Kapitel 1: Dürre

2059 Words
Kapitel 1: Dürre Es war passiert! Niemand hätte es je für möglich gehalten, dass diese Katastrophe eine derartige Tragweite haben würde. Aber dennoch:  Sie - die NGO's, Weltverbesserer, Alternativen und Gutbürger - blieben standhaft mit ihren riesigen Plakaten und Demonstrationen. Die Regierungen der neuen Welt und Europas hatten sie konsequent ignoriert, die Asiaten es als einziger rechtzeitig erkannt und für die Australier und Afrikaner war es ohnehin zu spät gewesen. Sie waren schließlich die ersten Opfer der Hitzewelle und der Überschwemmung veranlasst durch den drastischen, urplötzlichen und unvorhergesehenen Klimawandel. Immer wieder meinten die Minister, dass diese maximal zwei, drei Grad Celsius bis zum Jahr 2300 kaum was ändern würden. Auch waren sie der Meinung, die Menschheit könne nichts dagegen unternehmen. Jegliche Bemühungen waren tatsächlich umsonst. Die Mäuler jener Politiker blieben weit offen, als sich ziemlich genau zwischen 2300 und 2305 zeigte, dass in nur fünf Jahren die Temperatur um acht Grad weltweit anstieg. Die Polareiskappen schmolzen dahin, ebenso wie jeder verbliebene Gletscher und die meisten Schneemassen in den kalten Regionen. Die ohnehin subtropischen und tropischen Gegenden wurden gänzlich lebensfeindlich, Australien versank komplett im Wasser, ebenso wie große Teile Amerikas, Asiens, Europas und Afrikas. In den Vereinigten Staaten reichte das Wasser bis Washington D.C., während in Asien vor allem Japan, China, Indien und die Staaten dazwischen betroffen waren. Afrika sank buchstäblich an jeder Ecke ein, was aber im Endeffekt sowieso keinen großen Unterschied mehr machte, weil ein Lebewesen an den dort herrschenden Temperaturen ohnehin alsbald gestorben wäre. Und auch Europa erfuhr durch das Hochwasser eine Verkleinerung der Landmasse. Diese verbliebenen Landflächen wurden in trostlose Wüsten verwandelt, wo die Sonne von sechs Uhr in der Früh bis acht am Abend schien und in der es nachts zu krassen Kälteeinbrüchen kam. Das letzte Bisschen natürliche Eis oder Schnee fand man nur mehr in der Himalaya-Gegend, in den Anden und vereinzelt in den Alpen und Rocky Mountains. Wobei man von einem Wunder sprechen konnte, wenn man - was das anbelangt - am Matterhorn-Gipfel fündig wurde. Meist suchte man selbst dort vergeblich nach irgendwas Kaltem. Die asiatischen Staaten jedoch, die ein großartiges Bündnis gegründet hatten und somit die letzten funktionierenden Regierungen darstellten, nutzten ihr Gebirge geschickt für Landwirtschaft. Völkerwanderungen, Hunger, Konflikte, unfruchtbar gewordene Böden, Wirtschaftskrisen, Trinkwasserknappheit... Selbst die Tierwelt war von dem Massensterben betroffen. Nur die resistentesten Tierarten schafften es, während die Menschen es eher ihrem grandiosen Überlebensinstinkt und ihrer großen Intelligenz zu verdanken hatten, dass sie noch halbwegs vernünftig leben konnten. Außerhalb von Asien existierten Staatengebilde nur mehr formell und auf dem Papier. Funktionierende Regierungen schwanden. Kriminelle Organisationen hatten gemeinsam mit den Unternehmen deren Ordnungsfunktion übernommen. Und in all dieser Dramatik lag er –Ben Wolff – lässig mit überkreuzten Beinen und selbstgerollter Zigarette hinterm Ohr am Sandstrand an der Küste Frankfurts, die inzwischen zur wichtigsten Hafenstadt Europas und zum Kapitol Deutschlands mutiert war, nachdem ein Sandsturm halb Berlin begraben hatte. Der eigentlich ganz attraktive Mitt-Dreißiger hatte seine dunkelbraunen, festen Haare stets nach hinten