Die größte von allen Fabriken in der Stadt war das. Tausende Quadratmeter Fläche, dutzende Stockwerke, riesige Hallen, gigantische Maschinen, meterlange Fließbänder, hunderte schuftende Kräfte... Von außen mit grauen, unästhetischen Blechplatten bestückt und viele rauchende Schornsteine auf dem flachen Dach des Bauwerkes. Direkt über dem Haupteingangstor war mit grünen, blinkenden Großbuchstaben die Aufschrift „BROOKSHIELDS LTD." angebracht, sodass auch jeder Vorbeigehende sehen konnte, wem diese Anlage gehörte. Das Interessante war ja, dass sich dieser riesige Kasten nicht irgendwo in der Peripherie, sondern unmittelbar im Zentrum der Stadt befand – nämlich am selben Platz, wo einst das stadteigene Shopping-Center stand. Dieses war wegen der Nicht-Benutzung über die Jahre hinweg so baufällig geworden, dass es Brookshields selbst mit seinen eigenen finanziellen Mitteln hatte abreißen lassen und stattdessen den Bau für seine Fabrikanlage dort in Auftrag gab. Die Immissionen und die Verpestung der Umwelt waren ihm völlig gleich. Vor allem in dieser Zeit gab es keine staatlichen Kontrollen oder Genehmigungen mehr. Den Konzernen boten sich viel mehr Expansionsmöglichkeiten, zumal sie nicht mehr auf eine etwaige behördliche Bewilligung oder Konzession hoffen mussten wie es damals stets der Fall gewesen war.
Der Main-Tower war dank den Restaurationsarbeiten eines gewissen Manfred Ballmann – ein Geschäftsmann in der Lebensmittelbranche – einer der wenigen Wolkenkratzer, der noch stand. Ballmann war lange vor Brookshields Präsenz in Frankfurt aktiv gewesen und hatte das Trinkwasser- und Ressourcengeschäft für sich allein monopolisieren und jeden Konkurrenten gnadenlos ausschalten können. Aber er war eines Tages verdrängt worden, und irgendwann nahm schließlich der Amerikaner seinen Platz ein. So war das eben. Der natürliche Machtwechsel. Derjenige, der das Lebensmittel-Business beherrschte, glich einem König ohne Vasallen. Allerdings waren das ihrem Wesen nach lediglich Scheinkönige. Ohne die kriminellen Vereinigungen des Frankfurter Untergrunds, die ihnen alles zur Verfügung stellten, was sie brauchten, waren sie nichts - und das wussten die Clans auch. Nur verstanden die wenigsten Unternehmer, welch wenig Macht sie de facto hatten. Sie genossen ihren unendlichen Reichtum, ihre vermeintlich hohe Position und ihren teilweise grandiosen Ruf unter der Bevölkerung. Einer war dekadenter als der andere. Blind, gelangweilt und verdorben vegetierten sie vor sich hin, stampften gefühlsmäßig in etwa wie ein Elefant durchs Leben. Auch konnte man den Vergleich mit dem Elefanten auch auf deren Bäuche anwenden, zumal jeder von ihnen überaus dicklich war.
