Kapitel 1 Ein neues Zuhause Seite 1
Ein neues Zuhause
Bulgarien 1978.
Alles begann, als ein Auto vor einem Kinderheim in Bulgarien anhielt. Eine junge Dame stieg aus. Sie klingelte an einem sehr alten Tor und eine Nonne öffnete die Tür.
„Ich will nicht darüber reden, nehmt sie einfach und passt gut auf sie auf!“, sagte die Dame hektisch, stieg wieder in ihren Wagen und verschwand.
Die Nonne legte das Baby in ein Bettchen, da entdeckte sie ein Bändchen um ihr Handgelenk mit dem Namen Amy. „Zumindest wissen wir jetzt wie du heißt "sagte sie und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit.
Das Kinderheim war dunkel und dreckig. Es lebten circa fünfhundert Kinder in drei Zimmern dort, zusammengepresst wie Sardinen. Die Zimmer hatten keine Tapeten an den Wänden oder Teppiche auf den Böden, nur sehr alte, dreckige Betten. Es war sehr sparsam eingerichtet und das gesamte Haus war alt und modrig. In ein paar Räumen sah man sogar den Schimmel an der Decke.
Wie um alles in der Welt konnte man hier Kinder aufwachsen lassen?
Keine der fünf Schwestern, die hier arbeiteten, kümmerten sich um die Kinder. Nie nahm man sie im Arm oder beschäftigte sich mit ihnen. Sie wurden gebadet, gewickelt, gefüttert und wieder ins Bett gelegt. Das Weinen mancher Kinder war schon in den Gängen zu hören und doch bekamen sie weder Zuwendung noch Aufmerksamkeit. Es war ein Ort des Grauens, der emotionalen Kälte und der Einsamkeit.
Acht Jahre verbrachte Amy in diesem Heim. Sie hatte zwar schnell Freunde gefunden, doch war sie traurig. Sie sehnte sich danach, endlich hier raus zu kommen. Immer wieder kamen Besucher, um sich die Kinder anzuschauen und eventuell eins zu adoptieren, aber Amy blieb.
Im Sommer 1982 kündigte sich hoher Besuch an. Ein Prominenter wollte das Kinderheim besuchen. Es kamen in der Vergangenheit oft Menschen hierher, die Geld hatten, um etwas für Reparaturen oder sogar Kleidung und Lebensmittel zu spenden. Man kannte inzwischen den Ruf des Kinderheims und viele wussten, dass das Heim heruntergekommen war. Doch als es sich herumsprach, dass die Spenden im seltensten Falle auch wirklich für das Wohl der Kinder ausgegeben werden würden, sondern meistens in die Taschen des Personals wanderte, kam immer seltener jemand, der etwas spendete.
Dann war es wieder soweit. Ein Prominenter hatte gerade seine Tournee beendet und wollte den Kindern in dem Heim noch etwas Gutes tun. Das Heim versprach sich sehr viel von diesem Besuch, nicht nur würde die Presse wieder einmal über den Zustand dieser Institution berichten, auch aus finanzieller Hinsicht erhoffte sich das Personal wieder einmal einen Zuschuss.
Als er kam war zur Enttäuschung des Heims die Presse nicht mit dabei. Aber er hatte er sehr viel Spielzeug bei sich, das er an die Kinder verteilte.
„Dürfte ich mich einmal umschauen?" fragte er höflich. Die Schwestern nickten und ließen ihn in jedes Zimmer. Er begrüßte jedes Kind und übergab ihnen Geschenke. Er nahm sich Zeit und die sonst so traurigen Kinder strahlten vor Freude.
„Hallo Kleines, wie heißt Du? Ich heiße Joshua "sagte er und schaute Amy an.
Amy traute sich nicht ihn anzuschauen, da sie befürchtete, dass sie etwas falsch machen würde, dass wieder ein anderes Kind genommen werden würde und sie erneut hier zurückbleiben müsste. „Amy“, sagte sie leise und schaute dann doch etwas schüchtern zu ihm hoch.