gekämmt und trug meistens einen markanten Undercut, zusätzlich zum Drei-Tage-Bart. Die grauen, gelangweilt wirkenden Augen sahen auf das weite Meer raus, wo sich in der Ferne einige Containerschiffe der Durland AG und mögliche Piraten herumtrieben - er sinnierte kurzzeitig, wer davon die größeren Verbrecher waren, kam allerdings zu keinem eindeutigen Ergebnis. Allerhand Plastik und Müll wurde durch die sanften Wellen an den Strand gespült, und die kurzen, wiederkehrenden Sommerbrisen fand Ben recht angenehm, ja wahrlich wohltuend. Wenn ich ständigen Wind kaufen könnte... Ich würd' wahrscheinlich meine ganzen acht Kanister hergeben.  Oder die Silberkette. Oder vielleicht doch meine Münzsammlung? Dachte jemand noch in Geld? Nein, ganz und gar nicht. Geld war maximal als Schätzwert relevant. Diese längst der Inflation zum Opfer gefallenen Scheine konnte man praktisch nur mehr zum Feuermachen in der Nacht sinnvoll verwenden. Kunst, Schmuck, Gold, Silber, Wasserkanister, Strom, Benzin... Das waren die wesentlichen Güter dieser Zeit. Und wurde um jene Güter aktiv Krieg geführt? Noch nicht. Man braucht ein einheitliches Heer, um eine effektive Schlacht gegen ein anderes Land oder einen Staatenbund zu führen. Es reichte zunächst, dass sich die verschiedenen Länder in internen Schlagabtauschen selbst zugrunde richteten. Es würde eine Ewigkeit dauern, alle Clans zu einer richtigen Armee zusammenzufügen, um dann in ein anderes, rohstoffreicheres Land einzumarschieren. Nur die Festung Asien hatte diese Probleme nicht. "Schuldenberge? Ständige Angst? Abhängigkeit? Geben Sie sich nicht auf! Welfire Incorporated bietet die sichersten Arbeitsplätze in ganz München an!", kam es lautstark aus einem der riesigen Sendemasten in zirka hundert Meter Entfernung. Eine weibliche, angenehme Stimme sprach diesen kurzen Satz runter. Klägliche Werbung, die Ben auch jeden Abend im Fernseher sehen konnte. Ja, Fernsehen und Radio - nur das fand man in Haushalten. Kein Internet, keine Printmedien oder sonstiges. Es schien so, als würden die Menschen diese zwei Dinge am einfachsten bedienen können, selbst wenn die Programme fast nur derartige, hohle Phrasen sendeten. Nur in dem funktionierenden Asien blieb das Internet erhalten. Und wenn einer auf den Werbespruch von Welfire Inc. hereinfiel... Nach München würde man von hier aus sowieso nur über die Eisenbahn kommen. Die ganze Welt wurde durch ein gigantischen Schiffs- und Zugnetzwerk miteinander verbunden. Die Sandmassen machten Reisen zwischen Städten mit gewöhnlichen Gefährten fast unmöglich. Über die letzten funktionstüchtigen Fluggeräte verfügte wieder lediglich Asien. Den Trenchcoat und die lange, grüne Stoffhose für die kalte Nacht hatte er in seine lederne Umhängetasche gepackt - er würde diese Klamotten später noch brauchen. Zurzeit trug er ein aufgekrempeltes, weißes Hemd, beige Schuhe und hellblaue Shorts, um der Hitze irgendwie zu trotzen. Er befand sich mit seinem Geländemotorrad eigentlich auf der Durchreise, aber er hatte an diesem Strand eine Pause eingelegt und öffnete nun eine Plastikflasche mit glasklarem Wasser der Marke „Brookshields". Die Kapitalgesellschaft Brookshields Limited.: Die hatten ihren Hauptsitz wegen ihrer Vertreibung aus den USA hier nach Frankfurt verlegt, und zufällig arbeitete Ben Wolff als ein sogenannter „Vollstrecker" für eine von insgesamt sechs Mafia-Clans, die den Konzern und dessen dicklichen, alten Geschäftsführer Benjamin Brookshields mit Vermögenswerten wie Strom, Arbeitskräften unterstützten beziehungsweise