Kapitel Neun

2072 Words
Der Lauf war vorbei. Lennox stand am Rand der Bahn, keuchend, die Muskeln zitternd – nicht vor Erschöpfung, sondern wegen der intensiven Selbstbeherrschung, die es ihn gekostet hatte, seine Wut in den Boden zu treiben, statt gegen andere. Sloane lobte ihn nicht. Sagte kein Wort. Sie tippte nur auf den Bildschirm ihres Tablets und diktierte ruhig die nächste Phase. „Umziehen. In sieben Minuten unten im Kraftraum. Wir halten uns an den Plan: Oberkörperkraft, TRX, Medizinball, statische Halteübungen. Heute keine Ausnahmen.“ Marcus klopfte Lennox auf die Schulter, als der Mann schweigend in Richtung Umkleide ging. Sein Gesicht war gerötet, das Shirt schweißdurchtränkt, und sein Blick folgte unauffällig Sloanes Bewegungen, während sie sich wortlos umdrehte und die Treppe hinunterging. Ihre Schulter hielt sie noch leicht steif, doch ihre Haltung blieb ungebrochen. Diese Frau ist aus Stahl, dachte Marcus, als er ihr folgte. Der Kraftraum war kühl und halbdunkel, beleuchtet von kaltem Neonlicht. Schwarzer Gummiboden, Spiegelwände, ordentlich sortierte Gewichte und Geräte – eine Welt der Präzision, in der nur existierte, was bewegt werden konnte. Gewicht – Bewegung – Kontrolle. Lennox kam genau sieben Minuten später herein. Sein Shirt war trocken, aber sein Gesicht blieb hart. Marcus nahm ein Klemmbrett zur Hand und begann zu notieren. Sloane stellte bereits die TRX-Bänder ein, eine Hand über dem Kopf, als sie sie an der Decke befestigte. Lennox’ Augen folgten der Bewegung, obwohl er es nicht wollte – und diesmal war er der Erste, der wegsah. Denn er hatte es gesehen: Ihre linke Hand bewegte sich etwas langsamer. Der Muskel spannte sich, die Bewegung dauerte eine Sekunde länger. Sie hat immer noch Schmerzen. „Wir fangen an“, sagte Sloane, ihre Stimme scharf wie eine Klinge. „Drei Runden, zehn Wiederholungen TRX-Rudern. Fokus auf Form, nicht Geschwindigkeit. Schulterblätter zusammenziehen, Core aktiv. Danach Medizinballwürfe an die Wand, Seitrotation, vier Kilo. Zum Schluss statisches Hängen – eine Minute. Kein Kompromiss.“ Lennox nickte stumm und ging zu den Bändern. Er griff zu, trat zurück, der Körper spannte sich in einen festen Bogen. Der erste Zug war flüssig, der zweite ebenso. Beim dritten brannten die Unterarme. Beim vierten stöhnte er leise. Beim siebten spannte sich sein Nacken an. Sloane verfolgte Bewegung, Wiederholungen, Zeit. Sie sah ihn nicht direkt an. Doch sie wusste genau, wann der Muskel zuckte, wann die Schulter zu weit drehte, wann die Haltung begann, gefährlich zu kompensieren. „Langsamer. Zurücksetzen. Kein Reißen. Spür, was du tust.“ Nach dem letzten Zug ließ Lennox die Bänder los, trat zurück, schüttelte die Arme. Sein Brustkorb hob und senkte sich schnell, das Shirt klebte am Rücken. Sein Blick streifte Sloane, aber sie wies schon auf den Medizinball. „Jetzt. Seitrotation. Zwanzig Wiederholungen pro Seite. Fokus auf den Core. Nicht mit den Armen werfen.“ Lennox hob den Ball. Der Gummi lag schwer in seiner Hand. Er stellte sich an die Wand, hielt kurz inne – und beim ersten Wurf wusste er: Das kann man nicht vortäuschen. Jede Rotation kam zurück, wenn sie nicht sauber war. Sloane trat näher, beobachtete. Sagte nichts – notierte nur. Doch als sie sich leicht bückte, zog sie unmerklich ihre Schulter zurück. Lennox sah es. Warum sagt sie nichts? Warum keine Pause? Marcus saß auf einer Bank, sah abwechselnd zu beiden, dann murmelte er leise: „Ihr zwei bringt euch irgendwann um. Die Frage ist nur – wörtlich oder metaphorisch.“ Sloane reagierte ohne mit der Wimper zu zucken: „Heute nur metaphorisch.“ Der Ball schlug dumpf auf den Boden. Lennox stellte ihn ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn – doch sein Blick blieb auf Sloane gerichtet. Und zum ersten Mal... war da keine Wut. Nur die Frage: Warum hörst du nicht auf? Sie antwortete nicht. Sie hob nur das Tablet und sagte: „Hängen. Eine Minute. Ganzkörperspannung. Start... jetzt.“ Und der Mann ging zur Stange. Und hob sich hoch. Der Kraftraum leerte sich langsam. Marcus ging, um den Nachmittag vorzubereiten, und keine weiteren Athleten kamen bis Mittag. Jetzt gehörte die kühle Stille nur noch Sloane und Lennox. Das Training war vorbei – und anders als in den letzten Tagen eilte keiner davon. Sloane saß auf der Bankkante, das Tablet auf den Oberschenkeln, aber sie tippte nicht mehr. Ihre Schulter pochte vor Müdigkeit, und als sie sich an die Wand lehnte, ließ sie für einen Moment die Fassade fallen. Sie streckte die Beine aus, die Schuhe leicht nach außen gerichtet, und sah zu den flackernden Deckenlampen hinauf. Dann – leise Schritte. Lennox. Er setzte sich neben sie, wortlos. Nicht zu nah, nicht drohend. Einfach da. Wie jemand, der nicht reden will – aber bleiben möchte. Sie saßen schweigend. Atmeten im gleichen Rhythmus. Schließlich brach Lennox das Schweigen. „Ich war mies, oder?“ Sloane drehte den Kopf. Ihre Stimme war müde, aber ruhig. „Besser als gestern. Und gestern warst du besser als vorgestern. Das reicht.“ „Reicht das für dich?“ „Für mich? Es geht hier nicht um mich.“ Lennox lächelte leicht – kein glückliches, sondern eines, das zeigte, dass er verstand, wie sie weiter Mauern baute. Nicht mehr aus Zorn, sondern aus Gewohnheit. „Hör zu“, sagte er leise, diesmal ohne Abwehr, ohne Pose. „Heute Morgen... und was Marcus mit deiner Schulter gemacht hat... ich weiß, dass... ich seh’s. Es ist nicht vorbei.“ Sloane zuckte leicht mit der Schulter – vorsichtig. Gerade so, dass es nicht schmerzte. „Es vergeht. Solche Dinge tun das immer.“ „Aber du hast nicht gesagt, dass es weh tut.“ „Weil es nicht dein Problem ist“, erwiderte sie. „Und außerdem... du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß, es war keine Absicht.“ Lennox nickte langsam. Einen Moment starrte er nur auf den Boden, dann sprach er wieder – diesmal mit anderer Stimme. „Warum... siehst du mir nicht in die Augen?“ Sloane lachte. Müde, aber echt. Sie schüttelte leicht den Kopf, dann sah sie ihn an. „Ich weiche nicht aus. Du gehst mir nur auf die Nerven, weil du ständig starrst.“ Lennox grinste verlegen. „Ich starre nicht.“ „Doch“, konterte Sloane. „Beim Training, beim Laufen, sogar wenn du denkst, ich merke es nicht. Mein peripheres Sehen fängt das auf, Graves. Schon immer. Aber jetzt – noch mehr...“ „Ich... beobachte dich nur“, sagte er leise. „Was du tust. Wie du durchhältst. Weil... ich versteh’s nicht.“ „Was?“ „Warum du noch hier bist.“ Sloane schwieg einen Moment, legte dann das Tablet behutsam neben sich und antwortete ehrlich, leise: „Weil jemand das kontrollieren muss, was du nicht kannst. Und wenn ich’s nicht tue, tut’s keiner. Ich bin nicht hier, weil ich dich mag. Oder weil ich dir unter die Haut will. Mir ist ein Happy End egal. Aber ich habe gesehen, was passiert, wenn jemand nie lernt zu bremsen.“ Lennox wandte sich ihr zu. Sein Blick war nicht mehr angespannt. Kein Spott. Keine Abwehr. Nur Akzeptanz. „Und du hast es gelernt?“ Sloane hob die Hand, berührte ihre Schulter, wo der Schmerz noch pulsierte. „Jedes Mal, wenn es wieder weh tut, erinnert es mich daran, warum ich musste.“ Schweigen folgte. Nicht unangenehm, nicht schwer. Nur tief. Wie wenn zwei Menschen endlich aufhören zu schreien – und zum ersten Mal ihren eigenen Atem hören. Lennox blickte zur Decke. „Es tut mir leid, dass ich nicht weiß, wie man das richtig macht.“ Sloane nickte. „Ich weiß.“ „Aber ich versuche es.“ „Ich sehe das.“ Und das war genug. Keine Vergebung. Keine Erlösung. Nur ein kleiner Riss in der Mauer. Ein Punkt, an dem das Licht endlich eindringen konnte. Das kalte Metall der Bank brannte nicht mehr, und das Schweigen zwischen ihnen... hatte sich verändert. Lennox blieb noch ein paar Sekunden, dann stand er langsam auf. Sloane sah ihm nach – nicht misstrauisch, aber auch nicht weich. Nur so, dass sie sie selbst blieb. „Sandsack“, sagte Sloane und stand auf. Lennox nickte nur. Als sie den Raum überquerten, wurde die Welt wieder schlicht: nackter Boden, Taschen an Haken, Schweiß und Echo. Hier hatte Lennox sich immer zu Hause gefühlt. Doch heute... trat er anders an. Sloane ging voraus und befestigte die Gurte. Keine Worte. Keine Vorträge über die Schulter oder gestern. Sie legte das Tablet an den Rand der Bank, und als Lennox vor dem Sandsack stand, sagte sie nur: „Ich will nicht, dass du es jetzt rauslässt. Ich will, dass du es hältst. Bleib in der Form. Zwei Runden à drei Minuten. Pause dazwischen. Nur Technik.