Ballmann war auch so. Er hatte die letzten Etagen dieses Turms zu einem luxuriösen Domizil ausbauen lassen, und nun wohnte Benjamin Brookshields mit seinem Sohn dort. Die wahnsinnig gewordene Mutter hatte er jedoch eingesperrt. Paranoide Schizophrenie war es, vermuteten einige der Gutachter, die er angestellt hatte. Zum Mediziner konnte man sich nur mehr in wenigen, eher reicheren Städten ausbilden lassen, meist im Ausland. Offiziell beurkundete Ärzte waren das lange nicht. All diese Leute hatte sich Benjamin hergeholt. Aber es brachte seiner nun körperlich geschädigten, buckeligen Gattin nichts. Sie hatte bald schon nicht mehr gewusst, was sie tat. Laut Benjamin waren es die Stimmen in ihrem Schädel, die sie irre machten. Das gipfelte darin, dass sie angeblich den ersten gemeinsamen Sohn – Franklin Bernard Brookshields hieß er – vor etwa dreißig Jahren eigenhändig im Affekt umgebracht hatte. Daraufhin hatte Benjamin sie in einen Käfig im Keller des Towers eingeschlossen, wo sie auf ihren Tod warten musste. In der Zwischenzeit hatte Benjamin aber - laut eigener Aussage - seinen jetzigen Sohn und potenziellen Nachfolger mit einer jungen Prostituierten gezeugt, die kurz nach der Geburt von einem Tag auf den anderen „spurlos" verschwand. Dieses Kind zog er mit seinem hohen Alter selbstständig auf. Großstadtmythen kursierten diesbezüglich viele. Generell munkelte man in der Bevölkerung, dass der alte Mann noch mindestens zehn weitere Bastarde in der Stadt hatte, die er allerdings mit Arno Kliens Hilfe aufspüren und zum Teil ermorden ließ. Angeblich ließ er sie einige Jahre leben, um zu testen, wie geeignet sie waren. Ihm war aber keiner gut genug, sein großes Erbe anzutreten. Bis auf den Jetzigen.
Der aktuelle, lebende Sohn hieß Blake Nathaniel Brookshields und war ihm wesentlich lieber als der dümmliche Franklin und die anderen, über deren tragische Tode er fast froh war. Blake Nathaniel – ein großgewachsener, zweiundzwanzigjähriger, stattlicher Mann mit viel Charisma und Intelligenz. Die braunen, lockigen, langen Haare erinnerten an einen Prinzen, seine grünen Augen leuchteten förmlich und seine reine Haut und sein kantiges, braungebranntes Gesicht brachten die Damen vor Verliebtheit zum Umfallen. Die muskulöse Brust, die breiten Arme, das spitze Kinn, die große Nase, die breiten Lippen und die glattrasierte Haut verliehen ihm Dominanz. Meistens trug er ein dunkelblaues Sakko, ein weißes Hemd darunter, eine beige Stoffhose und braune Lederschuhe. Und jedes Mal, wenn er an jemandem vorbeimarschierte, konnte dieser das intensive Parfum des jungen Mannes vernehmen, wenn er nicht von der Reflexion seiner Patek-Philippe-Uhr geblendet wurde.
Just in dem Moment marschierte der vergreiste und dicke Benjamin mit Blake durch diese zentral gelegene Fabrik seines Konzerns. Beim Anblick des alten, mit vielen Falten und einer bemerkenswerten Halbglatze gezierten Mannes hätte man dessen boshaftes Inneres nie erkennen können. Er sah so harmlos aus, so unscheinbar... Auch seine überraschend geringe Körpergröße, seine krumme Haltung und seine Arthrosen-Hände ließen niemals auf einen bitteren Kern schließen.
Sie besichtigten wieder einmal die Haupthalle, wo sie gerade an einer großen Wasserreinigungsanlage vorbeigingen. Der mit grünem Anzug und rot-gesprenkelter Fliege gekleidete Benjamin gab mit seinem Gehstock den Weg an und Blake folgte ihm mit den Händen lässig in den Hosentaschen. Hin und wieder bespuckte Blake im Vorbeigehen die Arbeiter an den Maschinen und Knöpfen mit dem Wissen, dass diese sich nicht wehren könnten. Der Clanchef Seb hatte viele seiner besten Männer als Sicherheitsdienst für die Ordnungserhaltung innerhalb der Anlage herbestellt.
„Blake...", meinte Benjamin mit seiner weichen Stimmfarbe, als sie vor einer gewaltigen Wasserabfüllungsmaschine abrupt Halt machten. „Du musst diese Arbeit schätzen lernen. Du musst richtig kalkulieren können. Sonst wirst du keinen Erfolg haben."
Man hörte aus seinen Sätzen heraus, dass er kein Muttersprachler war, wenngleich seine Grammatik nahezu perfekt zu sein schien. Seit seinen späten Zwanzigern lebte Benjamin in Deutschland, aber ganz konnte man den amerikanischen Akzent nicht aus ihm entfernen. Blake hingegen wurde rein mit der deutschen Sprache erzogen, sprach demnach kaum ein Wort Englisch. War jedoch nicht nötig in seiner Situation.
„Was meinst du mit kalkulieren, Vater?", fragte Blake desinteressiert klingend zurück. Er schien sich zu langweilen. Diese Ausflüge in die Fabrik machte der Vater mit seinem Sohn öfters. „Willst du mir wieder irgendwas Wirtschaftliches erklären? Wie das mit dem Outsourcing letztens? Oder Offshoring? Oder den Leverage-Effekt?"
Wie ich diese ganzen Bezeichnungen schon satt habe... Ich kenn' die alle auswendig. Wenn der mir damit nochmal anfängt, köpfe ich ihn, dachte Blake.
„Siehst du diesen Arbeiter da vorne?" Benjamin zeigte mit dem Gehstock auf einen humpelnden, ungepflegten Mann, der einige Meter vor ihnen mit großer Mühe einen befüllten Wasserkanister zum Lagerplatz tragen wollte, dabei aber immer wieder hinfiel und laut hustete. Es war offenkundig, dass dieser schwitzende Kerl starkes Fieber hatte und schwer krank war.
Ein abfälliger Seufzer von Blake. „Der? Mit dem hässlichen Bart, den es gerade auf die Schnauze gehauen hat? Pf, der ist ja krank, oder? Der kann nicht gesund sein. Den würden draußen die Ratten fressen. Und der Geruch von dem geht bis hier her!" Blakes Stimme war allgemein etwas höher, und er gab sich große Mühe darin, sich möglichst überheblich anzuhören. Hier in der lauten Fabrik musste man jedoch fast schreien, um überhaupt verstanden zu werden.
„Das stimmt. Ordner!" Der Unternehmer winkte einen breiten Aufpasser her und deutete diesem per Handzeichen an, den hinkenden Arbeiter aus der Fabrik zu entfernen, was dieser auch im Anschluss tat.
„Lässt du ihn rauswerfen, Vater?"
Wäre wohl das Beste...
„Ja. Ich brauch' keine kranken Arbeiter. Und jetzt eine Frage an dich, Blake..."
„Welche denn?"
„Was wird mit ihm nun passieren?"
„Huh... Dumme Frage." Blake tat zunächst so, als wüsste er die passende Antwort. „Er wird rausgehauen, so einfach ist das! Hast du ja gerade selbst gesagt!" Der Sohn sagte das, während der herbeigerufene Ordner den armen Mann gewaltsam mit einem Prügel niederschlug und in Richtung der Ausgangstür abführte.
„Ja, und weiter? Was wird noch passieren?", hakte der Vater nach.
„Was weiß ich... Der wird auf der Straße landen. Vielleicht nimmt ihn irgendeiner von diesen Mafia-Typen auf, mit denen du so gut bist..."
„Nein. Das wird nicht geschehen."
„Was macht dich da so sicher, Vater?"
„Das meine ich mit kalkulieren. Was wird denn logischerweise mit ihm passieren?"
Nun fauchte Blake etwas. „Ach, du mit deinen scheiß Fragen jedes Mal! Bin ich Hellseher? Das kann ja kein Mensch wissen!"
„Oh, doch. Ich sag's dir, Junge. Er wird sterben. S-t-e-r-b-e-n. Buchstabier's nochmal in deinen Gedanken. Schreib's dir hinter die Ohren, merk's dir unbedingt. Wenn wir jemanden rauswerfen, stirbt derjenige. Ich will, dass du dir über die Konsequenzen dieses Handelns bewusst wirst. Das ist nämlich das, was uns auszeichnet. Wir sorgen dafür, dass diese Menschen leben. Das macht uns so wichtig für die. Glaubst du, Arno oder seine Verbündeten würden diese Kreatur jemals aufnehmen? Nein... Die brauchen nur starrköpfige, unkultivierte Riegel, aber nicht solchen Abschaum. Wenn du mal jemanden raushaust, sei dir im Klaren, dass er vermutlich schnell tot sein wird. Dann kann man ihn schwer zurückholen."
