Kapitel 1-3

1607 Parole
Bitte, bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte, ich werde alles tun, lass ihn einfach nur am Leben sein. Ich bin nie religiös gewesen, aber als der Militärhubschrauber über die Berge fliegt, erwische ich mich dabei, wie ich bete, darum bettele und flehe, ein kleines Wunder Wirklichkeit werden zu lassen, eine kleine Barmherzigkeit zu erleben. Das Leben eines Kindes ist bedeutungslos für die Welt, aber für mich bedeutet es alles. Mein Sohn ist mein Leben, der Grund dafür, dass ich existiere. Der Lärm des Hubschraubers ist ohrenbetäubend, aber er ist nichts im Vergleich zu dem Lärm in meinem Kopf. Ich kann nicht atmen, kann wegen der Wut und der Angst, die mich innerlich ersticken, nicht denken. Ich weiß nicht, wie Tamila gestorben ist, aber ich habe genügend Leichen gesehen, um mir ihren Körper vorstellen zu können, um ganz deutlich ihre wunderschönen Augen, die jetzt ausdruckslos und blind sein müssen, und ihren schlaffen und blutverkrusteten Mund zu sehen. Und Pasha ... Nein. Daran kann ich jetzt nicht denken. Nicht, bis ich es mit Sicherheit weiß. Das hätte nicht passieren sollen. Daryevo liegt nicht in der Nähe der bekannten Krisenherde in Dagestan. Es ist eine kleine, friedliche Siedlung ohne Verbindungen zu Rebellengruppen. Sie hätten hier in Sicherheit sein müssen, weit weg von meiner gewalttätigen Welt. Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Der Flug scheint ewig zu dauern, aber endlich durchbrechen wir die Wolkendecke, und ich sehe das Dorf. Mein Hals wird eng, und ich kann nicht mehr atmen. Rauch steigt von vielen Gebäuden im Zentrum auf, und bewaffnete Soldaten befinden sich vor Ort. Ich springe aus dem Hubschrauber, sobald er den Boden berührt. »Peter, warte. Du brauchst Deckung«, ruft der Pilot, aber ich renne bereits und stoße die Menschen, die mir im Weg stehen, einfach beiseite. Ein junger Soldat versucht, mich aufzuhalten, aber ich reiße ihm seine M16 aus den Händen und richte sie auf ihn. »Führe mich zu den Leichen. Jetzt.« Ich weiß nicht, ob es an der Waffe oder meinem tödlichen Ton liegt, aber der Soldat gehorcht und eilt zu einem Schuppen am anderen Ende der Straße. Ich folge ihm, während das Adrenalin wie Gift durch meine Adern fließt. Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Ich sehe die Leichen hinter dem Schuppen, einige ordentlich hingelegt, und andere aufeinandergestapelt auf dem schneebedeckten Gras. Niemand ist bei ihnen; die Soldaten müssen die Dorfbewohner bis jetzt von ihnen ferngehalten haben. Ich erkenne sofort einige der Toten - die älteren Menschen des Dorfes, mit denen Tamila auch zu tun hatte, die Frau des Bäckers, der Mann, von dem ich schon einmal Ziegenmilch gekauft habe - aber andere kann ich nicht identifizieren, einerseits wegen der Ausmaße ihrer Wunden und andererseits, weil ich nicht viel Zeit im Dorf verbracht habe. Ich habe eigentlich gar keine Zeit hier verbracht, und jetzt ist meine Frau tot. Ich bereite mich psychisch auf das vor, was jetzt kommen wird, knie mich neben einen schlanken Frauenkörper, lege die M16 ins Gras und ziehe das Tuch, das den Kopf bedeckt, zur Seite. Ein Teil des Kopfes ist von einer Kugel weggeschossen worden, aber ich kann genug von dem Gesicht erkennen, um zu wissen, dass es nicht Tamila ist. Ich untersuche den nächsten Frauenkörper, der mehrere Einschusslöcher in der Brust