Kapitel 3: Das Ehepaar und die Gaffer

2328 Words
Ben Wolff führte seine Aufträge immer präzise und nahezu mit Perfektion aus. Oft ging er dabei über Leichen, zerstörte Träume oder vernichtete Hoffnungen. Und wenn es ums Schuldeneintreiben ging – das war sein Metier, sein Fachgebiet, in dem er jedes Mal aufs Neue aufblühte. Es schien ihm aber - der Professionalität zu trotz - wenig zu gefallen, in den Ruin getriebene Personen um deren letzte verbliebene Habseligkeiten zu erleichtern und damit den finanziellen Interessen seiner Auftraggeber zu dienen. Schon garantiert über hunderte Male hatten ihn diese armen Leute angefleht, er möge doch Mitleid mit ihnen und ihren Hinterbliebenen haben. Am Beginn noch hatte er seine Zweifel, war teilweise sogar kurzfristig in Selbstmitleid versunken, aber über die Jahre hinweg hatte er sich das abtrainieren können, dieses nervige Reuegefühl und Erbarmen. Das waren zwar ritterliche, noble Eigenschaften, die aber in der hoffnungslosen und kargen Welt dieses elenden Zeitalters nichts mehr zu suchen hatten. Sie waren unnütz geworden. Keiner konnte mit ihnen was anfangen. Man wurde nur belächelt, verspottet oder verlor sein Leben, weil man ernstlich daran glaubte, es gäbe etwas wie Aufrichtigkeit. Selbst diese um Gnade winselnden Schuldner, die während der Pfändung ihrer Sachen weinten und kuriose Geschichten erzählten, um die Eintreiber irgendwie in ihrem Handeln zu stoppen, waren keine besseren Menschen. Auch sie hätten für ihr eigenes Überleben ihre Liebsten geopfert, die Heuchler, so sehr sie es auch abstreiten mochten. Nun denn, das Missionsziel war eindeutig: Neben den einzutreibenden Schulden musste der Familienring Brookshields zurück zu seinem wahren Eigentümer. Ein altes Ehepaar mit dem Namen Leymayer hatte ihn in seinen Besitz gebracht. Durch den Diebstahl des Vaters der Mutter, wie es Clanchef Arno in seiner Sitzung erläutert hatte. Nur wussten Mathilde und Bernd Leymayer das nicht. Immer wieder hatte Max Altbruck – Mathildes Erzeuger - beteuert, wie lange er schon der Familie an sich gehöre, dieser Lügner. Aber was hätten sie tun können? Niemand außer Brookshields und Max wusste, wem er wirklich zustand. Und jetzt mussten sie mit den Konsequenzen dieser aufgetischten Unwahrheit leben. Die Folgen sollten verheerend für die verwahrlosten, alten Städter werden, zumal sie in einer heruntergekommenen Wohnung im Osten nahe Mainkai am getrockneten, ehemaligen Fluss lebten und nur mit der Aufnahme neuer Darlehen über die Runden kamen. Es war Nacht geworden. Die Sonne war untergegangen und die üble Kälte setzte langsam ein. Wunderschöner Sternenhimmel, wie jedes Mal. Deshalb holte Ben seinen Trenchcoat und seine lange Hose aus der Umhängetasche, nachdem er vor dem riesigen Wohnblock, in dem die Leymayers lebten, Halt mit seinem Motorrad machte. Im Anschluss steckte er seine Pistole unter den Mantel, lehnte das Gefährt an die Wand und ging geradewegs auf das Stiegenhaus des Gebäudes zu. Dort saßen und standen einige Junkies, die der Verwegenheit Bens wegen sofort vom Platz wichen, anders als die zwei Araber vor der Haupteingangstür. Sie gehörten sehr evident einem örtlichen Clan an, dem Aussehen nach zu urteilen wahrscheinlich dem von Momo. „Was suchst du hier?", fragte der Dickere von beiden, der makellos gezupfte Augenbraun hatte, um wohl seine wenig schöne, übrige Physis zu kaschieren. „Das ist wieder einer von denen! Waren schon zwölf die Woche hier!" „Lass' mich durch." War die Antwort des Vollstreckers, der seinen Termin oben wahrzunehmen hatte. „Du solltest mich lieber nicht länger aufhalten." Momo gibt sich auch kaum mehr Mühe bei der Auswahl seiner Leute. Erbärmlich. Wie soll ich den ernst nehmen? Der andere Araber – vermutlich