Alex drehte sich um und schaute in unsere Richtung. Ich hechtete zu Hektor hinüber und hielt ihm Mund und Nase zu. Dieser erwachte gleich darauf. Blöderweise dachte er wohl, dass ich ein Gegnertribut war und schlug mir mitten ins Gesicht. Davon liess ich mich nicht beirren.
„Hektor ich bins, Lucy!", zischte ich.
Sofort beruhigte er sich wieder und er versuchte nicht mehr, mich mit seinen Schlägen umzubringen. Ich sah ihm genau an, dass er etwas fragen wollte, doch ich hielt mir schnell einen Finger an die Lippen, um ihm zu zeigen, dass er still sein sollte. Glücklicherweise verstand er und ich lauschte angestrengt, was die Karrieros machten.
„Was denn?!", fragte Seraphina fast panisch.
„Das klang, als würde jemand schnarchen!", erklärte Alex.
„So ein Quatsch, Alex! Das war ein wildes Tier! Vielleicht sogar eine Mutation! Lasst uns verschwinden!"
„Alex! Dana hat Recht! Das klang nicht menschlich! Na los!"
Und schon rannten sie wieder davon.
Hektor und ich atmeten erleichtert aus.
„Manomann! Das war verdammt knapp!", stellte Hektor fest.
Ich kicherte nur.
„Was gibt es da zu lachen?"
„Du klingst wie eine Mutation, wenn du schläfst!"
Ich konnte mir ein Lachen nicht mehr verkneifen und prustete los.
„Du solltest öfters schlafen, wenn die Karrieros in der Nähe sind", lachte ich.
„Hör auf zu lachen und lass uns die anderen aufwecken. Wir sollten mal die Arena etwas erkunden. Ich glaube das könnte noch interessant werden", unterbrach Hektor mein Gelächter.
Das taten wir auch. Ich weckte Debbie und Hektor Lucas.
Wir packten unsere Sachen zusammen, kletterten aus der Höhle und versteckten dessen Eingang mit Blättern. Wer weiss? Vielleicht konnten wir dieses Versteck irgendeinmal wieder gebrauchen.
„In welche Richtung wollen wir gehen?", wollte nun Debbie wissen.
„In die, aus der wir gekommen sind würde ich mal vorschlagen", antwortete Hektor und lief, ohne auf eine Antwort zu warten, los.
Wir liefen sicher wieder einige Stunden durch den Wald, als wir einen schrillen Schrei hörten und kurz darauf zwei Kanonenschüsse fielen. Ich zuckte bei dessen Klang heftig zusammen und spannte meinen Körper an. Ich hatte eine riesengrosse Angst. Doch die durfte ich nicht zeigen. Nicht hier in der Arena.
'Wenn ich lebend aus diesem Alptraum kommen möchte, muss ich zeigen, dass ich... ja was eigentlich? Dass ich mutig genug bin? Stark genug? Dass ich dafür geschaffen bin? Das ich würdig bin?'
Ich hatte keine Ahnung was.
„Hey, Lucy, alles in Ordnung. Es hat sich so angehört als würde der Schrei von weiter weg kommen", versuchte Lucas mich aufzumuntern. Ich lächelte ihm dankbar zu, denn dankbar war ich wirklich.
Plötzlich sprang Deborah aus einem Gebüsch und schien völlig ausser sich zu sein.
„Debbie was ist denn?!" Sofort war ich alarmiert. Was war wenn die Karrieros jetzt hier aufkreuzten? Ich war noch nicht bereit für solch einen Kampf! Während ich kurz vor einer Panikattacke stand, begann meine Verbündete zu grinsen.
„Mach dir doch nicht gleich ins Hemd, Ocean!", lachte sie mich aus und zeigt mit einer Hand hinter sich,„Das müsst ihr euch ansehen! Es ist so wunderschön und ich glaube hier könnten wir unser Lager für heute Nacht aufstellen."
Natürlich war Hektor der Erste, der Deborah folgte und zögernd ging ich ihnen nach, während Lucas das Schlusslicht bildete.