hat. Es ist Tamilas Tante, eine schüchterne Frau in den Fünfzigern, die in den letzten drei Jahren weniger als fünf Worte mit mir gesprochen hat. Für sie und den Rest von Tamilas Familie bin ich immer ein Fremder gewesen, ein angsteinflößender Fremder aus einer anderen Welt. Sie haben Tamilas Entscheidung, mich zu heiraten, nicht verstanden, sie sogar verurteilt, aber Tamila war das egal. Sie war immer unabhängig gewesen. Ein weiterer Frauenkörper zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Frau liegt auf der Seite, aber die sanfte Kurve ihrer Schultern ist schmerzhaft vertraut. Meine Hand zittert, als ich sie umdrehe, und weißglühender Schmerz durchfährt mich, als ich ihr Gesicht sehe. Tamilas Mund ist genauso locker, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, aber ihre Augen sind nicht leer. Sie sind geschlossen, ihre langen Wimpern versengt und ihre Augenlider von Blut verklebt. Mehr Blut bedeckt ihre Brust und ihre Arme, und ihr graues Kleid ist fast schwarz davon. Meine Frau, meine wunderschöne junge Frau, die den Mut hatte, ihr eigenes Schicksal zu wählen, ist tot. Sie ist gestorben, ohne jemals ihr Dorf verlassen zu haben, ohne jemals Moskau gesehen zu haben, wovon sie immer geträumt hatte. Ihr Leben wurde ausgelöscht, bevor sie eine Chance hatte, zu leben, und es ist meine Schuld. Ich hätte hier sein sollen, hätte sie und Pasha beschützen müssen. Zur Hölle, ich hätte über diese beschissene Operation Bescheid wissen müssen; niemand hätte hierherkommen sollen, ohne dass mein Team und ich darüber informiert wurden. Wut steigt in mir auf, vermischt sich mit qualvollem Schmerz und Schuldgefühlen, aber ich verdränge das alles und zwinge mich dazu, mich weiter umzuschauen. Die Leichen, die in Reihen ausgebreitet wurden, sind ausschließlich Erwachsene, aber es gibt ja noch diesen anderen Haufen. Bitte lass ihn am Leben sein. Ich werde alles tun, solange er nur lebt. Meine Beine fühlen sich wie abgebrannte Streichhölzer an, als ich mich dem Haufen nähere. Er besteht aus einzelnen Gliedmaßen und Körpern, die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind. Das müssen die Opfer der Explosionen sein. Ich lege jeden Körperteil zur Seite, nachdem ich ihn betrachtet habe. Der Geruch nach altem Blut und verbranntem Fleisch hängt d**k in der Luft. Ein normaler Mann würde sich bereits übergeben haben, aber ich bin noch nie normal gewesen. Bitte lass ihn am Leben sein. »Peter, warte. Eine Spezialeinheit ist auf dem Weg hierher, und sie wollen nicht, dass wir die Leichen anfassen.« Der Pilot, der mich hierhergebracht hat, Anton Rezov, kommt vom Schuppen aus zu mir. Wir arbeiten seit Jahren zusammen, und er ist ein enger Freund, aber wenn er versuchen sollte, mich zu stoppen, werde ich ihn töten. Ohne zu antworten, fahre ich mit meiner grausamen Aufgabe fort und betrachte alle Gliedmaßen und jeden verbrannten Rumpf, bevor ich alles zur Seite lege. Die meisten Körperteile scheinen zu Erwachsenen zu gehören, auch wenn ich auf einige wenige in Kindergröße stoße. Sie sind allerdings zu groß, um Pashas zu sein, und ich bin egoistisch genug, um darüber erleichtert zu sein. Dann sehe ich es. »Peter, hast du mich gehört? Du kannst das noch nicht tun.