um die achtzehn Jahre, dünn wie ein Stift, dafür groß wie eine Art Giraffe – stellte sich protestierend vor Ben hin. „Du solltest wissen, wir lassen hier keine Fremden rein, pic!" Der Dünne versuchte, den muskelbepackten Ben mit seinen zwei Händen wegzuschubsen, was aber grandios fehlschlug. Wie dumm er doch war. Er versuchte erneut, mit seiner schwindend geringen Körperkraft den sichtlich überlegenen Ben am Eintritt aufzuhalten. Jedes Mal bewegte sich der Vollstrecker keinen Zentimeter nach hinten. Ein herabwertendes Grinsen zauberte sich mit jedem weiteren erfolglosen Versuch auf Bens Gesicht, bis dieser irgendwann doch die Geduld verlor. „Willst du's weiterprobieren? Du könntest nicht mal ein Scheunentor öffnen, also zisch' ab." Bens Stimme wurde lauter. Der Bursche nervte ihn langsam. „Nein!", entgegnete ihm der dünne Mann mutig. „Dann wirst du es bereuen." Ben holte mit dem angewinkelten rechten Arm aus und erfasste das dreckige Gesicht des Arabers mit seinem Ellbogen. Der Junge wurde durch den heftigen Schlag förmlich nach hinten katapultiert, sodass sein fliegender Körper die gläserne Eingangstür durchbrach. Tausende Scherben flogen zu Boden und auf das Gesicht des liegenden, offenbar bewusstlosen Burschen. Der Dicke suchte das Weite und auch die stinkenden Junkies liefen davon. Ben ließ dies alles unberührt und er marschierte – nachdem er über den Körper seines Kontrahenten gestiegen war - weiter die Treppen des Stiegenhauses rauf. Es war keineswegs so, dass er solche Situationen nicht schon tausende Male erlebt hatte. Das war Routine. Laut seinen Informationen lebten die Leymayers im elften Stock, was sich auch als wahr herausstellte, als er vor der besagten Tür ankam. LEYMAYER stand dort lieblos am Namensschild an der Holztür, die ohnehin bereits einige Kratzer und Löcher aufzuweisen hatte. Vermutlich war Ben nicht der erste Vollstrecker, der hier gewesen ist. Ans Anklopfen dachte der Mann erst gar nicht, nahm stattdessen etwas Anlauf und trat die hölzerne Wohnungstür mit einem brutalen Kick auf. Mathilde Leymayer schrie auf, als sie den Fremden erblickte. Sie war gerade dabei, mit ihrem Mann Bernd das manipulative Abendprogramm des von Brookshields aufgekauften Senders Ageloin1 zu sehen. Hinter der Eingangstür angekommen war man sofort im Wohnzimmer. Die Zwei-Zimmer-Wohnung mit ihren wenigen Quadratmetern war winzig, hässlich und mit viel Schimmel an den Wänden und einigen Rissen am Boden bestückt. Jenes Wohnzimmer war zeitgleich das Schlafzimmer der Beiden, und außer dem modernen Fernsehapparat und dem Ring hatten sie offenkundig nichts Wertvolles hier. Bernd Leymayer erschrak ebenso wie seine Gattin, als er den unerwünschten Gast erkannte. Todesangst machte sich in ihnen breit. Sie fingen an, heftig zu zittern. Der krumm gehende, glatzköpfige Hemdenträger ergriff die Initiative und kniete sich unmittelbar vor dem Eindringling nieder. Bald darauf machte es ihm seine Frau gleich. Tränen kamen über beide Gesichter. Sie wussten anscheinend, was für eine unangenehme Aufgabe Ben zuteilwurde. Nun hofften sie auf Barmherzigkeit. „Ich bitte Sie, mein Herr, bitte... Nehmen Sie, was Sie finden! Den Fernseher, die Stühle, die Teller, das Besteck... Bedienen Sie sich! Aber verschonen Sie unser Leben, ich flehe Sie an!", schluchzte er lautstark herunter und führte seine Hände wie bei einem Gebet zusammen. "Wir wissen, wer Sie sind..."  