KAPITEL DREI

1441 Words
KAPITEL DREI Caitlin stand vor der Hängebrücke nach Skye, Caleb neben ihr und Scarlet und Ruth hinter ihnen. Sie begutachtete die abgenutzten Seile, wie sie heftig hin und her schwangen, hörte den Wind zwischen den Felsen pfeifen und die Wellen über hundert Meter unter ihr gegen die Klippen schlagen. Die Brücke war nass und schlüpfrig. Abzurutschen würde für Scarlet und für Ruth sofortigen Tod bedeuten, und Caitlin hatte auch ihre eigenen Flügel noch nicht getestet. Diese Brücke zu überqueren war nicht wirklich etwas, was sie riskieren wollte – doch dann wiederum schien es offensichtlich, dass sie auf die Insel Skye mussten. Caleb blickte zu ihr hinüber. „Wir haben keine große Wahl“, sagte er. „Dann bringt es nichts, zu warten“, antwortete sie. „Ich nehme Scarlet, du nimmst Ruth?“ Caleb nickte entschlossen zurück, dann hob Caitlin Scarlet hoch und schlang sie sich auf den Rücken, während Caleb Ruth in seinen Armen hielt. Ruth wehrte sich zuerst, wollte hinunter, doch Caleb hielt sie fest, und etwas an seinem Griff beruhigte sie schließlich. Es gab keine andere Wahl, als hintereinander über die schmale Brücke zu gehen. Caitlin ging voran. Sie setzte ihren ersten, unsteten Schritt auf die Brücke und konnte sofort spüren, wie rutschig die mit Wasser benetzten Planken waren. Sie streckte die Arme aus und packte nach dem Hand-Seil, um das Gleichgewicht zu halten, doch das brachte die Brücke nur zum Schwanken, und das Hand-Seil zerfiel in ihrer Hand in Stücke. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und sammelte sich. Sie wusste, sie konnte sich nicht rein auf ihre Augen verlassen, oder ihr Gleichgewicht. Sie musste etwas Tieferes hervorrufen. Sie dachte an Aidens Unterricht zurück, rief sich seine Worte ins Bewusstsein. Sie versuchte, die Brücke nicht länger als Gegner zu betrachten: stattdessen versuchte sie, sich mit ihr im Einklang zu fühlen. Caitlin verließ sich auf ihre inneren Instinkte und trat einige Schritte nach vorne. Langsam öffnete sie die Augen, und beim nächsten Schritt brach ein Brett unter ihr durch. Scarlet schrie auf, und sie verlor einen Moment lang das Gleichgewicht – dann machte sie rasch einen weiteren Schritt und fand wieder Halt. Der Wind brachte die Brücke erneut zum Schaukeln. Es fühlte sich an, als wäre sie schon eine Ewigkeit unterwegs, doch als Caitlin hochblickte, sah sie, dass sie erst etwa drei Meter weit gekommen war. Sie wusste instinktiv, dass sie es niemals schaffen würden. Sie drehte sich zu Caleb herum. Sie konnte seinen Blick sehen und wusste, dass er das Gleiche dachte. Sie wollte mehr als alles andere ihre Flügel ausbreiten und abheben, doch als sie nach ihnen spürte, fühlte sie etwas in der Luft und wusste, dass Caleb recht hatte: da war eine Art unsichtbares Energieschild um diese Insel herum, und uneingeladen hier zu fliegen würde nicht funktionieren. Der Wind blies wieder gegen die Brücke, und Caitlin spürte langsam Verzweiflung aufsteigen. Sie waren zu weit gekommen, um umzukehren. Sie traf eine sekundenschnelle Entscheidung. „Auf drei, spring hinunter, pack das Handseil auf deiner Seite und schwing dich daran hinüber!“, rief sie Caleb plötzlich zu. „Es ist die einzige Möglichkeit!“ „Was, wenn es reißt?“, schrie er zurück. „Wir haben keine Wahl! Wenn wir so weitermachen, werden wir sterben!“ Caleb widersprach nicht. „EINS!“, schrie sie und holte tief Luft, „ZWEI! DREI!“ Sie sprang in die Luft, nach rechts hinüber, und sah Caleb nach links springen. Sie konnte Scarlet kreischen und Ruth winseln hören, als sie über die Kante fielen. Sie streckte sich aus und packte fest nach dem Handseil, betete zu Gott, dass es diesmal halten würde. Sie sah, wie Caleb dasselbe tat. Eine Sekunde später waren sie an das Seil geklammert und schwangen durch die Lüfte, mit Höchstgeschwindigkeit, das Salzwasser aus den Wellen hochsteigen und über ihnen zusammenschlagen. Einen Moment lang konnte Caitlin nicht sagen, ob sie noch schwangen oder geradewegs hinunterstürzten. Doch nach einigen Sekunden konnte sie fühlen, wie das Seil sich in ihrer Hand anspannte, und spürte, dass sie nicht in die Tiefe stürzten sondern eher auf die Klippe gegenüber zuschwangen. Es hielt. Caitlin spannte sich an. Das Seil hielt, und das war gut. Doch sie schwangen auch sehr schnell direkt auf die Klippen zu. In sie zu krachen, das wusste sie, würde schmerzhaft werden. Sie drehte ihre Schulter herum und positionierte Scarlet so, dass sie selbst die gesamte Kraft des Aufpralls abfangen konnte. Sie sah zu Caleb hinüber, der dasselbe tat, Ruth mit einem Arm hinter