Kapitel 1

2277 Words
Kapitel 1 Rachel Woods saß im Rücksitz des 1997-er Familienkombi und hasste ihr Leben. Rechts von ihr saß ihr nerviger, jüngerer Bruder Mark, und zu ihrer linken saß ihre ältere Schwester Sarah, die lauthals zu einem Popsong, der aus den Kopfhörern ihres iPods zu hören war, mitsummte. Als Rachels Vater den Blinker betätigte, und die letzte Abfahrt vom Highway nahm atmete Rachel tief ein, hielt den Atem ein, und ließ ihn mit einem lauten Seufzer wieder raus. Sie konnte nicht glauben, dass ihre Familie sie gerade jetzt – während der zehnten Klasse – gezwungen hatte umzuziehen. Rachel konnte einfach nicht anders, als an all die Dinge zu denken, die ihr Angst machten. Was wenn sie keine Freunde findet? Oder wenn Leute sie hänseln? Was wenn sie sich einfach nicht anpassen kann, oder ihre Klamotten eigenartig sind? Sie machte sich Sorgen, dass ihre Schwester sie im Schulflur verspotten würde, und dass ihr Bruder sie in Verlegenheit bringen würde: am allerschlimmsten von allem, Rachel machte sich Sorgen, dass ihre anmaßenden, übereifrigen Eltern sie demütigen würden. Ihr Vater fuhr links auf eine lange, kurvige Straße. War’s das jetzt? Fragte sich Rachel. Der Wagen fuhr weiter durch das Stadtzentrum. Durchs Fenster hindurch sah Rachel eine Pizzeria, einen Videoladen, ein Nagelstudio, und ein Hallmarkgeschäft mit Luftballons und Grußkarten im Schaufenster. Ihr fiel auch ein Café auf, und ein Laden mit Omaklamotten die im Schaufenster hingen. Als das Auto langsam durch die Stadt rollte, sah Rachel ein paar Leute: eine Dame die am Bürgersteig entlang life und einen Kinderwagen vor sich her schob, ein Mann mit seinen zwei Söhnen, die blau-schwarze AYSO Fußballtrikots und Fußballschuhe trugen. Rachel sah auch eine Gruppe Jugendlicher, einer von ihnen trug einen Pulli, der mit einem Tieger und den roten Buchstaben AHS bedruckt war. Rachel erkannte die Buchstaben danke eines Briefes der sie zur Apache High School willkommen hieß, und den sie vor ein paar Wochen erhalten hatte. Sie seufzte, und fragte sich, ob dies wohl ihre neuen Freunde sein könnten. Rachel musterte die Jugendlichen, und ihr wurde ganz mulmig. Der Anblick dieser Jugendlichen machte sie noch nervöser ihren ersten Tag an der Schule anzutreten. Ihr war es peinlich, wie langsam ihr Vater durch die Stadt fuhr. Wusste er den nicht wie lahm es war so durch die Stadt zu kriechen? dachte Rachel. Sie steckte ihren Kopf zwischen die Beine bis sie den Wagen endlich schneller fahren spürte. Die Familie fuhr weitere fünf Minuten die Landstraße entlang. Jedes Haus an dem sie vorbei fuhren war auffällig, und was sie sah, war verblüffend. Diese Häuser waren ganz anders, als die Häuser in ihrer alten Stadt: sie waren groß und opulent, mit langen, kreissförmigen Einfahrten, und manche hatten sogar Säulen, durch die man hindurch fahren musste um die Einfahrt zu erreichen. Wo sind wir? Als sie sich dem Straßenende näherten, betätigte Rachels Vater die Bremse. Sarah nahm die Stöpsel aus den Ohren und kuckte von ihrem Schoß auf. Mark deutete und fragte: „Ist es das jetzt?“ Das Loch in Rachels Magen wuchs als sie es kaum erwarten konnte das neue Haus zu sehen. Sie fragte sich, wie es wohl aussehen würde, sie fragte sich ob sie wohl wiedermal ein Zimmer mit Sarah teilen musste, und sie war gespannt auf ihr Schlafzimmer. „42 Pine Road!