Was mich hinter dem ganzen Gebüsch ins Blickfeld fiel, verschlug mir einfach nur die Sprache: vor uns lag einer wunderschöner kleiner See, eigentlich konnte man ihn auch als Tümpel bezeichnen, der umgeben vom dichten Wald war. Ich wusste nicht, dass die Arena solche Schönheiten der Natur zu bieten hatte. Es war fast eine Beleidigung. Aber eben auch nur fast.
„Wow!", war das einzige was ich dazu sagen konnte.
„Ja das sollte in der Tat gehen, um unser Lager hier aufzustellen. Wir können uns unter den vielen Blättern und Ästen der Bäume verstecken, da sie ziemlich weit unten sind", begann Hektor sofort zu planen.
Die anderen beiden halfen ihm, während ich zum Wasser ging und mich weiter umschaute. Dieser Platz wäre perfekt für ein romantisches Picknick mit Jason gewesen. Aber ich durfte einfach nicht vergessen wo ich mich befand und wer dieser Ort hier gemacht hatte. Sofort schüttelte ich den Gedanken mit dem romantischen Picknick wieder ab. Ich war angewidert über mich selber. Wie konnte ich nur so etwas denken?!
Ein weiterer Kanonenschuss liess mich aus meinen Gedanken schrecken. Wer das wohl war? Einer der Karrieros? Ich hoffte es.
„Lucy? Kommst du mit auf die Jagd?", wollte Debbie wissen.
„Ja klar. Was willst du denn jagen? Tiere oder Tribute?", scherzte ich.
„Meine Hauptziele wären Tiere aber mal sehen... vielleicht haben wir ja Glück"
Debbie grinste mich hinterhältig an und ich schüttelte nur lachend den Kopf.
„Sorgt aber dafür, dass ihr bis Einbruch der Dunkelheit zurück seid."
„Mach dir keine Sorgen, Hektor. Deborah und ich passen schon aufeinander auf."
Deborah nickte mir zustimmend zu und zog mich auch schon mit sich durch das dichte Gestrüpp des Waldes.
Wir liefen nicht lange, als Debbie plötzlich einen Pfeil abliess und ein Eichhörnchen vom Baum direkt neben mir fiel.
„Guter Schuss", lobte ich meine Verbündete und hob unser erster Fang hoch.
Wir liefen wieder eine Zeit lang, als Deborah mich auf die Zeit hinwies:
„Es wird langsam dunkel. Wir sollten zurückkehren."
In dem Moment entdeckte ich ungefähr zehn Meter von uns entfernt ein Kaninchen. Bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, übernahm mein Instinkt die Kontrolle über meinen Körper. Schneller als Deborah schauen konnte packte ich einer meiner Wurfmesser und schleuderte es auf das arme Kaninchen zu. Das Messer bohrte sich durch seinen Kopf und sogar noch etwas in den Baumstamm, der hinter meinem Opfer lag.
Ich war sichtlich zufrieden mit mir.
Deborah aber sah mich geschockt an.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass es den Leuten aus dem Kapitol gerade ähnlich ging. Bei dieser Vorstellung musste ich noch mehr grinsen.
„Wann hast du das denn gelernt?", fragte mich meine Verbündete perplex.
Ich lachte und sagte stolz:„Zu Hause in Distrikt 6."
„Aber warum hast du im Training die Zielscheiben nie getroffen, geschweige denn überhaupt in deren Nähe gekommen?"
„Ich stecke nunmal voller Überraschungen", erklärte ich ihr selbstgefällig.
„Ja das habe ich gemerkt. Aber lass uns jetzt zum Lager zurückkehren. Die Jungs erwarten uns sicher schon ungeduldig... und hungrig."
Nach wenigen Minuten waren wir wieder beim Lager und natürlich musste Debbie den Jungs sofort erzählen, was ich so toll getan hatte. Hektor lächelte nur wissend und Lucas schienen fast die Ohren und die Augen aus dem Kopf zu fallen.