in ihre Schuld brachten. Und wie die Organisationen an dieses Vermögen gelangten? In erster Linie durch Gewinnbeteiligung an den Unternehmen, Diebstahl, Erpressung... Aber zum größten Teil durch Ausbeutung der Bevölkerung, was in Form von einer Art Darlehen an wehrlose Bürger oder Gruppen geschah. So konnte sich ein Haushalt drei Kanister Trinkwasser, Nahrung oder Fernsehzugang „leihen", musste dafür aber gleich- oder höherwertige Objekte wie Golduhren oder Diamanten binnen einer gewissen Frist zurückleisten. Wenn das nicht so passierte, musste man damit rechnen, getötet oder in die Zwangsarbeit geschickt zu werden. Das hing stark davon ab, wie man sich aufführte. Ben Wolff hatte den Job, als Vollstrecker eben diese Schulden einzutreiben, wenn nötig mit vorgehaltener Waffe. Das war ein überaus gefährlicher, aber heiß begehrter Beruf in dieser Zeit. Solche Leute wurden von ihren Auftraggebern gut bezahlt, mussten jedoch entsprechend qualifiziert sein. Das war der Grund, weshalb es tatsächlich nur etwa eine Handvoll in dem zerrissenen Frankfurt am Main gab. Diese Herrschaften waren meist erfahrene, überaus loyale, wenn auch teils völlig wahnsinnig gewordene Krieger mit langjähriger Kampfausbildung auf unterschiedlichsten Gebieten. Kaltblütig, charismatisch, gnadenlos – so hatte ein solcher Vollstrecker zu sein, und das traf auch auf Ben zu. Weil die Gefahr bestand, dass sich diese Herrschaften gegenseitig angreifen oder gar töten würden, entschied man sich, sie in der Regel alleine agieren zu lassen. Einige Meter hinter Ben vergnügte sich eine Gruppe dummer Jugendlicher, die irgendeinen Fusel tranken und sich großartig vorkamen, weil sie zum zweiten Mal in ihrem Leben eine Crackpfeife rauchten. „Hey Mann, das is' voll das gute Zeug!", hörte Ben eines dieser Bälger kreischen. „Ich könnt' das'n ganzen Tag rauch'n! Gib noch was her!" „Oh ja! Wirklich der Hammer! Das macht so geil!", schrie ein anderer von denen und reichte die Pfeife weiter. „Alter! Das mit dem Autodiebstahl ist jetzt nur noch ein Kinderspiel! Ich bin echt nicht mehr nervös! Für die Freiheit!", brüllte ein Dritter. „Für die Freiheit!", ertönte es noch einmal im Einklang. Für die Freiheit... Der inoffizielle Leitspruch der Staatsverweigerer – ein schlecht organisiertes, fast erbärmliches Kollektiv aus Spinnern, die es irgendwie geschafft hatten, eine große Anhängerschaft vor allem unter Jugendlichen zu gewinnen. Doch da es ja ohnehin keinen wirklichen Staat mehr gab, war das eine unnütze Besinnung und Ideologie. Der Staat tat schließlich nichts. Es gab zwar noch vereinzelt Politiker oder Abgeordnete, die sogar hin und wieder in Versammlungen tagten, aber nicht den Hauch einer Bedeutung hatten. Es fehlte die staatliche Zwangsgewalt. In schweren Zeiten kann man die Menschen oftmals zu hirnrissigen Anschauungen radikalisieren, und junge Leute sind sowieso leichter zu begeistern. Dann passierte es, dass einer dieser Staatsverweigerer die leere Whisky-Flasche über den Felsbrocken warf, hinter dem Ben gemütlich döste und bereits im Einschlafen begriffen war. Die Flasche, die wortwörtlich aus heiterem Himmel geflogen kam, aber erfasste sein linkes, ausgestrecktes Bein, was ihm gar nicht gefiel. Ohne, dass es einer dieser selbsternannten Rebellen bemerkte, richtete sich Ben hinter dem ihn versteckenden Felsbrocken auf und näherte sich anschließend der tanzenden und feiernden Gruppe an. Jetzt bemerkten sie Ben, nahmen ihn aber in ihrem Hochmut vorerst nicht besonders ernst, sondern belächelten ihn eher. "Schau', wer da