Kapitel 1 – Der Wolf im Nebel
Der Nebel hing schwer zwischen den knorrigen Stämmen des Waldes, so dicht, dass selbst die Eule, die von einem Ast zum anderen glitt, lautlos im Grau verschwand. Elena Winter zog den Mantel enger um ihre Schultern, während sie den schmalen Pfad entlangging. Die Laterne in ihrer Hand warf einen schwachen, flackernden Schein, der kaum mehr tat, als die Dunkelheit um sie herum lebendiger wirken zu lassen.
Es war spät, viel zu spät, um noch draußen zu sein. Ihr Vater hätte ihr den Kopf gewaschen, wenn er erfahren hätte, dass sie wieder einmal nach Einbruch der Nacht unterwegs war. Doch Elena liebte den Wald. Er war für sie kein Ort der Angst, sondern von Freiheit. Tagsüber sammelte sie Kräuter und Holz, doch nachts, wenn der Nebel aufstieg, hatte der Wald etwas Geheimnisvolles, fast Magisches.
Ein Knacken ließ sie innehalten.
Die Stille, die folgte, war unnatürlich. Kein Rascheln, kein Zirpen der Grillen. Nur ihr Atem und das dumpfe Pochen ihres Herzens.
„Bestimmt nur ein Reh“, flüsterte sie zu sich selbst, als wolle sie die Unsicherheit verscheuchen.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es etwas anderes war. Seit Wochen kursierten Geschichten im Dorf: Vieh, das gerissen wurde. Spuren, viel zu groß für einen Wolf. Und Stimmen, die sagten, sie hätten bei Vollmond Augen im Unterholz aufblitzen sehen – gelb wie glühende Kohlen.
Elena atmete tief durch und setzte den Weg fort. Bald erreichte sie die Lichtung, die sie seit ihrer Kindheit kannte. Dort stand der alte Brunnen, längst überwuchert von Efeu. Sie stellte die Laterne auf den Rand und kniete sich nieder, um in das dunkle Wasser zu blicken. Es war ein Ort, der sie immer tröstete, als würde der Brunnen die Sorgen der Welt in seiner Tiefe verschlucken.
Doch diesmal war es anders.
Ein Laut drang an ihr Ohr – tief, kehlig, vibrierend. Ein Knurren.
Sie wirbelte herum. Zwischen den Bäumen zeichnete sich eine Gestalt ab, groß, breit, viel zu mächtig für ein Tier. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und für einen Augenblick war sie unfähig, sich zu bewegen. Die Laterne flackerte, und der Schein fiel auf das Gesicht des Fremden.
Ein Mann.
Er stand da, halb im Schatten, halb im Licht, und seine Augen schimmerten – nicht gelb, nicht braun, sondern ein seltsames, silbernes Grau, das im Dunkeln glühte. Sein Atem war schwer, als kämpfe er gegen etwas in sich selbst.
„Ihr solltet nicht hier sein“, sagte er mit einer Stimme, rau und zugleich sanft.
Elena wollte antworten, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Irgendetwas an ihm war anders. Gefährlich, aber auch … faszinierend.
Er machte einen Schritt vorwärts, dann brach er abrupt ab, als würde er sich selbst zurückhalten.
„Geht“, presste er hervor. „Solange ihr noch könnt.“
Dann wandte er sich ab und verschwand im Nebel, als hätte ihn der Wald selbst verschluckt.
Elena blieb zurück, mit klopfendem Herzen und dem brennenden Gefühl, dass sie eben einem Geheimnis begegnet war, das ihr Leben verändern würde.