Kapitel 3

1277 Parole
3 Gala Gala blickte den großen, breitschultrigen Mann an, der sie erschaffen hatte, und überlegte, auf welche Weise sie ihm am besten antworten konnte. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, da ihre Sinne von ihrer Anwesenheit hier, diesem Ort, den Blaise die physische Dimension nannte, überwältigt wurden. Ihr Körper reagierte auf die unterschiedlichen Einflüsse auf eine eigenartige und unvorhersehbare Weise. Ihr Gehirn versuchte, alle Bilder, Geräusche und Gerüche aufzunehmen, um alles zu verstehen. Eine besonders große Ablenkung war Blaise selbst. Sie konnte nicht aufhören, ihn anzuschauen, da er anders war als alles, was sie bis jetzt gesehen hatte. Irgendetwas an der kantigen Symmetrie seines Gesichts zog sie an und hallte in ihr auf eine Art und Weise nach, die sie nicht ganz verstand. Sie mochte alles an ihm, angefangen von der blauen Farbe seiner Augen bis hin zu den dunklen Stoppeln, die sein kräftiges Kinn bedeckten. Sie fragte sich, ob es akzeptabel sei, wenn sie sich ausstrecken und sein Haar berühren würde – diese kurzen, fast schwarzen Locken, die sich so stark von ihren eigenen blassen Strähnen unterschieden. Zuerst aber wollte sie seine Frage beantworten. Sie konzentrierte sich und dachte daran zurück, was in der Zeit passiert war, bevor sie zum ersten Mal Realität wahrgenommen hatte. »Ich erinnere mich daran, existiert zu haben«, antwortete sie ihm langsam und versuchte die eigenartigen Empfindungen des Anfangs in Worte zu fassen. »Du meinst, du hast eine Zeit lang existiert, ohne es zu bemerken?«, fragte er, und seine dunklen Augenbrauen zogen sich leicht zusammen. Gala dachte, dass diese Mimik wohl Verwirrtheit ausdrückte, da ihre eigenen Augenbrauen das Gleiche machten, wenn sie etwas nicht verstand. »Es ist, als ob es zwei Arten gab, auf die ich existiert habe«, versuchte sie zu erklären. »Eine Art würde einfach passieren. Sie hielt länger an. Wenn ich sage ›ich bemerkte, zu existieren‹, meine ich den Zeitpunkt, an dem der andere Teil von mir zum ersten Mal begriff, was ich bin. Diese Teile sind nicht getrennt; sie sind eigentlich das Gleiche. Es gibt eine eigenartige, verschlungene Verbindung zwischen ihnen, die ich nicht ganz verstehe und die ich auch nicht mit Worten erklären kann …« »Ich denke, ich verstehe dich«, sagte er, beugte sich nach vorn und sah sie eindringlich an. »Du hast dein Ich-Bewusstsein entdeckt. Zuerst hast du auf einer unbewussten Ebene existiert, und dann, an einem bestimmten Punkt, bist du zu einem bewussten Zustand des Seins gewechselt.« Er schien aufgeregt zu sein, dachte Gala und fand irgendwie nicht das richtige Wort, den emotionalen Zustand ihres Schöpfers zu beschreiben. »Was ist der Unterschied zwischen dem bewussten und dem unbewussten Zustand?«, fragte sie wissensdurstig. »Ich bin ein Mensch, und die unbewussten Teile meines Hirns kümmern sich um solche Sachen wie Atmung oder Herzschlag«, antwortete er ihr mit leuchtenden Augen. »Wenn ich renne, erarbeitet mein Unterbewusstsein komplexe Abläufe, damit ich meine Beine bewegen kann. Einige Zauberer denken auch, dass in diesem Teil des Kopfes die Träume entstehen.« »Ich bin kein Mensch«, warf Gala ein und schaute ihn an. So viel wusste sie jetzt. Sie war etwas anderes und musste herausfinden, was genau sie war. Er lächelte – ein Ausdruck, der sein Gesicht für sie noch faszinierender machte. »Nein«, sagte er sanft, »das bist du nicht. Aber du wirkst definitiv wie einer auf mich.« »Aber das war gar nicht deine Absicht, richtig?« »Richtig«, bestätigte er. »Trotzdem basieren die Teile von dir, die ich entworfen habe, auf der theoretischen Vorstellung davon, wie menschliche Gehirne funktionieren könnten. Lenard der Große war der Erste, der diese bewusst-unbewusste Dynamik entdeckte, und seine Arbeit hat mich immer fasziniert. Ich habe Zaubersprüche bei Menschen angewandt, welche mir einen Einblick in ihren Zustand gaben, und das war mein Ausgangspunkt für dich. Außerdem bekam ich ein wenig Hilfe aus Lenards Werken. Der Zauberspruch, der dich erschaffen hat, war dafür gedacht, eine verbundene Struktur einzelner Punkte zu schaffen, welche lernfähig sind. Milliarden und Abermilliarden von Punkten in der Zauberdimension, die alle magisch zusammengehalten werden. Wie interessant, dachte Gala und beobachtete, wie sein Gesicht immer lebhafter wurde, während er sprach. »Und als ich den Zauber dann gewirkt hatte«, fuhr er fort, »habe ich Dutzende Momentaufnahmen des Lebens in die Zauberdimension gesandt, so viele Momentaufnahmen, wie ich in meine Finger bekommen konnte …« »Momentaufnahmen?