Buch 1. - Fass mich nicht an - Prolog
Die größten Kämpfe werden nicht im Ring ausgetragen.
Dort trifft nur der Körper die Schläge.
Doch die wahren Kriege sind die, die wir für Liebe, für das Überleben, für die Wahrheit führen –
an Orten, an denen es keinen Schutz gibt und jede Berührung Leben oder Tod bedeuten kann.
Und am Ende gibt es nur einen Weg zu gewinnen … aufzuhören, für sich selbst zu kämpfen.
Die Stille im Haus war zu laut.
Die Art von Stille, die nie ein gutes Zeichen ist.
Eine dicke, erstickende Stille, die dir den Magen zusammenzog, noch bevor sich die Tür öffnete.
Lennox Graves war zehn Jahre alt, als er lernte, dass Berührung wehtun konnte.
Doch in jener Nacht war es nicht nur sein Körper, der Spuren trug.
In jener Nacht brachte ihm die Stille noch etwas anderes bei:
dass Zuneigung, die sich als Liebe tarnt, das Gefährlichste von allem ist.
Er kauerte in der Küche, seine nackten Füße auf die kalten Fliesen gepresst.
Das Licht aus dem Flur reichte kaum bis zu ihm – gerade genug, um die Schuhe seiner Mutter zu sehen.
Sie hatte ihn wieder allein gelassen und war zur Nachtschicht gegangen.
Er kannte die Choreographie schon: Die Tür schließt sich, dann beginnt das Warten.
Das Klicken. Der Schlüssel. Die Schritte.
Und dann kam er.
Das Geräusch des Schlüssels im Schloss schien immer eine Sekunde länger zu dauern, als es sollte.
Lennox bewegte sich nicht. Sein Atem wurde langsamer.
Er drückte seinen Rücken gegen die Wand, wie ein Tier, das weiß, dass Verstecken nicht Sicherheit bedeutet – nur Zeit.
„LENNOX!“
Die Stimme dröhnte – tief, dumpf, heiser.
Sein Vater war zu Hause.
Lennox schloss die Augen. Er antwortete nicht.
Vielleicht würde es diesmal nicht so schlimm sein.
Vielleicht würde er sich einfach nur hinsetzen. Vielleicht würde er nur trinken.
Vielleicht wäre Lennox heute Nacht nicht das Ziel.
Die Schritte begannen. Nicht hastig. Überlegt.
Als ob selbst das Haus Angst davor hätte, wohin der Mann ging.
Er steuerte auf die Küche zu.
„Komm raus, du kleine Ratte“, zischte sein Vater und trat einen Stuhl zur Seite.
Das Herz des Jungen hämmerte so stark, dass er seine Gedanken nicht mehr hören konnte – nur Instinkt.
Der Instinkt, der schrie: Beweg dich nicht, schau nicht hoch, sag kein Wort.
Doch der Mann hatte ihn schon gesehen.
Er packte seinen Arm.
„Was zur Hölle machst du auf dem Boden, du kleiner Versager?“
Lennox antwortete nicht.
Er sah nur hoch.
Seine großen, eisblauen Augen baten nicht. Flehten nicht.
Sie starrten nur. Still. Wie immer.
Der erste Schlag knackte nicht. Er war dumpf.
Wie etwas, das gegen eine Wand geworfen wird.
Der zweite war lauter. Er traf seinen Bauch.
Die Luft entwich ihm.
„Das ist der Mist, den du nach Hause bringst? Eine Drei? Eine verdammte Drei?!“
Die Stimme des Mannes wurde lauter, und ein weiterer Schlag kam – diesmal gegen seine Rippen.
Lennox krümmte sich, aber er weinte nicht. Er bettelte nicht. Nicht mehr.
„Begreifst du das nicht?! Wenn du nicht lernst zuzuschlagen, wirst du immer der sein, der Schläge kassiert! Verstanden?!“
Ein weiterer Schlag. Diesmal gegen seinen Oberschenkel.
Lennox brach auf die Knie.
Der kalte Boden traf seine Haut, doch das war das geringste seiner Schmerzen.
Jetzt schlug sein Vater nicht nur. Er trat.
Er packte den Arm des Jungen und hob ihn hoch.
Seine Füße berührten den Boden nicht mehr. Seine Rippen ächzten.
„Du musst stärker werden, du kleiner Scheißer“, zischte er, sein Gesicht nah am Gesicht des Jungen.
„Dein Körper gehört dir. Fang an, ihn zu benutzen!“
Der Junge verstand nicht, was das bedeutete.
Er wusste nur, dass die Welt, in die er geboren wurde, keine war, in der man dich umarmte, wenn du verletzt warst.
Es war eine Welt, in der jede Berührung Schmerz versprach.
Als sein Vater ihn schließlich losließ, blieb Lennox auf dem Boden liegen.
Er bewegte sich nicht. Sein Körper schmerzte.
Jeder Atemzug stach in seiner Brust.
Und unter seinen Rippen war etwas Tieferes zerbrochen – nicht nur Knochen, sondern etwas Leises und Unsichtbares.
Die Nacht zog sich hin.
Später stand er auf.
Wusch das Blut so gut es ging ab.
Warfen das Hemd in den Müll.
Dann setzte er sich auf den Bettrand, die Hände auf dem Schoß.
Und etwas geschah.
Etwas Kleines.
Er sah seine Hände an.
Dünne, zitternde Finger.
Und er begann, sie zu pressen.
Eine Hand in die andere.
Wie jemand, der versucht, sich selbst zu überzeugen, dass er noch Kontrolle über irgendetwas hat.
In jener Nacht fasste Lennox Graves einen Entschluss.
Er würde niemals wieder zulassen, dass ihn jemand berührte.
Nicht aus Liebe.
Nicht aus Wut.
Nicht aus Mitgefühl.
Denn Berührung bedeutete keine Sicherheit.
Berührung war Schwäche.
Ein Riss in der Rüstung.
Und er würde nie wieder einen Riss zulassen.
Deshalb liebte er den Ring.
Dort wusste jeder, wann der Schlag kam.
Dort gab es Regeln.
Dort brauchte man kein Vertrauen.
Nur eines zählte: Wer am Ende noch stand.
Und wenn ihn jemals jemand berühren wollte, ging ihm nur ein Gedanke durch den Kopf:
Fass mich nicht an.