“ verkündete Rachels Vater aufgeregt. Als sie in ihre neue Auffahrt fuhren wurde Rachels Gedankenfluss abrupt unterbrochen. Daheim. Rachel begutachtete das Haus als sie hineinfuhren. Dieses Haus unterschied sich deutlich von den anderen in der Straße: ein bescheidenes weißes Haus mit schwarzen Rolladen ohne Säulen und kreisförmiger Einfahrt. Das Haus hatte eine rote Haustür mit einem großen, bronzenen Türklopfer in Form eines Löwen. Rachel stieg aus dem Wagen. Sie atmete nochmal tief ein und griff ihren Koffer. Zusammen mit Sarah und Mark, eilte sie hinein um die Schlafzimmer zu begutachten. Sarah schob Rachel mit dem Ellenbogen zur Seite und stürmte durch die Vordertür. „Ich krieg das größere Zimmer!“ schrie Sarah. Sie rannte nach oben, durch den Hausflur, und schlug die Türe zu. Mark schoss an Rachel vorbei, wobei er ihr den Koffer aus der Hand schlug, eilte in eines der Schlafzimmer, und schlug die Türe hinter sich zu. Als Rachel die Treppe hinauf kam sah sie eine offene Türe - die einzige offene Schlafzimmertür - ging hinein und setzte ihren Koffer ab. Ihr Zimmer war klein, aber zumindest war es ihres. Sie war nur allzu froh, dass sie sich nicht mit Sarahs nervigen, musikalischen Besessenheiten herumärgern musste. Ein paar Sekunden später hörte Rachel ein Klopfen an der Tür. „Beeil dich, das hier ist schwer,“ kam die Stimme ihrer Mutter gedämpft durch die Tür. „Rachel!“ Rachel öffnete die Tür und fand ihre Mutter mit einem Pappkarton, auf dem in schwarzem Edding Rachels Zeugs geschrieben stand. Ihre Mutter setzte die Schachtel in der Mitte des Zimmers auf den Boden ab, sah zu Rachel hoch und sagte: „Mach dir keine Sorgen Schatz, ich verspreche du wirst lernen es hier zu mögen.“ Rachel zuckte die Achseln und gruntzte: „Wie auch immer.“ Seitdem sie vor ein paar Wochen erfahren hatte, dass sie umziehen würde, war Rachel sauer auf ihre Eltern. Das Thema kam mal soeben eines Abends mitten im Sommerurlaub in Virginia Beach auf. Ihre Eltern benahmen sich sonderbar, und Rachel hatte so eine Vermutung, dass irgendetwas vorging. Zuerst dachte sie, dass ihre Mutter eventuell Schwanger war, aber es wäre ihr nie eingefallen, dass sie ihr einen Umzug aufzwingen würden. Rachel hatte ihr ganzes Leben in dem gleichen kleinen Ort in Pennsylvania verbracht, im selben Haus, demselben Schlafzimmer, und dass seitdem sie ein Säugling gewesen war. Sie hatte nie damit gerechnet, dass sie einmal umziehen würde, besonders nicht jetzt wärend der High School. „Das werden wir ja dann sehen,“ entgegnete Rachel. Rachels Mutter lief aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. PIEPS. PIEPS. PIEPS Rachel blickte aus dem Fenster und sah einen großen, weißen Lastwagen der an der Seite in großen Buchstaben die Worte „Al’s Umzug und Lager“ aufgedruckt hatte, rückwärts in die Einfahrt ziehen,. Das Piepsen verstummte und zwei Männer sprangen aus den Türen und schlugen die Hintertüren auf. Rachel sah einen Pappkarton nach dem anderen. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr gesammtes Leben plötzlich herausgerissen und in Kartons verstaut worden, und nur weil ihr Vater versetzt worden war. Rachel beobachtete, wie sich ihre Mutter und ihr Vater mit den Umzugsleuten unterhielten, und jeden Karton mit farbigen Haftnotizen markierten, sodass die Umzugsleute genau wussten, in welches Zimmer jeder Karton abgestellt werden sollte. Obwohl Rachel sauer war, wollte sie dennoch unbedingt ihr neues Haus sehen. Leise lief sie aus dem Zimmer und stieg die Treppen hinab. Sie wollte nicht, dass ihre Familie sah wie gespannt sie war, oder dass sie wussten, wie aufgeregt sie war sich umzusehen. Als sie am Fuß der Treppe ankam, lief sie links ins Wohnzimmer. Sie erblickte einen offenen Kamin und zwei große Fenster. Rachel verfiel in Gedanken und sie stellte sich Weihnachtsfeiern in diesem Raum vor, an einen Baum den sie in der Ecke aufstellen und schmücken würden. Abgesehen von ein paar Schachteln die an der