« Dieses Wort verstand Gala nicht. Blaise nickte, und sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich einen Moment lang aus unerklärlichem Grund. »Ja. Momentaufnahmen sind ein Beispiel für ein magisches Objekt. Ein Zauberer namens Ganir hat sie kürzlich erfunden. Es ist ein wenig schwierig zu erklären, was genau sie sind. Grob gesagt, wenn man eine Momentaufnahme zu sich nimmt, kann man das sehen, was jemand anderes gesehen hat. Man riecht, was er roch, und man denkt, für die Dauer des Zaubers derjenige zu sein. Du musst es erleben, um es vollständig zu verstehen.« »Ich denke, ich verstehe es.«, antwortete ihm Gala und dachte an die eigenartigen Erfahrungen zurück, die sie gemacht hatte, bevor sie hierhergekommen war. »Das erklärt wahrscheinlich meine Traumbilder.« »Deine Traumbilder?« »Ich denke, ich sah Ausschnitte aus der physischen Dimension«, erklärte Gala ihm, »es war, als ob ich in ihnen sei.« Diese Erinnerungen waren nicht schön; die meiste Zeit hatte sie sich verloren gefühlt, hatte nicht gewusst, das Leben anderer Menschen zu erfahren. »Natürlich.« Seine Augen weiteten sich, als er verstand. »Ich sollte begriffen haben, dass wenn dein Gehirn erst einmal ausreichend entwickelt wäre, du die Momentaufnahmen genauso erleben würdest wie wir – nur mit dem Unterschied, niemals in der wirklichen Welt gewesen zu sein und deshalb wahrscheinlich ohne jede Vorstellung davon, was gerade mit dir geschah. Das tut mir leid. Das muss sehr verwirrend für dich gewesen sein.« Gala zuckte mit den Schultern, eine Geste, die sie ein- oder zweimal in ihren Träumen gesehen hatte. Sie nahm an, dass es Unsicherheit bedeutete. Sie war sich nicht sicher darüber, was sie über die Momentaufnahmen dachte. Die Welt durch sie zu sehen war sicher verwirrend gewesen, aber auf diese Art und Weise hatte sie eine Menge über die physische Dimension gelernt. Es gab natürlich immer noch vieles, was sie nicht wusste, aber sie war jetzt nicht so verloren, wie sie es ohne diese Aufnahmen gewesen wäre. Blaise lächelte sie an, und ihr fiel erneut auf, wie gerne sie dieses Lächeln mochte. So eine einfache Sache, nur Lippen, die sich nach oben bewegten, und ein Aufblitzen weißer Zähne, und trotzdem hatte es eine Wirkung auf sie, wärmte sie von innen heraus, und sie wollte sein Lächeln erwidern. Und das tat sie auch, indem sie seinen Ausdruck imitierte. Seine Augen glänzten heller, und Gala spürte, das Richtige getan zu haben. Sie hatte ihm irgendwie Freude bereitet. »So, wie ist denn die Zauberdimension eigentlich?«, fragte er und sah sie immer noch lächelnd an. »Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es dort sein muss …« Seine Stimme verlor sich, und Gala verstand, dass er hoffte, sie würde ihm etwas darüber erzählen. Sie dachte darüber nach und versuchte den besten Weg zu finden, es ihm zu erklären. »Es ist … anders«, sagte sie letztendlich. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich es dir beschreiben soll. Es war nicht viel Zeit zwischen diesen Träumen, und sobald ich keine Visionen erlebte, konnte ich auch die menschlichen Sinne nicht nutzen. Es ist, als ob es Lichtblitze gab, Geräusche, Geschmack und Geruch, die aber alle auf eine andere Art und Weise zu mir kamen. Ich war nie in der Lage, sie vollständig aufzunehmen, bevor ich nicht in einen weiteren Traum versank. Und dann wurde ich hierhergezogen …« »Hierhergezogen?« »Ja, so hat es sich angefühlt«, bestätigte ihm Gala. »Es war so, als würde mich etwas hierherziehen, zu diesem Ort, den du die physische Dimension nennst.« Sie machte eine kurze Pause. »Etwas, was mich zu dir gezogen hat.«
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