Die Schweizer Alpen glitzerten wie eine Postkarte, schneebedeckte Gipfel leuchteten unter der blassen Wintersonne. Die Berge erhoben sich wie gezackte weiße Kronen, uralt und unerbittlich, ihre Hänge glänzten, als wäre die Welt selbst aus Glas geschnitten.
Emma stieg aus dem schwarzen SUV und zog ihren Schal fester, während ihr der Atem in der eisigen Luft stockte. Die Kälte biss ihr in die Haut, die Kälte, die durch alle Schichten drang, egal wie fest sie sich einhüllte.
„Das ist … wunderschön“, murmelte sie, den Blick auf den Horizont gerichtet. Vor ihr lag das Resort, Holz und Glas erhoben sich stolz vor der Bergkulisse. Es glänzte im Sonnenlicht wie eine Festung aus Reichtum und Exklusivität, deren Mauern dazu bestimmt waren, die Welt draußen zu halten.
Matthias schloss die Tür hinter ihr, sein maßgeschneiderter Mantel zeichnete eine scharfe Silhouette gegen den Schnee. Er bewegte sich mit seiner gewohnten Präzision, jede Geste war bewusst. „Die Familie Falkenberg hat hier ein Chalet“, sagte er beiläufig, als würde er über das Wetter sprechen. „Es ist privat. Sicher.“
Emma warf ihm einen Blick zu und bemerkte die Anspannung in seinen Schultern. Er entspannte sich nie wirklich. Selbst hier – auf dem, was die Welt für ihre Flitterwochen hielt – benahm er sich wie ein Mann, der auf den Krieg vorbereitet war.
Drinnen begrüßte sie das Personal des Resorts mit einem gewandten Lächeln, ihre Worte waren einstudiert. Emma reagierte höflich und herzlich, doch Matthias beachtete sie kaum, seine Anwesenheit war kühl genug, um weiteres Geplapper zu verstummen. Sie wurden zu ihrer Suite begleitet: einem weitläufigen Raum aus Stein und poliertem Holz, dominiert von einem prasselnden Kaminfeuer und raumhohen Fenstern, die den Blick auf die endlose Bergwelt freigaben.
Emma streifte ihre Handschuhe ab und ließ die Hitze des Feuers ihre Finger auftauen. Sie drehte sich zu ihm um und prüfte die Stille zwischen ihnen. „Also, das sind Flitterwochen“, neckte sie ihn, ihre Stimme klang leicht, obwohl ihre Brust sich eng anfühlte.
Er hob eine Augenbraue, sein Gesicht war undurchdringlich.
„Ich habe Rosen und Champagner erwartet“, fügte sie hinzu.
Der Anflug eines Lächelns zuckte um seine Lippen, verschwand aber fast augenblicklich. „Du hast Kälte erwartet“, sagte er.
Sie lachte schnaubend und schüttelte den Kopf. Unmöglicher Mann.
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Der Tag verlief in Bruchstücken – Skiunterricht unter einem klaren Himmel, ruhige Mahlzeiten am Feuer, Schweigen voller unausgesprochener Fragen. Matthias auf der Piste war so präzise wie im Leben, jede Bewegung effizient und kontrolliert, sein großer Körper schnitt mit unbarmherziger Anmut den Berg hinunter. Emma versuchte mitzuhalten, ihre Entschlossenheit war unerschütterlich, obwohl ihre Beine brannten und ihr Atem eisig in der Luft hing.
Doch das Unbehagen ließ sie nie los. Dieses prickelnde Gefühl, beobachtet zu werden, drückte ihr den Rücken, beständig wie die Kälte.
Am Abend, als die Sonne tief stand und die Gipfel in verblassendes Gold tauchte, zog Matthias seine Handschuhe an und griff nach den Chaletschlüsseln.
„Ich bringe das Auto vorbei“, sagte er bestimmt. „Bleib drinnen.“
Emma runzelte die Stirn. „Ich kann mitkommen –“
„Nein.“ Seine Stimme war stählern und duldete keinen Widerspruch. „Hier bist du sicherer.“
Ihr Protest blieb ihr im Hals stecken. Er ging mit entschlossenen Schritten, der Mantel dunkel vor dem Schnee.
Sie wartete. Zehn Minuten. Fünfzehn. Das Unbehagen steigerte sich zu Furcht.
Emma schnappte sich ihren Mantel.
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Der Parkplatz des Resorts war still, das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln war beunruhigend laut. Reihen teurer Autos glitzerten im Lampenlicht, poliertes Metall reflektierte das geisterhafte Weiß der Berge.
„Matthias?“, rief sie leise.
Stille.
Dann sah sie es – einen roten Streifen, der den Schnee färbte.
Ihr stockte der Atem. Sie folgte der Spur und bog um eine Ecke, wo das Licht ausfiel. Dichte, schwere Schatten bildeten sich.
Matthias lag zusammengekauert im Schnee, sein dunkler Mantel halb vergraben, Blut lief ihm an der Schläfe entlang. Sein Atem war flach, schwacher Nebel in der eisigen Nacht.
„Matthias!“
Emma fiel auf die Knie, Schnee durchnässte ihre Hose, ihre Finger rissen an ihren Handschuhen, als sie sie auf seine Wunde drückte. „Nein, nein, nein…“
Seine Augenlider flatterten, sturmgraue Augen trübten sich, fanden sie aber. „Emma…“
„Ich bin hier“, flüsterte sie heftig und zwang sich, ihre Stimme ruhig zu halten. „Warte.“
Sie griff nach ihrem Handy – kein Empfang. Panik durchfuhr ihre Brust.
