Kapitel 6

1328 Words
Graces Sicht Ich versuchte, mich an meinem Schreibtisch zu beschäftigen. Von meinem Platz aus konnte ich die Tür zum Konferenzraum sehen. Hunter und Helena waren noch da drin. Max wartete noch immer in Hunters Büro. Ich warf meinen Stift hin. Es hatte keinen Sinn, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken kreisten immer wieder um das Gespräch mit Hunter, darum, wie er versucht hatte, zu kontrollieren, wen ich traf. Es ergab keinen Sinn. Oder vielleicht wollte ich mir die möglichen Gründe einfach nicht eingestehen. Ich hatte mich mit Max zum Abendessen verabredet. Ein Mann, der mir das Gefühl gab, mehr zu sein als unsichtbar. Ein Mann, der mich nicht nur als Angestellte oder Schwägerin sah. Er sah mich als Frau. Eine begehrenswerte Frau. Ich war nicht so dumm, mit ihm zu schlafen, falls das Hunters Sorge war. Hatte er Angst, dass sich Max’ Sperma irgendwie mit seinem vermischen könnte? Gott, ich war Jungfrau. Es war nicht so, als würde ich so schnell mit Max ins Bett springen. Ich wollte Max nicht ausnutzen. Das wäre ihm gegenüber nicht fair. Ich wollte erst einmal sehen, wie sich meine Gefühle entwickelten. Wenn sie sich nicht von Hunter lösten, würde ich die Sache mit Max nicht weiterführen. Ich lachte leise. Was mache ich da bloß? Wir waren noch nicht mal auf einem Date, und ich nehme an, er will mich wiedersehen. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich fast verpasst hätte, wie Helena den Sitzungssaal verließ. Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass Hunter ging. Ich zuckte zusammen, als ich etwas gegen die Wand schlagen hörte. Keine zwei Sekunden später kam Hunter mit finsterem Blick heraus. Er warf mir nicht einmal einen Blick zu, als er in sein Büro ging, wo Max wartete. Als er die Tür öffnete, sagte er über die Schulter: „Bestell mir ein neues Telefon, Grace.“ Ich runzelte die Stirn. Was war mit seinem alten passiert? „Jawohl.“ Normalerweise hätte ich „Hunter“ gesagt, weil er mein Schwager war. Aber nach heute musste ich etwas Abstand halten. Ich sah zu, wie Hunter zögerte, bevor er seine Tür öffnete. Er hatte den Abstand bemerkt, den ich gerade zwischen uns gebracht hatte, und an seiner Haltung wusste ich, dass ihm das nicht gefiel. Ich brauchte nicht den energischen Knall seiner Bürotür, um es zu bestätigen. Hunters Sicht Max stand am Fenster, als ich hereinkam. Er drehte sich nicht um. „Hast du dir aber Zeit gelassen“, murmelte er. „Warst aufgehalten.“ Schließlich drehte er sich um, sein lässiges Grinsen immer noch auf seinem Gesicht. „Na gut, dann legen wir mal los.“ Wir kamen zur Sache. Der Deal, an dem wir arbeiteten, war gigantisch. Wir planten, ein Unternehmen von einem alternden Tycoon ohne Erben zu übernehmen. Max interessierte sich für den Bereich Gastgewerbe und Veranstaltungen. Ich wollte die Technologie- und Immobiliensparte. Wir würden alles gleichmäßig aufteilen, zerschlagen und zwei mächtige Imperien daraus machen. Das Treffen war produktiv. Wir einigten uns auf Strategie, Vorgehensweise und Zeitplan. Max war clever, das war er schon immer gewesen. Er konnte notfalls sogar den Teufel umgarnen. Als wir zum Schluss kamen, rückte Max seine Manschettenknöpfe zurecht und warf mir diesen Blick zu. „Willst du noch was sagen?“, fragte er. „Ja.“ Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. „Wegen Grace.“ Seine Augen leuchteten amüsiert auf. „Ich dachte, wir wären mit diesem Thema durch.“ „Sie ist nicht einfach irgendeine Frau, mit der man spielen kann, Max.“ „Sie ist erwachsen, Hunter. Sie kann ihre eigenen Entscheidungen treffen.“ „Sie ist … unschuldig. Vielleicht passt ihr dein Lebensstil nicht so gut wie anderen.“ Max hob eine Augenbraue, sein selbstsicheres Grinsen blieb unverändert. „Vielleicht hast du recht.