„Komm' mir nicht mit diesem Schwanzlutscher Arno Klien... Dein sogenannter Bruder..." Blake verstand nie, warum sein Vater so viel auf den deutschstämmigen Clanchef setzte. „Ich hab' den schon immer gehasst. Warum musst du den jedes Wochenende in unsern Tower einladen? Was bringt dir der Typ bloß?"
Benjamin lächelte und schloss kurz seine müden, grauen Augen, um die sich über die Jahre dauerhafte Ringe gebildet hatten. „Arno Klien ist mein Geschäftspartner und Freund. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Er ist ein großer Mann. Er ist wie ein Bruder für mich." Der Herr öffnete die Augen wieder.
„Warum nur? Ich kapier's nicht... Ich werd's nie kapieren..."
„Die Gangs in Frankfurt haben sich all die Jahre über nur gegenseitig abgeschlachtet, bis Arno aufgetaucht ist und sie alle zusammengebracht hat. Er ist wie Barbarossa, verstehst du? Er ist ein Genie. Als Straßenjunge wäre er fast verhungert, dann wurde er Taschendieb, dann Schläger, dann Auftragsmörder und stieg stets weiter in der Hierarchie auf... Er intrigierte und mordete sich zum Anführer und verwirklichte sein Ziel, das er sich schon als Kind gesetzt hatte: die Clans zu einigen. Das hat er geschafft. Und jetzt helfen wir uns gegenseitig."
Erzähl' mir nichts vom Pferd! Mit seinem Sohnemann hatte Benjamin einen Nachkommen mit einer irrsinnigen Auffassungsgabe gezeugt.
„Ich glaub' eher, dass dich der alte Kerl ausnützt." Blake schien die wahre Sachlage mehr zu begreifen als der Geschäftsführer selbst. „Wie viel musst du ihm denn abdrücken? Die Hälfte?" Sonderlich großen Respekt vor dem Vater zeigte er nicht.
Benjamin zögerte kurz, als hätte man ihn bei etwas ertappt. Eine halbwegs passende Antwort fand er trotzdem recht bald. „Er ist kein Halsabschneider. Wir sind Geschäftspartner. Das wirst du auch mal verstehen."
„Oh, und wann kann ich frühestens damit rechnen?"
„Deine Zeit wird kommen, vertrau' mir. Mein toter Sohn Franklin hätte dieses Erbe nie antreten können. Du aber kannst das, da bin ich mir sicher."
„Danke, Vater... Eine Sache noch." Blake sah kurz zur Decke und richtete danach seinen Blick wieder auf seinen Vater. „Wenn wir schon dabei sind: Mein Halbbruder... Wie ist er genau gestorben?"
„Damit kommst du mir gerade jetzt? Seine kranke Mutter. Diese Nacht werde ich nie vergessen. Es ist laut. Ich wach' auf. Ich geh' ins Wohnzimmer, von wo ich lauter teuflische Schreie höre. Ich komm' dort rein und sehe, wie sie lachend einen Hammer in der Hand hält, während sein lebloser, blutverschmierter Körper am Boden liegt. Dann grinst sie mich an... Ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben. Aber was solls's... Franklin war ein Trottel, ein Nichtsnutz, ein depressiver, pessimistischer Taugenichts. Zum Glück ist er tot."
Ja, einen Bruder hätte ich wirklich nie gebraucht. Da hast du ausnahmsweise Recht, alter Mann.
Der Sohn zeigte nicht den Ansatz einer Gemütsbewegung. Kein verzogenes Gesicht, kein Ausdruck des Ekels, keine Blässe, keine Spur eines Schocks. Nicht einen Hauch Menschlichkeit. Er nickte nur wortlos. Ein wahrer Psychopath.
„Aber das werd' ich dir mal genauer erzählen... Gehen wir weiter."
„Okay, Vater."