Denk nach.
Sie riss Stoff aus dem Futter ihres Mantels und drückte ihn fest an seine Schläfe. Ihre Hände zitterten, aber ihre Worte waren fest, sie zwang ihn zu bleiben. „Bleib bei mir. Du darfst mich nicht so zurücklassen.“
Ein leises, humorloses Kichern entfuhr ihm. „Herrisch… ich glaube, das gefällt mir.“
Tränen brannten in ihren Augen. „Halt die Klappe.“
Fußspuren verunstalteten den Schnee und verschwanden in der Dunkelheit der Berge. Wer auch immer das getan hatte, war bereits verschwunden.
Emmas Puls hämmerte. Sie musste ihn bewegen.
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Sie stemmte sich und schob ihre Arme unter seine Schultern. Sein Gewicht zerrte an ihr, hart wie Stein, doch das Adrenalin trieb sie an. Ihre Stiefel rutschten auf dem Eis, Schnee krallte sich in ihre Knöchel, und sie zog ihn Zentimeter für Zentimeter.
Der Wind frischte auf und schnitt ihr in die Haut.
Ein tiefes Grollen erzitterte durch die Gipfel.
Lawine.
Ihre Kehle schnürte sich zu. „Nicht jetzt“, flüsterte sie und zwang ihren Körper vorwärts.
Der Sturm wurde dichter, Schnee peitschte mit blendender Wut um sie herum. Ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug, ihre Muskeln schrien, doch sie hielt nicht an. Sie stolperte, fiel schwer auf die Knie, Schmerz schoss durch ihre Beine – doch sie weigerte sich, loszulassen. Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle, als sie ihn erneut zerrte, die Finger taub, der Körper wund.
Endlich – eine Felsspalte zeichnete sich durch den Dunst ab, ein Schattenfleck, der in den Berg gegraben war. „Fast geschafft“, keuchte sie.
Drinnen drückte sie ihn gegen den Stein, ihr Körper zitterte unkontrolliert. Seine Lippen waren blau, sein Gesicht wächsern.
Emma riss sich den Mantel vom Leib und drückte sich an ihn, verzweifelt nach Wärme. Ihr Atem vernebelte die Luft, ihre Tränen gefror an ihren Wimpern.
„Bleib wach“, flehte sie und umfasste sein Gesicht. „Hörst du? Du darfst nicht sterben.“
Seine Augen flackerten, die Lider waren schwer. „Du … kommandierst mich … zu sehr …“
Erleichterung durchbrach ihre Angst. „Gut“, würgte sie hervor. „Das bedeutet, du lebst.“
Sie rückte seinen Mantel zurecht, ihre Hand streifte seinen Arm – und erstarrte.
Eine Narbe. Ein gezackter, brandnarbiger Fleck war in seine Haut gegraben.
Ihr stockte der Atem.
Erinnerungen schossen durch sie: Rauch, Feuer, starke Arme, die sie aus den Flammen hoben. Sie hatte immer geglaubt, es sei Julian gewesen. Julian, der an ihrem Krankenhausbett gesessen hatte. Julian, der es nie leugnete.
Doch diese Narbe erzählte eine andere Geschichte.
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Stunden vergingen, draußen heulte der Sturm. Emma hielt ihn fest und flüsterte Geschichten in die Dunkelheit – Sommer im Weinberg, das Lachen ihres Vaters, die Träume, die sie einst hatte. Sie wusste nicht, ob er sie hören konnte, aber die Worte gaben ihr Halt und verbanden sie mit der Hoffnung.
Dann – ein leises Dröhnen durchschnitt den Schneesturm. Hubschrauberrotoren.
Emma kletterte zum Höhleneingang und fuchtelte wild mit den Armen. „Hierher! Hierher!“
Gestalten tauchten auf, Retter stiegen mit Seilen und Ausrüstung herab, ihre Stimmen abgehackt und professionell. Wenige Augenblicke später wurde Matthias auf eine Trage gehoben, sein Puls schwach, aber gleichmäßig.
Emma stolperte hinter ihnen her, jeder Muskel schmerzte, ihr Körper dem Zusammenbruch nahe.
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Später Wärme. Feuerschein flackerte an den Wänden des Chalets, schwere Decken lagen um ihre Schultern.
„Frau Falkenberg?“ Ein Sanitäter sagte sanft: „Du hast Glück, dass du ihn gefunden hast. Noch eine Stunde da draußen, und …“ Er beendete den Satz nicht.
Ihre Brust zog sich zusammen. „Wird er wieder gesund?“
„Er ist stark. Aber er braucht Zeit.“
Emmas Blick hob sich, als Matthias, bleich unter den starken Verbänden, vorbeigeschoben wurde. Er öffnete kurz seine Augen und fand ihre. Einen Herzschlag lang wurde der Stahl weicher.
„Emma …“, murmelte er.
Sie ergriff seine Hand und drückte sie fest. „Du bist jetzt in Sicherheit.“
Seine Lippen verzogen sich leicht, bevor er die Augen wieder schloss.
Emma lehnte sich zurück, ihr Herz hämmerte, in ihrem Kopf tobte ein Sturm, heftiger als jede Lawine.
Wer auch immer das inszeniert hatte, hatte sie nicht erschrecken wollen.
Sie hatten Matthias tot sehen wollen.
Und tief in ihrem Inneren wusste sie bereits, wessen Hand dahintersteckte.
Julian.