Mathilde hingegen winselte lediglich und brachte zunächst kein einziges vernünftiges Wort heraus. „Ach...", stieß Ben unbewegt aus und rollte seine Augen. „Ihr habt erst kürzlich bei Brookshields eine Wasserleitung zu euch für eine Stunde am Tag bestellt. Noch dazu trinkbares Wasser, nicht diesen salzigen Dreck aus der Hafengegend. Das kostet normalerweise viel, ne? Nur haben seine Buchhalter bei euch noch keine Zahlungen dafür registriert... Wenn ihr nichts gegenleisten wollt, muss ich euch wohl dazu bringen, richtig?" Eindruck schinden, irgendwas Brauchbares finden, Ring nehmen. Das ist der Auftrag. Jedes Mal derselbe Scheiß. Es frustrierte Ben langsam, immer die Arbeit anderer zu erledigen. Der Vollstrecker ging eine Runde im Wohnzimmer herum und durchsuchte dabei die Schubladen und Schränke. Der Boden knarrte durch seine Schritte laut. Ein paar alte Münzen, Gabeln aus Messing, gefälschte Markenkleidung, ein kaputter Ventilator und lauter Müll, der eigentlich zum Wegschmeißen bestimmt war. Die unbrauchbaren Sachen warf er einfach gegen die Wand, als er diese Wohnung rücksichtslos durchstöberte. Die knienden Eheleute sahen sich das Spektakel, das hier vor ihren Augen stattfand, kommentarlos an. Sie waren machtlos. Mathilde hatte ihren Kopf aufgebend gesenkt, während Bernd seinen nur enttäuscht schüttelte. Was hätten sie auch tun sollen? Sich zur Wehr setzen? Gegen einen dieser Vollstrecker? Unzählige haben das probiert - es blieb meist beim Versuch. Das Vorhaben glich einem Selbstmord. „Einen Haufen Scheißdreck habt ihr da!", knurrte Ben, als er immer noch nichts fand. „Ich muss mir bald was überlegen!" Eine kaputte, metallene Armbanduhr warf er direkt in die Ecke des Zimmers, sodass sie in ihre Einzelteile zersprang. Dasselbe widerfuhr einer wahrscheinlich gefälschten Parfum-Glasflasche der Marke Creed. „Ich... ich hab' da was!", stotterte Bernd. „Da hinten, im linken Schrank, ganz unten links ist hinter den Büchern eine Flasche Cognac versteckt! Deswegen... sind Sie ja hier, ni... nicht? Wir haben den Männern damals diese Flasche versprochen..." Ein zufriedener Lacher seitens des Exekutors, ehe er sein lächelndes Gesicht zu dem Mann drehte. „Ha, endlich verrätst du es mir! Danach habe ich gesucht!" Kooperativ... Ben machte sich ans Werk, räumte den genannten Schrank aus und fand schließlich die Cognac-Flasche. Hennessy von 2212. Das war viel Wert am Markt. Damit konnte man sich in einigen Regionen Deutschlands ein Jahr lang ständige Wasserversorgung kaufen. Der gierige Brookshields stand auf exklusive Alkoholika. Eine eigene Sammlung schmückte einen Flur in seinem Domizil. „Sehr schön." Der Vollzieher hielt das kostbare Teil in der rechten Hand. „Mal sehen, ob ihr mich nicht bescheißt." Er öffnete die Flasche und nahm einen winzigen Schluck. Sofort verzog er das Gesicht des scheinbaren Ekels wegen und spuckte den Inhalt direkt wieder aus. „Pah! Ihr habt die umgefüllt! Ihr Schweine, wo ist der echte Cognac?" Geschrei. „Sagt es mir! Sofort!" „Da... Das ist der echte!", versuchte sich Bernd zu verteidigen. Aber er hat nicht mit dem plötzlichen Einschreiten seiner Frau gerechnet. „Nein! Der echte ist unter dem Teppich vor der Balkontür! Es ist dort ein Loch im Boden!", schrie sie mit ihrer schwachen Stimme. „Mathilde!" Ein trauriger Blick ihres Ehemanns in ihre Richtung. „Wieso sagst du ihm das? Das ist alles, was wir haben!" Eine Träne lief seine linke, runde Wange runter. Resigniert hockte er da. Wortlos ging Ben zu dem grünen Teppich, riss ihn weg, sah das kleine, viereckige Loch im Boden und nahm dort die Plastikflasche heraus, in der offenbar der originale Inhalt drinnen war. Danach schüttete er den Fusel in der Glasflasche demonstrativ auf den Boden aus und füllte sie anschließend mit dem echten Cognac voll. Noch immer weinte Bernd salzige Tränen.  „Netter Trick", sagte Ben. „Mathilde heißt du, oder?" Er sah der alten Dame in ihre unschuldigen, braunen, nassen Augen. „Du warst ehrlich zu mir. Das schätze ich sehr. Ich brauch' nur mehr deinen Ring an der linken Hand." Ihr Mund ging weit auf, als sie das hörte und zu ihrem linken Ringfinger schaute - der gestohlene Familienring. „A... Aber das... können Sie mir nicht antun, mein Herr!", jammerte sie. „Das ist ein Familienstück! Es ist... alles, was mich noch an meinen toten Vater erinnert! Er hat ihn mir vermacht! Er wollte, dass ich ihn für immer an mir trage! Bitte! Alles, nur nicht das!" Das Weinen wurde schlimmer und schlimmer. Bernd sagte gar nichts mehr, sondern schluchzte nur noch. Ein Schwarz-Weiß-Porträt von Max Altbruck, ihrem Vater, hing an der Wand. Ben sah es sich genau an. Ein adretter, lächelnder Herr am Bild, der seine junge Tochter Mathilde im Arm hielt. War mein Vater ein Lügner? Hat Arno zu mir je die Unwahrheit gesagt? Ich kann mich nicht dran erinnern... Er hat mir beigebracht, dass Lügner ohne Ehre sind und keinen Respekt verdienen. „Es tut mir ja Leid, dass ich dir das sagen muss, alte Frau... Aber dein Vater hat dich belogen. Der Ring gehört nicht deiner Familie. Das ist der Ring von wem anders. Max Altbruck war ein ehrloser Dieb und weiter nichts. Ein Nichtsnutz. Ein Arschloch sondergleichen." Das Bild nahm Ben und beförderte es mit einem geschickten Wurf in den nächsten Mülleimer. Das zeigte Wirkung bei ihr, was man an einem erschrockenen Atemzug ihrerseits merkte. „Das kann nicht sein!" „Tja, es ist aber so." Ben bewegte sich langsam und bedrohlich auf sie zu, nahm ihre linke Hand und zog den goldenen Ring mit dem Familienemblem gewaltsam von ihrem Finger. Sie wehrte sich nicht, schloss aber ihre von Tränen durchnässten Augen. „Danke für eure Zusammenarbeit", meinte Ben frech und steckte den Ring und die Cognac-Flasche in die breite Innentasche seines edlen Mantels. „Diese Lüge von dir, Bernd, die gefällt mir trotzdem nicht." Er sah auf den uralten Glatzkopf hinab. „Entschuldigen Sie... Ich hätt' Sie nicht... anlügen dürfen! Aber es ging... um alles, was wir noch haben!", rechtfertigte er sich stotternd. Ganz unbeeindruckt zückte Ben aber die Pistole aus seinem Trenchcoat und zielte auf den Schädel von Bernd. „Willst du etwa sterben, alter Mann?", fragte Ben. Seine Pupillen weiteten sich gefährlich. Auch winkelte er den Mund nach unten. Für gewöhnlich kein gutes Zeichen, wenn der sonst emotionslos erscheinende Vollzieher es mit der Wut zu tun bekam. „Nei.... Nein....", wimmerte der Bedrohte. Ben hielt die Waffe an seinen Kopf. Der sich kalt anfühlende, eiserne Lauf der Pistole berührte seine Stirn. Das ging eine Minute so. Sinnlos. Dann aber bewegte er sie überraschenderweise wieder weg und steckte sie zurück in seine Jacke. Er wollte dem Herrn scheinbar nur Angst einjagen. „Ich hab' keine Lust drauf. Aber lügt mich nie wieder an, haben wir uns? Ich hasse das, wenn man mich für dumm verkauft." „Machen wir... machen wir", schwor Mathilde. „Passt schon. Beim nächsten Mal bin ich vielleicht nicht so gut drauf wie heute und knall' dir wirklich deinen scheiß Schädel weg. Dann mach' ich keine Anstalten mehr! Das soll dir gefälligst bewusst sein!" "Ja, ja!" Kurzes Intervall der Ruhe. Ben packte seine Sachen zusammen und war im Begriff, aufzubrechen. Er hatte das, was er wollte. Sein Auftrag war eigentlich ausgeführt. Auf einmal aber ertönte ein Husten aus der Richtung der Wohnungstür. Was zur... Sofort bewegten sich Bens aufmerksame, kalte Augen dorthin. Drei Gestalten hatten das Geschehen zuvor offenbar durch die eingetretene Tür beobachtet. Als sie bemerkten, dass Ben sie gesehen hatte, flohen sie wie Beutetiere. Es waren ganz offensichtlich Jugendliche oder zumindest junge Erwachsene, die ihre neugierigen Blicke nicht vom Ereignis haben abwenden können. Ohne großartig zu zögern ließ Ben das Ehepaar hinter sich und nahm die Verfolgung auf.
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