KAPITEL EINS
LUNAS PERSPEKTIVE
Als ich mich im rissigen Badezimmerspiegel betrachtete, nahm ich mein Aussehen wahr – so wie jeden Morgen, bevor ich mich um meine Wunden kümmerte. Ich wusste nicht genau, warum ich mir das jeden Tag antat, doch alles, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich verletzt war. Es war nun ein Jahr her, seit ich meinen Gefährten und Geliebten Raven durch den Angriff verloren hatte.
Vieles hatte sich offenbar verändert. Hin und wieder musste ich eine neue Schnittwunde oder ein neues Hämatom verdecken, die ich mir selbst zugefügt hatte. Doch abgesehen davon blieben mein dunkelbraunes Haar, meine hellolivfarbene Haut und meine blauen Augen unverändert.
Es spielte ohnehin keine Rolle, wie ich aussah – niemand nahm mich wahr. Einige der Omegas, mit denen ich arbeitete, sprachen manchmal kurz mit mir, aber meistens mieden selbst sie mich. Obwohl ich selbst eine Omega war, stand ich doch etwas über ihnen.
Raven hatte immer dafür gesorgt … Doch jetzt, da er fort war, war ich wieder das Omega-Mädchen, das ich schon immer gewesen war. Mein Duft als Omega war nun von Trauer getrübt.
Draußen war es wieder dunkel, und in der Ferne zuckten Blitze. Ich holte tief Luft und trat in die Trümmer meines Badezimmers, während mein Blick unentwegt an meinem Spiegelbild hing.
Ich schloss die Augen, atmete mehrmals tief ein und aus, um meine Nerven zu beruhigen, und starrte auf die silberne Schere in meiner Hand. Erinnerungen an Ravens Angriff schwirrten in meinem Kopf und machten es unmöglich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Bilder, wie ich an seiner Seite kniete, mit blutverschmierten Händen, während er ums Überleben kämpfte. Mit glasigen Augen erinnerte ich mich an den Blick meines einst 22-jährigen, liebevollen und beschützenden Gefährten in jener Nacht. Noch schmerzhafter war die Tatsache, dass er so kurz davor gewesen war, ein Zufluchtsort für verletzte Wölfe zu eröffnen.
Diese Trauer fühlte sich an, als wäre ich jahrelang unter Wasser gefangen, erdrückt von Kummer. Und jedes Mal, wenn ich glaubte, wieder auftauchen zu können, riss mich ein vertrauter Duft – eine Erinnerung – zurück in die Tiefe.
Mein Blick fiel auf meine Kleidung, die inzwischen durchnässt war, da ich stundenlang auf dem Badezimmerboden gesessen hatte. Finger und Zehen waren taub vor Kälte.
Schmerz war alles, was ich fühlte. Ein kaltes Gefühl der Enttäuschung, das sich von der unsichtbaren Wunde in meinem Herzen durch meine Adern bis tief in meinen Magen ausbreitete, während ich mein Spiegelbild ansah.
Wie eingefroren stand ich da, verloren in Gedanken, und erkannte mich selbst kaum wieder.
Obwohl ich nach außen hin ruhig wirkte, tobte in mir ein Sturm aus Gefühlen. Millionen Gedanken rasten durch meinen Kopf, und immer wieder kehrte einer zurück: die Erinnerungen an jene Nacht.
Es war pures Chaos. Rudelmitglieder rannten und schrien, Mütter suchten ihre Kinder, Ehemänner ihre Familien. Überall lagen die Leichen meines Rudels und der gegnerischen Krieger. Ich stand nur da und versuchte zu begreifen, was zur Hölle eigentlich geschah.
Als ich die Grenze erreichte, wo der Angriff am heftigsten tobte, überwältigte mich der Geruch von Blut so sehr, dass ich kaum hinsehen konnte. Mit all meiner Kraft rannte ich in den Wald, in der Hoffnung, Raven zu finden. Ich fragte mich, warum er nirgends zu sehen war.
Als Alpha war er vermutlich dort draußen, kämpfte gegen die Krieger des feindlichen Rudels – wie ein verdammter Held. Während ich durch den Wald lief, rief und schrie ich nach ihm, in der Hoffnung, dass er mich hörte und ich ihn mitten in all dem Chaos wiedersehen würde.
Doch als ich ihn schließlich fand, war er bereits angegriffen worden. Ich fiel auf die Knie und drückte beide Hände fest auf seine Seite, um die Blutung zu stoppen.
„Luna, geh!“ hatte er gesagt.
„Du musst rennen, verschwinde von hier. Renn … so … schnell … du kannst!“
„Nein, Raven!“ hatte ich geschrien. Doch wenige Minuten später lag mein Gefährte und Geliebter kalt und leblos in einer Blutlache vor mir.
Ein Jahr ist vergangen seit diesem Angriff, doch die Erinnerung an seinen starren, schmerzverzerrten Blick, während er um sein Leben kämpfte, hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt.
Eine Träne lief mir über die Wange, als all die Emotionen wieder hochkamen. Ich legte die silberne Schere zurück auf das Waschbecken und brach in Tränen aus – etwas, das ich seit Monaten nicht getan hatte.
Ein stechender Schmerz traf mein Herz, als mir klar wurde, dass ich allein war und niemals mehr ein Leben mit Raven haben würde. In diesem Moment verfluchte ich meine Existenz und wünschte, dass der Tod mich anstelle meines Gefährten geholt hätte.
Während ich weiter schluchzte, wurde mein Atem flach, und meine Hände wurden schweißnass. Vor Schmerz schlug ich meinen Kopf gegen das Waschbecken, um endlich all die Emotionen herauszulassen, die ich seit seinem Tod monatelang unterdrückt hatte.
Eine schwere Last legte sich auf meine Schultern, doch ich kämpfte mich hindurch, atmete tief ein, um meine Nerven zu beruhigen.
Als ich mein Spiegelbild sah, mit den geschwollenen, verheulten Augen und roten Wangen, entschied ich schließlich, loszulassen.
Ich hob die Schere und schnitt, ohne zu zögern, aber mit Tränen in den Augen, mein langes braunes Haar ab. Ich ließ die Erinnerungen an Raven los – an die Momente, in denen er meine Strähnen durch seine Finger gleiten ließ und meinte, es fühle sich an wie Mondlicht.
Offenbar war das mein Weg, loszulassen. Mein Weg, meine alte Haut abzustreifen. Ich wusste nicht und es war mir auch egal, was aus mir werden würde. Alles, was zählte, war, dass ich lebte – und langsam begann, weiterzumachen.
Und traurig genug: Für eine Omega ohne Rudel war das schon etwas.
Denke ich zumindest …