sich hielt und seine Schulter vorstreckte. Sie beide bereiteten sich auf den Aufprall vor. Eine Sekunde später krachten sie heftig in die Felswand, unter einer Flut von Schmerzen. Die Kraft des Aufpralls raubte Caitlin die Luft, und sie war einen Moment lang benommen. Doch sie hielt sich weiter am Seil fest und sah, dass auch Caleb das tat. Sie hing da, mehrere Sekunden lang wie betäubt, und versicherte sich, dass es Scarlet gut ging, und auch Caleb. Sie waren in Ordnung. Caitlin hörte langsam auf, Sterne zu sehen, und schließlich griff sie hoch und fing an, sich am Seil entlang hochzuziehen, direkt an den Klippen entlang. Sie blickte hoch und stellte fest, dass etwa dreißig Meter vor ihr lagen, bevor sie oben ankommen würde. Dann machte sie den Fehler, nach unten zu blicken: es war gefährlich tief, und sie stellte fest: wenn das Seil nicht halten würde, würden sie über hundert Meter in die scharfkantigen Felsen unter sich stürzen. Caleb hatte sich erholt und kletterte ebenfalls geradewegs an seinem Seil hoch. Die beiden kamen gut voran, selbst wenn sie auf den moosbewachsenen Klippen abrutschten. Plötzlich hörte Caitlin ein Geräusch, bei dem ihr übel wurde. Es war das Geräusch eines reißenden Seils. Caitlin machte sich einen Moment lang darauf gefasst, in den Tod zu stürzen, doch dann erkannte sie, dass sie ihr Seil nicht nachgeben spürte. Sie blickte sofort hinüber und sah, dass es Calebs war. Sein Seil war am Reißen. Caitlin sprang in Aktion. Sie stieß sich vom Felsen ab und schwang ihr Seil näher an seines, und streckte eine freie Hand aus. Sie schaffte es, Calebs Hand gerade zu packen, als er nach unten stürzte. Sie hielt ihn mit ihrer freien Hand eisern fest, während er frei in der Luft baumelte. Dann, mit übermäßiger Anstrengung, zog sie ihn mehrere Schritt weit hoch zu einem tiefen Spalt in der Klippe. Caleb, der immer noch Ruth festhielt, konnte sicher auf einem Vorsprung stehen und sich an einer natürlichen Halterung in der Felswand festhalten. Nachdem er abgesichert war, konnte sie die Erleichterung auf seinem Gesicht lesen. Doch es gab keine Zeit zum Nachdenken. Caitlin drehte sich sofort herum und eilte am Seil hoch. Auch ihr Seil konnte jeden Moment reißen, und sie hatte immer noch Scarlet am Rücken. Endlich kam sie oben an. Rasch sprang sie auf die grasbewachsene Ebene und setzte Scarlet ab. Sie fühlte sich so dankbar, auf festem Boden zu stehen – doch sie verschwendete keine Zeit. Sie rollte sich herum, nahm das Seil und warf es kräftig ein paar Meter weiter, sodass es dort hinunterhing, wo Caleb unter ihr stand. Sie blickte hinunter und sah, dass er achtsam danach Ausschau hielt, und als es auf ihn zukam, packte er es und hielt Ruth mit der anderen Hand. Auch er schaffte es, sich rasch hochzuziehen. Caitlin beobachtete sorgsam jeden Schritt von ihm, betend, dass es halten würde. Endlich hatte er es nach oben geschafft und rollte sich direkt neben sie aufs Gras. Sie rappelten sich weit von der Kante weg, und dabei fielen Scarlet und Ruth einander in die Arme, und Caitlin und Caleb ebenso. Caitlin konnte spüren, wie die Erleichterung ihren Körper durchflutete, so wie bei ihm auch. „Du hast mir das Leben gerettete“, sagte er. „Schon wieder.“ Sie schoss ihm ein Lächeln zu. „Du hast meines viele Male gerettet“, sagte sie. „Ich schulde dir zumindest ein paar.“ Er lächelte zurück. Sie alle blickten sich in ihrer neuen Umgebung um. Die Insel Skye. Sie war wunderschön, atemberaubend, mystisch, karg und dramatisch zugleich. Die Insel wogte in einer Reihe von Bergen und Tälern und Hügeln und Hochebenen, manche von ihnen felsig und karg, andere von grünem Moos überwachsen. Alles war in einen himmlischen Nebel gehüllt, der in die Ritzen und Furchen kroch und in der Morgensonne orange und rot und gelb beleuchtet wurde. Diese Insel wirkte wie ein Ort in einem Traum. Und sie wirkte auch wie ein Ort, an dem Menschen unmöglich jemals leben konnten. Während sie den Horizont betrachtete, kamen plötzlich, wie eine Erscheinung, ein Dutzend Vampire aus dem Nebel hervor, über den Hügel, langsam erscheinend, direkt auf sie zusteuernd. Caitlin konnte es nicht glauben. Sie bereitete sich zum Kampf, doch Caleb streckte ihr eine beruhigende Hand entgegen, während sie alle aufstanden. „Keine Sorge“, sagte Caleb. „Ich kann es spüren. Sie sind freundlich gesinnt.“ Als sie näherkamen, konnte Caitlin ihre Gesichtszüge sehen und spürte, dass er recht hatte. Tatsächlich war sie schockiert von dem, was sie sah. Da, vor ihr, standen einige ihrer alten Freunde.
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