“ Er drehte sich zur Tür und zögerte nur kurz, um seinen letzten Satz zu sagen. „Aber andererseits … vielleicht will sie gar nicht unschuldig sein.“ Und damit ging er hinaus. Graces Sicht Um sieben Uhr summte die Gegensprechanlage in meiner Wohnung. Ich war es nicht gewohnt, von Männern angesprochen zu werden. Fast mein ganzes Leben hatte ich im Hintergrund von Helenas Welt verbracht, immer nur zugesehen, wie sie die Aufmerksamkeit auf sich zog, während ich im Schatten verschwand. Ich wusste, dass ich nichts wert war. Ich besaß einen Spiegel und betrachtete mich jeden Morgen darin. Helena hatte einfach etwas an sich, das Männer magisch anzog – bis Max kam. Er hatte das durchschaut und wartete unten auf mich. Als ich nach draußen trat, lehnte Max an seinem eleganten schwarzen Sportwagen. Ich kannte mich mit Autos nicht aus, also wusste ich weder Marke noch Modell, aber er sah teuer aus. Er trug ein dunkelblaues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und offenem Kragen, seine kräftigen Unterarme waren deutlich zu sehen. Es stand ihm ausgezeichnet. „Wow“, sagte Max und pfiff leise, als er mich musterte. „Ich wusste, dass du umwerfend aussiehst, aber verdammt, Grace, du bringst mich hier um.“ Mir stieg die Röte ins Gesicht. „Du siehst selbst gut aus.“ Er grinste. „Sollen wir?“ Die Fahrt zum Restaurant verlief angenehm, wir unterhielten uns angeregt. Max brachte mich zum Lachen, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte ich mich leicht. Frei. Das Lokal, das er ausgesucht hatte, war gedämpft beleuchtet, spielte leise Musik und hatte eine intime Atmosphäre. Das war nicht einfach nur ein Abendessen. Es war ein Date. Wir unterhielten uns bei Wein und einem Essen, an das ich mich kaum noch erinnern konnte. Über unsere Kindheit, unsere Arbeit, das Leben im Allgemeinen. Er erzählte mir Geschichten über Hunter aus der Uni, und ich lachte mehr als seit Monaten. Aber da war noch etwas anderes. Sein Blick. Als würde er mich sehen. Als würde ihm gefallen, was er sah. „Also“, sagte Max und wirbelte den letzten Rest seines Whiskeys im Glas, „was läuft da zwischen dir und Hunter?“ Mir wurde übel. „Da läuft nichts.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Ach komm schon, Grace. Ich erkenne einen Mann, der besitzergreifend ist, wenn ich einen sehe.“ Ich schluckte. „Er ist nur mein Schwager.“ „Echt? Der sah aus, als würde er mich am liebsten in Stücke reißen, nur weil ich neben dir stand.“ „Es ist kompliziert.“ Max beugte sich vor. „Dann mach es mir einfach. Erklär es mir. Ich höre gut zu.“ Ich zögerte. Seine Finger streiften meinen Handrücken und ein Schauer lief mir über den Arm. „Bitte. Ich will es wissen.“ Ich sah auf und bemerkte einen festen Blick in seinen Augen. Also erzählte ich es ihm. „Helena kann nicht schwanger werden.“ Er nickte. „Ja, Hunter hat es mir gesagt.“ „Nun ja … ich bin ihre Leihmutter.“ Max blinzelte. Sein Lächeln verschwand. „Du … trägst ihr Baby aus?“ Ich nickte. „Ich versuche es. Der Eingriff war heute Morgen.“ Er lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wow. Damit hatte ich nicht gerechnet.“ Ich lächelte schwach. „Das ist nichts für ein erstes Date, ich weiß.“ „Nein, ist es nicht“, sagte er und lachte leise. Dann hielt er inne. „Soll ich mich zurückziehen?“ „Wie bitte?“ „Wenn dir das … was auch immer das ist … gerade zu viel ist, sag einfach Bescheid. Ich ziehe mich zurück.“ Ich starrte ihn an. Max war der Erste seit Langem, der mir das Gefühl gab, mehr zu sein als Helenas Schatten. Mehr als nur ein Gefäß. „Nein“, sagte ich. „Ich will nicht, dass du dich zurückziehst.“ Max’ Blick wurde weicher. Er griff über den Tisch und legte seine Hand auf meine. „Dann werde ich es nicht tun.“ Seine Berührung gab mir Halt. Und mir wurde klar … ich hatte endlich eine Wahl. Und ich würde sie ergreifen.
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