Wand entlang gestapelt standen, erschien der Raum in diesem Augenblick recht kahl. Rachel lief weiter durch das Wohnzimmer,welches in einen anderen Raum führte. Es war ein heller Raum mit einem Erkerfenster der den Vorderrasen überblickte. Rachel vermutete, dass es sich hier um das Esszimmer handelte, war sich jedoch nicht sicher. Die Wände waren in einem hässlichen Braun gestrichen, welches Rachel verabscheute. Als Rachel den hässlichen, braunen Raum verließ, betrat sie die Küche. Sie betätigte den Lichtschalter und schaute sich um. Die schwarzen Formica Schränke und der dunkle Linoleumboden waren deprimierend. Die Küche hatte einen schalen Geruch, und sie vermisste ihr altes Haus nochmehr. Rachel fuhr fort die Räume und Badezimmer zu erkunden, und sie fühlte eine Art von emotionalen Rückzug, den sie niemals von einem Haus erwartet hatte. Sie war sich nicht bewusst gewesen, wie sehr sie an ihrem alten Haus in Pennsylvania gehangen hatte. Sie schloss ihre Schlafzimmertür, und setzte sich neben den Karton mit ihren Sachen auf den Boden. Auf der Suche nach ihrem Schlüsselbund kramte sie durch ihren navy-blauen Kipling Rucksack. Sie wusste das sich daran eine kleine Schere befand. Unsicher wie sie den Inhalt wohl vorfinden würde, durchtrennte sie den Klebestreifen am Karton. Rachel erinnerte sich wie wütend sie gewesen war, als sie ihr Zimmer zusammen packen musste, und dass sie einfach alles ohne jegliche Sorgfalt hinein geworfen hatte. Als sie die Kartondeckel öffnete war sie absolut nicht überrascht von der Unordnung die sich ihr bietete. Anscheinend passte ihr gesammtes Leben in einen einzigen, schäbigen Pappkarton. Obendrauf fand sie ein paar staubige Bilder von ihren Freunden in Pennsylvania und ihr. Sie vermisste ihre Freunde und konnte sich nicht vorstellen, jemals von ihnen getrennt zu sein. Sie war nie ein Mitglied der populären Clique gewesen, aber Rachel liebte ihre Freunde dennoch. Ihre Freunde waren Schlicht gewesen, ohne Schnickschnack und Drama. Dieses eine Bild war eines ihrer Lieblingsbilder: es war im letzten Frühjahr auf einem Holländischen Fest mit Achterbahnen und Spielen, und Leuten, die Kolonialkleidung trugen, aufgenommen worden.Es war ein ziemlich verrückter Ort, aber Rachel freute sich jedes Jahr darauf. Rachel hob ein anderes Bild auf, und plötzlich war ihr der Hals wie zugeschnürt. Das Bild zeigte, wie sie und ihrer beste Freundin Dana, sich lächelnd umarmten. Seit Jahren, eigentlich seitdem sie sich in der fünften Klasse kennengelernt hatten, waren die zwei unzertrennlich gewesen. Sie waren beide in denselben Volleyball-, Tennis- und Fußballschulmannschaften gewesen, und hatten gehofft, sich zusammen im Herbst für die Haupt-Cheerleadingtruppe zu bewerben. Sie liebten es gemeinsam im Einkaufszentrum in Pennsylvania einkaufen zu gehen. Ihre Lieblingsgeschäfte waren JCPenney’s, Aeropostale, Gap und American Eagle. Sie gingen auch liebendgern im Walmart shoppen, und fanden immer schöne Assesoires. Eine Träne fiel auf das Bild. Rachel wischte sie sofort weg, aber dennoch hinterließ es mitten im Bild einen Fleck . Rachel legte das Bild hin und fing an zu Weinen. Sie hasste dieses Haus, sie vermisste ihre Freunde, sie war sauer auf ihre Eltern, und sie konnte einfach nicht glauben, dass Morgen ihr erster Tag an der AHS war. Rachels Gedanken wurden von einem Britney Spears Song, der laut durch die Wände plärrte, unterbrochen. Meine Güte, ich kann sie nicht ausstehen. Rachel stand auf und lief zu einer Tür in ihrem Schlafzimmer, von der sie gedacht hatte, dass es sich um einen Schrank handelte hinüber, öffnete sie, und sah Sarah darin laut zur Musik mitsingen und