„Bist du gern hier?" Joshua versuchte, das Gespräch etwas aufzulockern.
„Nein! Bin ich nicht! Wer ist das schon?" platze es aus Amy heraus und nun schaute sie sich Joshua erst einmal genauer an.
Er war groß und hatte dunkle Augen und dunkles Haar. Auch hatte er ein ziemlich nettes Gesicht, dachte sie und schenkte ihn dann doch ein Lächeln. Er redete noch etwas mit ihr und dann widmete er sich wieder den anderen Kindern zu.
„Wäre ja auch zu schön gewesen“, flüsterte Amy mit Tränen in den Augen, „ich werde hier nie rauskommen. „Man sah ihr die Enttäuschung sichtlich an. Sie schaute immer wieder hoffnungsvoll aber auch voller Neid auf die anderen Kinder und wie er sich mit ihnen beschäftigte. Er ging von einem Zimmer ins andere und Amy hatte schon die Hoffnung aufgegeben. Nach sehr langer Zeit sah Amy ihn wieder auf sich zukommen. Sie spürte, wie ihre Hoffnungen wieder stiegen und ihr Herz klopfte.
„Komm mit mir, ich will mich mit dir unterhalten! „sagte er zu ihr. Sie schaute ängstlich und gleichzeitig mit viel Hoffnung eine der Schwestern an. „Geh mit, Amy“, sagte sie und führte beide in einen anderen Raum.
Die Tür schloss sich und nun war sie allein mit ihm. Was würde er wollen? Was passierte nun? All diese Fragen schossen ihr auf einmal durch den Kopf und sie bekam Angst. Sie stellte sich weit weg von ihm und egal was er tat, sie blieb erst einmal auf Abstand. Sie war verunsichert und spürte Angst. Es war aber nicht die Art von Angst, bei der sie schreien wollte, sondern mehr ein unwohles Gefühl im Bauch.
„Amy, komm zu mir. Ich weiß zwar nicht, was die hier mit dir gemacht haben, aber mir kannst du vertrauen. Ich werde dir nichts tun, komm zu mir.“
Sie wollte ihm glauben, aber irgendetwas ließ sie zögern. Doch der Gedanke, dass er sie aus diesem dreckigen Loch befreien könnte, ließ sie nicht los und sie beschloss, zu ihn zu gehen.
„So ist es gut. Wenn du ein liebes Mädchen bist und immer tust was ich dir sage, nehme ich dich mit zu mir nach Hause“, sagte er, „das willst du doch, oder?“
Es war ein gewisser Unterton in seiner Stimme, die Amy noch unsicherer machte. Aber sie wollte einfach nur hier raus. Sie kannte die Außenwelt gar nicht und war ganz aufgeregt. Was erwartete sie dort draußen? Wohin würde er sie bringen? Ihr schossen viele Fragen durch den Kopf und doch war sie sich sicher, dass es überall besser sein würde als in diesem Heim.
Während Joshua mit einer der Schwestern die Formalitäten erledigte, packte Amy schon ihre Tasche. Auf einmal wurde sie traurig. Sie hatte nie gedacht, dass dieses Heim, was sie so sehr hasste, ihr doch etwas Herzschmerz bereiten würde, wenn sie es verlässt. Immerhin waren hier auch sehr viele Kinder und viele waren ihr ans Herz gewachsen. Mit ihnen hatte sie Freud und Leid geteilt. Manche hatten ihr wie eine große Schwester gedient und für viele war sie die große Schwester, die immer da war.
Sie hatte immer gehofft eines Tages hier rauszukommen, doch nun plagten sie Gewissensbisse. Sollte sie Joshua versuchen zu überreden ein jüngeres Kind zu nehmen? Sollte sie vielleicht doch einfach hierbleiben? Nein – das war ihre Chance hier herauszukommen. Amy vertrieb diese Gedanken aus ihrem Kopf und ging zur Schwester, die schon darauf wartete, sich von ihr zu verabschieden.