Als wir mit dem Essen fertig waren ertönte plötzlich die Hymne des Kapitols und die gefallenen Tribute des heutigen Tages wurden gezeigt. Heute starben drei Tribute: Seraphina, das Mädchen aus eins- als ihr Bild angezeigt wurde, atmeten wir alle erleichtert aus, der Junge aus Distrikt 9 und das Mädchen aus 10.
Blieben also noch 11.
Da wir alle ziemlich erschöpft waren, legten wir uns bald aufs Ohr. Mit Ausnahme von mir selber, ich übernahm schon wieder die erste Wache.
Während meine Verbündeten friedlich schliefen und ich mir um Hektors Schnarchen Sorgen machte, lauschte ich den Tieren und dem Wasser. Es hatte eine sehr beruhigende Wirkung auf mich. Ich hatte schreckliches Heimweh und ich hatte grosse Angst. Angst davor Jason und meine Familie nie mehr zu sehen und auch davor Hektor oder die anderen beiden zu verlieren. Ich hatte Angst zu sterben. Vor den Schmerzen. Davor meine Familie zu verlassen.
Es dauerte nicht lange, bis Debbie mich von der Wache ablöste und ich selbst in einen erstaunlich tiefen Schlaf fiel.
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„Wacht allesamt sofort auf! Mutationen! Wacht auf!"
Hektor riss mich mit seinem Gebrüll aus meinem schönen Schlaf, doch kaum war ich wach, begriff ich in Sekundenschnelle was los war und stand urplötzlich auf den Beinen.
Was ich gleich darauf erblickte, liess mein Herz eine Etage weiter nach unten rutschen: aus dem kleinen See/Tümpel, krochen krokodilartige Wesen. Sie sahen fast genau so aus wie normale Krokodile nur mit zwei kleinen Ausnahmen, die es in sich hatten: Sie hatten feuerrote Augen und jedes Wesen hatte eine andere Haut-, oder eher Schuppenfarbe. Da gab es violett, blau, grün, gelb, lila, orange und noch andere. Es sah so lächerlich aus, dass man die Gefahr fast vergass.
Ich starrte immer noch perplex auf die Mutationen und bemerkte nicht wie Lucas auf die Beine sprang und unsere Sachen so schnell wie möglich packte. Debbie lag am nächsten beim Wasser und schien erst jetzt zu bemerken, in welche einer Gefahr wir uns hier befanden.
Endlich konnte ich mich aus meiner Starre befreien und suchte auch meine Sachen schnell zusammen. Als ich alles hatte sah ich mich um. Die Mutationen waren jetzt alle ans Land gekommen und sahen uns zu. Die Jungs hatten ihr Sachen gepackt, aber Debbie hatte irgendein Problem. Ich konnte nicht erkennen was sie hatte. Aber sie schien irgendwo festzustecken.
„Debbie! Beeil dich!", rief Lucas verzweifelt.
„Ich kann nicht! Mein Fuss steckt in der Schlinge meines Schlafsacks fest. Aber ich habs gleich!"
In dem Moment konnte sie sich befreien. Sie wollte aufstehen und zu uns rennen, doch die Mutationen liessen das nicht zu. Plötzlich wurden sie hundert Mal schneller, als sie vorher waren. Eine erwischte meine Verbündete und neue Freundin am Fuss und sie fiel der Länge nach hin.
„Debbie!" Ich wollte mich auf sie stürzen um ihr zu helfen, obwohl ich tief in meinem Innern wusste, dass meine Hilfe zu spät kommen würde.
Hektor packte mich am Arm und rannte los. Aber nicht zu Deborah sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Ich hörte Debbies Schmerzensschreie.
„Was macht ihr denn da?! Wir müssen Debbie helfen!", schrie ich unter Tränen.
„Lucy, beruhige dich. Wir hätten keine Chance gehabt, wenn wir ihr hätten helfen wollen. Wir hätten uns nur selber in Gefahr gebracht."
„Hektor hat Recht, Lucy. Ausserdem hat sie gesagt wir sollen weglaufen und da es ihr letzter Wunsch war, mussten wir den doch erfüllen."
So etwas Dämliches hatte ich in meinem Leben noch nie gehört.
Doch dann ertönte Debbies Kanonenschuss und ich brach zusammen.