres natürlichen Vaters, des Herrn François Denys Bartholomée Bouvard, vormaligen Kaufmanns in der Stadt Nantes, verstorben in dieser Gemeinde den 10. gegenwärtigen Monats, Kenntnis zu nehmen. Dieses Testament enthält eine sehr wichtige Verfügung zu Ihren Gunsten. Empfangen Sie, mein Herr, die Versicherung meiner Hochachtung. Tardivel, Notar. Pécuchet mußte sich auf einen Stein im Hofe setzen. Dann gab er das Papier zurück, wobei er langsam sagte: „Wenn das nur... keine Possen sind!“ „Du glaubst, das seien Possen!“ erwiderte Bouvard mit erstickter Stimme, die dem Röcheln eines Sterbenden glich. Aber der Poststempel, der Name des Bureaus in Druckschrift, die Unterschrift des Notars, alles bewies die Echtheit der Nachricht; — und sie schauten einander an, während ihre Mundwinkel zitterten und eine Träne aus ihren starren Augen floß. Es wurde ihnen zu enge. Sie gingen bis zum Triumphbogen, kehrten am Wasser entlang zurück, ließen Notre-Dame hinter sich. Bouvard war sehr rot. Er gab Pécuchet Püffe in den Rücken, und fünf Minuten lang redete er närrisches Zeug. Sie grinsten wider Willen. Diese Erbschaft mußte sich sicherlich belaufen auf... „Ach, das wäre zu schön! Sprechen wir nicht mehr davon.“ Sie sprachen wieder davon. Nichts hinderte sie, sogleich genaueren Aufschluß darüber zu verlangen. Bouvard schrieb dieserhalb an den Notar. Der Notar schickte eine Abschrift des Testamentes, welches so schloß: „Demzufolge vermache ich François Denys Bartholomée Bouvard, den ich als meinen unehelichen Sohn anerkenne, den Teil meiner Güter, der gesetzlich verfügbar bleibt.“ Der Biedermann hatte diesen Sohn in seiner Jugend gehabt, aber er hatte ihn sorgfältig beiseite gehalten und für seinen Neffen ausgegeben. Und der Neffe hatte ihn immer Onkel genannt, obgleich er wußte, worum es sich handelte. Gegen sein vierzigstes Jahr hatte Herr Bouvard sich verheiratet, dann war er Witwer geworden. Da seine beiden legitimen Söhne nicht nach seinen Wünschen geraten waren, hatten ihn Gewissensbisse gepackt über die Verlassenheit, in der er sein uneheliches Kind so viele Jahre gelassen hatte. Ohne den Einfluß seiner Köchin hätte er es sogar zu sich genommen. Dank dem geschickten Vorgehen der Familie verließ sie ihn, und in seiner Vereinsamung wollte er, dem Tode nahe, sein Unrecht wieder gutmachen, indem er der Frucht seiner ersten Liebe von seinem Vermögen alles vermachte, worüber er verfügen konnte. Es belief sich auf eine halbe Million, was für den Schreiber zweihundertfünzigtausend Franken ausmachte. Der ältere der Brüder, Herr Etienne, hatte sich dahin geäußert, er werde das Testament anerkennen. Bouvard verfiel in eine Art stumpfsinnigen Brütens. Er wiederholte mit leiser Stimme, während er mit dem friedlichen Lächeln der Trunkenen lächelte: „Fünfzehntausend Franken Rente!“ — und Pécuchet, dessen Kopf doch klarer war, konnte nicht darüberkommen. Sie wurden durch einen Brief Tardivels unerwartet aufgerüttelt. Der zweite Sohn, Herr Alexander, erklärte die Absicht, alles gerichtlich regeln und sogar das Vermächtnis, wenn möglich, anfechten zu wollen, wobei er vor allem Versiegelung, Aufnahme, Ernennung eines Sachwalters und so weiter forderte! Bouvard bekam eine Affektion der Galle davon. Kaum war er wieder auf der Besserung, so fuhr er nach Savigny, von wo er, ohne etwas ausgerichtet zu haben und mit Kummer über die Reisekosten, zurückkehrte. Dann folgte eine Zeit der Schlaflosigkeit; er schwankte zwischen Zorn und Hoffnung, Aufregung und Niedergeschlagenheit. Endlich beruhigte sich Herr Alexander nach Verlauf von sechs Monaten, und Bouvard trat den Besitz der Erbschaft an. Sein erster Ausruf war gewesen: „Wir werden uns aufs Land zurückziehen!“ — und dieses Wort, das seinen Freund in sein Glück einschloß, hatte Pécuchet ganz selbstverständlich gefunden. Denn der Bund dieser beiden Männer war vollständig und ging bis in die Tiefe. Aber da er sich nicht von Bouvard ernähren lassen wollte, würde er nicht vor seiner Pensionierung den Dienst verlassen. Zwei Jahre noch! Gleichviel! Er blieb unbeugsam, und es war beschlossene Sache. Um herauszufinden, wo man sich niederlassen könnte, gingen sie alle Provinzen durch. Der Norden war fruchtbar, aber zu kalt; der Süden bezauberte durch sein Klima, hatte aber sein Unangenehmes, wenn man die Stechmücken in Betracht zog; und das Zentrum bot, offen gesagt, nichts Interessantes. Die Bretagne würde ihnen ohne die Frömmelei ihrer Bewohner zugesagt haben. Was die östlichen Gegenden anlangte, so war wegen des germanischen Dialekts nicht daran zu denken. Doch es gab andere Landstriche. Wie war es zum Beispiel mit der Gegend von Forez, von Bugey, von Roumois? Die geographischen Karten gaben keine Auskunft darüber. Was tat es übrigens, ob ihr Haus an diesem oder jenem Orte stehen würde, die Hauptsache war, daß sie eins haben würden. Sie sahen sich schon in Hemdsärmeln am Rande eines Beetes, wie sie Rosenstöcke beschnitten, die Erde umgruben, rajolten, bearbeiteten, Tulpen aus ihren Töpfen in die Erde setzten. Sie würden beim Schlag der Lerche erwachen, um dem Pfluge zu folgen, mit einem Korbe zum Äpfelpflücken gehen, zuschauen, wie die Butter bereitet, das Korn gedroschen, die Schafe geschoren, die Bienen versorgt wurden, und sie würden sich am Brüllen der Kühe und dem Duft des Heus erfreuen. Keine Schreibarbeit mehr! Keine Vorgesetzten! Nicht einmal mehr Miete zu zahlen! Denn sie würden eine eigene Behausung besitzen! — Und sie würden die Hühner ihres Hofes, die Gemüse ihres Gartens essen, — und sie würden ihre Mahlzeit einnehmen, während sie die Holzschuhe anbehielten! — „Wir werden ganz leben, wie es uns gefällt! Wir werden uns den Bart wachsen lassen!“
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