“ Lennox nickte und begann, die Hände zu bandagieren. Seine Finger bewegten sich schnell, sicher. Sein Blick streifte kurz Sloanes Schulter – doch sie sah schon weg. Er zog die Handschuhe an. Das Klettband riss leise. Die Luft verdichtete sich um seine Brust, die Bewegung in ihm vibrierte. Der erste Schlag war nichts – nur ein Test. Der zweite fand Rhythmus. Der dritte... war persönlich. Sloane stand im Hintergrund, die Arme verschränkt, beobachtend. Ihre Augen nahmen jedes Detail auf: den Knöchel, die Hüftdrehung, die Schulterrolle. Jede Bewegung erzählte seine Geschichte – aber diesmal schlug er nicht nur aus Wut. Diesmal verstand er, was er zurückhielt. Der Sack donnerte gedämpft bei jedem Treffer. Lennox knurrte nicht, fluchte nicht. Sein Atem war tief, konzentriert. Sein Gesicht blieb angespannt – aber seine Augen... jagten nicht mehr. Nach drei Minuten sprach Sloane, ruhig wie immer: „Stopp. Pause.“ Lennox trat zurück, ließ die Hände sinken und setzte sich. Sagte nichts. Fragte nichts. Starrte nur auf seine Fäuste, als würde er sich fragen, was sie all die Zeit verborgen hatten. „Haltung ist stabil“, stellte Sloane fest. „Rückzug rutscht manchmal. Linker Haken kommt zu tief – riskant, wenn jemand unter dir arbeitet. Rechter Cross hebt leicht die Schulter. Aber... du hast Kontrolle.“ Lennox sah auf. „Ein Kompliment?“ „Nein“, antwortete Sloane. „Eine Datenanalyse.“ Er schnaubte, stritt aber nicht. „Noch eine Runde?“ Sloane nickte. „Eine mehr. Aber diesmal – weiß, warum du jeden Schlag machst.“ Lennox richtete sich langsam auf, Schultern zurück, Brust gehoben. „Okay. Ich versuch nicht nur zu schlagen... sondern etwas zu sagen.“ Sloane antwortete nicht sofort. Sie sah ihn nur an. Dann, leise: „Dann wird es vielleicht irgendwann jemand hören.“ Und Lennox trat wieder an den Sandsack. Und hob die Fäuste. Doch diesmal kämpfte er nicht nur mit dem Körper – er sprach eine Sprache, die er nie gelernt hatte. Die nächsten drei Minuten vergingen. Lennox’ Schläge waren nicht härter, aber präziser. Der Sandsack schwankte still danach, als wäre auch er müde – nicht von der Kraft, sondern von der Emotion, die endlich Form gefunden hatte. Am Ende sah Sloane kaum noch aufs Tablet. Nur auf ihn. Nicht auf die Schläge – auf seinen Atem. Seine Haltung. Seine Schulter, die hielt. Seine Hüfte, ruhig. Sein Gesicht, nicht mehr wild – sondern getragen von etwas Tieferem. „Stopp“, sagte sie schließlich und drückte den Timer. Lennox trat zurück. Wischte sich mit dem Handschuh über die Stirn, atmete lautlos aus und setzte sich wieder. Sloane kam näher. Sagte nichts. Legte das Tablet leise ab. „Das war’s für heute“, sagte sie ruhig. Lennox nickte. Seine Stimme klang rau. „Danke, dass du... mich wieder ausgehalten hast.“ Sloane lächelte. Müde, aber ehrlich. „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe. Aber heute... warst du erträglich.“ Lennox lachte leise. „Das ist ein Kompliment, oder?“ „Eher eine Statistik.“ Beide lächelten – zum ersten Mal gleichzeitig. Nur kurz, aber es reichte. Dann wandte sich Sloane ab. „Geh duschen. Iss etwas. Dreißig Minuten. Dann Ruhe. Nicht verhandelbar.“ Lennox nickte und ging. Schon an der Treppe drehte er sich um. Sloane stand noch dort, dehnte vorsichtig ihre Schulter, als wollte der Körper sie warnen – aber in ihren Augen lag keine Distanz mehr. Nur Stille. Lennox sagte nichts. Nickte nur. Nicht demonstrativ – respektvoll. Und ging. Sloane sah ihm nach, und als er hinter der Treppe verschwand, atmete sie tief aus. Nicht vor Erschöpfung. Sondern wie jemand, der heute nicht nur ein Training geführt, sondern jemanden vom Rand zurückgeholt hatte. Sie ging in die entgegengesetzte Richtung. Sie liefen nicht Seite an Seite. Aber heute liefen sie auch nicht mehr gegeneinander. Nur... in dieselbe Richtung.
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