Tanzen. Das Herz rutschte ihr bei diesem Anblick in die Hose: sie hatten ein anliegendes Badezimmer. „Shame on me, to need release, un-uncontrollably...I I I wanna go o o all the way ay ay taking’ out my freak tonight.” Rachel konnte es nicht glauben; hatte sie tatsächlich ein anliegendes Badezimmer? Schlimmer hätte es fast nicht kommen können. Rachel schlug die Tür zu. Sarah war das genaue Gegenteil von Rachel; Sarah war total Mädchenhaft, Beliebt und jeder mochte sie. Sie hatte einen attraktiven, älteren Freund an der Uni, und die beiden sprachen vom Heiraten. Sarah war schlank, hatte blondes Haar, blaue Augen und stets pefekte Nägel. Sie liebte Popmusik, Tanzen und Singen, und würde es niemals wagen eine Kontaktsportart zu spielen. Sarah war hübsch und selbstbeherrscht; keine dieser Dinge trafen auch nur annähernd auf Rachel zu. Nein, Rachel war klug, hatte braunes Haar, und war von durchschnittlichem Gewicht (nicht schlank aber auch nicht gerade übergewichtig). Sie war ansehnlich, hatte sich selbst jedoch nie als schön betrachtet. Rachel liebte Sport und draußen in der Natur zu sein. Sie war ein gutes Mädchen und befolgte stets die Regeln. Sie hatte eine handvoll guter Freunde, war aber nie sonderlich populär gewesen. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt, war aber schon mehrmals verknallt gewesen. Das die zwei nicht miteinander klar kamen war die reinste Untertreibung. Rachel ging zu dem Karton mit ihren Sachen hinüber und began nach ihrem Tagebuch zu kramen. Seit ihrem siebten Lebensjahr hatte sie jeden Abend einen Eintrag in ihr Tagebuch gemacht, und das sollte sich heute auch nicht ändern. Rachel fand es am unteren Ende des Kartons und pustete den Staub ab. Ihr Tagebuch war ihr Leben. Lila Samt, mit einem Totenschädel vorne drauf, und dank der Bilder mit denen es innendrin vollgeklebt war, war es d**k und schwer. Rachel trug den silbernen Schlüssel der es öffnete um den Hals, und nahm ihn niemals ab. Sie behielt ihre persönlichen Angelegenheiten lieber für sich, und würde lieber sterben, als jemanden ihr Tagebuch lesen zu lassen. Rachel hielt ihr Tagebuch dicht an ihre Kette und öffnete das Herzförmige Schloss. Sie war inzwischen ein Meister darin, das Schloss zu öffnen ohne den Schlüssel von der Halskette zu nehmen. Sie suchte ihren Lieblingsstift aus der Schachtel heraus, und lehnte sich vor, um zu schreiben: Liebes Tagebuch, Heute ist wohl der schlimmste Tag meines Lebens. Ich sitzte hier in meinem neuen Zimmer, schaue die Bilder meiner Freunde durch, und mir wird bewusst, dass ich hier in Westchester keine Freunde habe. Keinen einzigen. Morgen fängt die Schule an und ich habe Angst. Ich bin mir sicher, das sich niemand um mich kümmen wird. Ich bin mir sicher, dass niemand mit mir reden wird. Als ich vorhin mit Dana sprach, erzählte sie mir, dass es heute eine letzte Sommernachtsfeier geben würde, und währendessen sitzte ich hier in diesem kalten, leeren Zimmer – Mein Gott könnte es denn schlimmer sein? Ich schreibe Morgen noch etwas mehr um zu berichten, wie es in der Schule ging – sollte ich es durch den Tag schaffen. XOXO, Rachel Rachel setzte ihr Tagebuch ab und ließ sich rückwärts auf ihr weiches Bett fallen. Sie verbarg den Kopf unter ihr Federkissen, und zog ihre rot-weiß gestreifte Decke über den Kopf. Rachel war zu müde zum weinen, war aber zu aufgewühlt um einzuschlafen. Sie lag wach, und ließ sich eine ganze Reihe möglicher Szenarien wie ihr erster Tag wohl verlaufen würde, durch den Kopf laufen. Jedes Szenario war schlimmer als das Nächste. Um ungefähr Ein Uhr nachts schlief Rachel endlich ein.
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