« Anton will meinen Arm ergreifen, aber bevor er mich berühren kann, wirbele ich herum, und meine Hand formt automatisch eine Faust. Diese Faust kracht auf seinen Kiefer, er wird durch die Wucht des Aufschlags zurückgeschleudert und seine Augen verdrehen sich. Ich schaue nicht dabei zu, wie er fällt; ich bewege mich bereits und wühle mich durch den restlichen Stapel der Körper, um die kleine Hand zu finden, die ich eben gesehen habe. Eine kleine Hand, die ein kaputtes Spielzeugauto umklammert. Bitte, bitte, bitte. Bitte, lass es eine Verwechslung sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Bitte lass ihn am Leben sein. Ich arbeite wie ein Besessener und konzentriere mich auf ein einziges Ziel: zu dieser Hand zu gelangen. Einige der Körper ganz oben auf dem Stapel sind beinahe intakt, aber trotzdem spüre ich ihr Gewicht nicht, als ich sie zur Seite lege. Ich fühle das Brennen meiner Muskeln durch die Anstrengungen nicht, genauso wenig wie ich den widerlichen Gestank des gewaltsamen Todes rieche. Ich beuge mich einfach immer wieder nach unten und werfe die Körperteile zur Seite, bis ich von ihnen umgeben und blutdurchtränkt bin. Ich höre nicht auf, bis ich den kleinen Körper freigelegt habe und jeder Zweifel verschwunden ist. Zitternd sinke ich auf die Knie, da meine Beine mich nicht mehr halten können. Wie durch ein Wunder ist eine Gesichtshälfte Pashas unverletzt, seine weiche Babyhaut hat nur einen Kratzer abbekommen. Eines seiner Augen ist geschlossen, sein kleiner Mund ist geöffnet, und würde er wie Tamila auf der Seite liegen, könnte man ihn für ein schlafendes Kind halten. Aber er liegt nicht auf der Seite, und ich sehe das klaffende Loch, das die Explosion hinterlassen hat, als sie die Hälfte seines Schädels wegsprengte. Sein linker Arm fehlt ebenfalls, genauso wie sein linkes Bein ab dem Knie. Sein rechter Arm ist allerdings unversehrt, und seine Finger umklammern das Spielzeugauto. Aus einiger Entfernung höre ich ein Heulen, ein verrücktes, gebrochenes Geräusch menschlicher Wut. Erst als mir auffällt, dass ich den kleinen Körper an meine Brust drücke, verstehe ich, dass ich dieses Geräusch von mir gebe. Ich verstumme, aber ich kann nicht damit aufhören, hin und her zu schaukeln. Ich kann nicht aufhören, ihn zu umarmen. Ich weiß nicht, wie lange ich so verharre, die Überreste meines Sohnes an mich drücke, aber als die Soldaten der Spezialeinheit ankommen, ist es bereits dunkel. Ich wehre mich nicht. Das wäre sinnlos. Mein Sohn ist von uns gegangen, bevor sein helles Licht die Gelegenheit hatte, zu scheinen. »Es tut mir leid«, flüstere ich, als sie mich wegzerren. Mit jedem Meter Abstand zwischen uns wächst meine innere Kälte, und die letzten Reste von Menschlichkeit verlassen meine Seele. Ich kann nicht mehr Bitten, keine Verhandlungen mit irgendjemandem oder irgendetwas führen. Ich habe alle Hoffnung verloren, meine Liebe und Wärme ist mir genommen worden. Ich kann die Zeit nicht zurückstellen und meinen Sohn länger halten, ich kann nicht warten, so wie ich es sollte. Ich kann nicht nächstes Jahr mit Tamila nach Moskau reisen, so wie ich es ihr versprochen hatte. Es gibt nur eine Sache, die ich für meine Frau und meinen Sohn tun kann, und deshalb lebe ich weiter. Ich werde dafür sorgen, dass ihre Mörder bezahlen. Jeder Einzelne von ihnen. Sie werden für dieses Massaker mit ihrem Leben bezahlen.
Lettura gratuita per i nuovi utenti
Scansiona per scaricare l'app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Scrittore
  • chap_listIndice
  • likeAGGIUNGI