kommt!" Ein Rotschopf zeigte mit seinem Zeigefinger auf den herannahenden, muskulösen Mann. "Pf, was'n das für einer?", meinte ein anderer Junge abfällig und sah dann wieder desinteressiert weg. Erst als Ben vor diesem Burschen und potenziellen Werfer stand und ihm direkt mit voller Wucht auf die Nase schlug, sodass dieser stark blutend umfiel und mit dem unschönen Hinterkopf im Sand landete, stoppten sie erschrocken ihren Tanz und richteten alle blitzartig ihre Blicke auf den breitschultrigen, großgewachsenen Vollstrecker. Dieser hatte die Arme demonstrativ verschränkt. „Tom!", schrie der Rotschopf. „Nein!" „Hey, Sie! Das... Das war'n Versehen! Tom hat die Flasche nicht geworfen, ich schwör's!", sagte der scheinbare Anführer der Bande und half dem blutenden Verletzten, der offenbar Tom hieß, auf. „Wer's von euch war, spielt keine Rolle. Habt ihr gedacht, ich würd' euch weiterfeiern lassen, wenn ihr mich abschießt?", gab Ben mit seiner rauchigen, dunklen und eigentlich akzentfreien Stimme zurück. „Wie lustig..." Sein gefühlsloser Blick blieb.  Er beschwor innere Unruhe bei den Jugendlichen herauf. Da half auch all das c***k nichts, von dem sie sich offenbar wundersame Wirkungen erhofft hatten. Wie schnell so ein vermeintlich guter Rausch doch in einen wahren Horrortrip ausarten kann... Ich hasse Kinder... Und besonders welche von der Sorte. Hätte ich eine Kindheit gehabt, wäre ich nie so gewesen wie die... „Sie... Sie kö... können aber doch nicht einfach einen von uns niederschlagen!" Ein sehr freizügig angezogenes, aber hübsches Mädchen meldete sich zu Wort. „Ich hab' die Flasche geschmissen! Nicht er! Klären Sie das doch mit mir!" Ein mutiges Mädchen. Aber kein schlaues. „Oh, du also..." Ben hielt kurz inne und starrte sie bösartig an.  Seine neutrale Miene von vorher transformierte in eine wahrlich diabolische. Jeder, der ihn kannte wusste, wie schnell er sein eigentlich rationales Gemüt ändern konnte. Es schien, als hätten unsichtbare Nägel an den Füßen die Jugendlichen dingfest gemacht - ein Ausdruck kindlicher Furcht und eine Menge Angstschweiß in ihren Gesichtern verdeutlichten das. Schließlich bewegte sich Bens rechte Hand schon langsam in Richtung Pistolenhalfter, wo sich der griffbereite Revolver befand. Er erfasste ihn. Das stählerne Prachtstück füllte bereits seine Handfläche. Dann - überraschenderweise - begann er zu lächeln. Es kam anders. Die Hand entfernte sich wieder rasant. „Du und deine Freunde, ihr seid nicht mal eine Kugel wert. Arschlöcher." Die Gruppe atmete erleichtert aus. Er aber sah kurz nachdenkend zum Himmel hinauf. Dabei verlor er sich in seinen Gedanken. Oder doch?  Ach was... Das ist ein einfaches Kind, das keinen Plan von der Welt hat. Und wenn sie bei den Staatsverweigerern bleibt, wird sie sowieso früher oder später sterben. Elendig sterben. Schlimmer als die Kommunisten, dieses Gesocks von der Straße... Oder die Nazis in Westend. Was wollen die erreichen? Die Stadt übernehmen? Niemals. Solche Kinder können das nicht. Es wird nie funktionieren. Er wandte sich von dem Haufen ab, sammelte seine Siebensachen zusammen und bewegte sich zu seinem einige Meter weiter an einem anderen Felsen lehnenden Motorrad, auf das er sich dann setzte. Der Vollstrecker holte die Zigarette von seinem Ohr, steckte sie sich in den Mund, hielt sie mit den Zähnen fest, zündete sie an, startete den lauten, unangenehmen Motor und fuhr schleunigst los, indes ihm die jugendlichen Leute immer noch verblüfft nachstarrten.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD