Kapitel 1
Graces Sicht
Helena drückte meine Hand, während wir auf den Beginn des Eingriffs warteten. Es war das Mindeste, was sie tun konnte, schließlich sollten ihre Eizellen, befruchtet mit dem Samen ihres Mannes, in mich eingesetzt werden.
Ich hasste mich dafür, dass ich eigentlich nicht hier sein wollte. Aber ich liebte meine Schwester, und das war es, was sie brauchte. Sie würde nie verstehen, was ich da opferte. Nicht wirklich.
Der Schmerz war zwar nicht körperlich, aber der Druck in meiner Brust war unerträglich. Es war ein unsichtbarer Schmerz, der es schwer machte, die Last zu begreifen, ein Baby zu tragen, das nie meins sein würde.
Am schlimmsten war die nagende, leere Wahrheit in mir: die Erkenntnis, dass ich mir Hunters Baby wünschte, aber nicht so. Nicht unter diesen Umständen.
Das war der Teil, den ich nicht einmal mit Helena teilen konnte. Wie sollte ich meiner Schwester sagen, dass ich ihren Mann schon immer geliebt hatte? Jedes Mal, wenn ich ihn sah, zerriss es mir das Herz.
Ich liebte Hunter, seit wir uns kennengelernt hatten, noch bevor er Helena kannte. Aber er hatte sich für sie entschieden. Sie heirateten überstürzt, gefangen in einer stürmischen Romanze, wie man sie sonst nur aus Büchern und schlechten Filmen kennt. Alles schien wie von selbst zu laufen.
Ich hatte mal davon geträumt, dass zwischen Hunter und mir etwas sein könnte, aber er sah mich nie so. Sobald Helena in mein Leben trat, war alles vorbei. Ich hatte keine Chance. Schon vor ihrer Ankunft waren meine Chancen gering. Aber danach? Ich war unsichtbar.
Jetzt trug ich höchstwahrscheinlich ihr Kind. Hunters Kind. Der Gedanke schmerzte mir zutiefst, und ich hasste es, wie leicht Helena und unsere Mutter Margo mich dazu manipuliert hatten.
Sie wollten, dass ich die gute Schwester bin. Selbstlos. Aber so einfach war es nicht, denn ich liebte den Vater des Kindes, das ich vielleicht in mir trug.
Hunter war mein Chef. Ich hatte vier Jahre für ihn gearbeitet. Ich war der Grund, warum er Helena überhaupt kennengelernt hatte. Ich hatte alles mit angesehen und so getan, als würde es mich nicht innerlich zerreißen. Ich sah, wie sie sich näherkamen, wie ihre Liebe erblühte, während ich still danebenstand, immer nur die Brautjungfer, nie die Braut.
Ich hatte nie das Gefühl, genug zu sein. Nicht für ihn, nicht für irgendjemanden. Helena hatte immer das, was mir fehlte. Sie besaß eine Schönheit, die die Menschen in ihren Bann zog. Sie hatte Hunter. Sie hatte alles.
Ich erinnere mich an die Weihnachtsfeier, die alles veränderte. Ich hätte zu Hause bleiben sollen, aber Helena hatte mich angefleht, sie mitkommen zu lassen.
„Das wird lustig!“, hatte sie gesagt.
Aber ich sah zu, wie Hunter sich in sie verliebte. Es war nicht einmal subtil. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen. Ich hätte gehen sollen, bevor es mich zerbrach. Ein neues Leben fernab von ihnen beiden wäre besser gewesen als das hier.
Aber nun war ich hier. Gefangen. Wahrscheinlich schwanger mit ihrem Kind. Dem Baby, das sie großziehen würden. Der Familie, die sie gründen würden. Und ich würde immer außen vor bleiben.
Manchmal fragte ich mich, ob sie mich am Ende überhaupt noch wahrnehmen würden. Oder ob ich nur eine Fußnote in ihrer Geschichte sein würde. Eine großzügige Geste, an die sie sich gelegentlich erinnern würden. Die Frau, die ihnen alles gab und mit nichts davonkam.
„Wir sind jetzt bereit für die Implantation“, durchbrach die Stimme der Ärztin meine Gedanken.
Ich nickte. Mehr brachte ich nicht zustande.
„Ich habe ein gutes Gefühl dabei“, sagte Helena mit leichter, unbeschwerter Stimme. „Mit Hunters kleinen Spermien in Aktion bin ich sicher, dass es klappen wird.“
Ich schloss die Augen. Ich wollte nicht hier sein. Ich wollte ihre Stimme nicht hören.
„Okay, ruhen Sie sich hier etwa dreißig Minuten aus, bevor Sie aufstehen“, sagte die Ärztin einen Moment später.
Ich blinzelte. Sie sah mich nicht an, und ich fragte mich unwillkürlich, ob sie es wusste. Sie hätte während des Eingriffs herausgefunden, dass ich Jungfrau war.
Jahrelang hatte ich meine Geheimnisse verborgen – meine Jungfräulichkeit, meine Gefühle für Hunter. Doch jetzt fühlte ich mich innerlich völlig aufgerissen. Bloßgestellt.
Ich nickte ihr zu und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. „Okay“, flüsterte ich.
Helena drückte erneut meine Hand. „Ich bin so aufgeregt, Grace. Das wird fantastisch“, sagte sie mit hoffnungsvoller Stimme.
Ich wollte mich für sie freuen. Wirklich. Aber ich konnte nur nicken und den Kloß in meinem Hals hinunterschlucken. „Warten wir es ab“, sagte ich leise. „Mach dir nicht zu große Hoffnungen.“
Aber Helena hörte mich nicht. Oder vielleicht war es ihr einfach egal.
„Es wird klappen“, sagte sie noch einmal, als ob sie es heraufbeschwören wollte.
„Kann ich kurz allein sein?“, fragte ich.
„Grace –“
„Bitte, Helena. Nur einen Moment.“
Sie zögerte, dann stand sie auf. Ich spürte, wie sie an der Tür stand und mich einen Moment zu lange beobachtete. „Bitte geh“, dachte ich und öffnete die Augen nicht.
Sobald sie weg war, drehte ich mich auf die Seite und krümmte mich zusammen. Und ich weinte.
Dreißig Minuten später zog ich mich schnell an, wischte mir die Augen und versuchte, halbwegs gefasst auszusehen. Als ich nach der Tür griff, hörte ich Stimmen im Flur.
„Grace scheint nicht gerade begeistert davon zu sein, mein Baby zu tragen“, sagte Helena.
Die Stimme meiner Mutter folgte. „Sie sollte dankbar sein, Helena. Hunter braucht einen Erben. Du musst ihm einen schenken. Wir können es uns nicht leisten, diese Macht über ihn zu verlieren.“
Ich erstarrte. Diese Macht über ihn.
Die Worte trafen mich wie ein Schlag. Meine Mutter versuchte es nicht einmal zu verbergen. Es ging nicht um Familie oder Liebe. Es ging um Macht.
Ich stand hinter dieser Tür, die Hand auf dem Bauch, die Last dessen, was ich vielleicht in mir trug, lastete schwerer denn je auf mir.
Es ging nicht nur darum, ihnen ein Baby zu schenken. Es ging darum, Hunter an Helena zu binden. Und ich war es, die das ermöglichte.
Ich dachte, ich wäre gütig. Ich dachte, ich täte etwas Selbstloses. Aber vielleicht spielte ich ihnen nur in die Hände. Eine Spielfigur in ihrem Spiel.
Vielleicht wäre es bald vorbei. Vielleicht würde der Eingriff nicht funktionieren. Oder vielleicht würde er funktionieren, und wenn es vorbei war, würde ich verschwinden. Ich würde ihr Baby tragen, es ihnen übergeben und gehen, bevor ich auch noch die letzten Reste von mir selbst verlor.
Aber ich war mir nicht sicher, ob ich das überleben würde.
Und zum ersten Mal begriff ich, dass ich nicht nur Angst hatte, Hunter zu verlieren.
Ich hatte panische Angst, mich selbst zu verlieren.