Kapitel Sieben

1703 Words
Das Wasser trommelte leise über Sloanes Rücken, während sie sich mit geschlossenen Augen an die geflieste Wand lehnte. Der warme Strahl löste ihre Schulter, doch der dumpfe Schmerz pochte weiter—eine Erinnerung daran, dass ihr Körper nicht kugelsicher war. Nicht körperlich. Und sonst auch nicht. Statt eines Bademantels streifte sie ein weiches Baumwolltanktop und dunkelgraue Shorts über. Die kühle Luft des Zimmers klebte noch auf ihrer Haut, aber es war ihr egal. Der lange Tag hatte sie ausgelaugt. Das ausgedehnte Training, der Aufprall, die Spannung mit Lennox—alles zog an ihren Gliedern, als sie langsam die Kante der Bettdecke anhob und ins Bett glitt. Die Matratze gab mit einem leisen Knarzen nach. Der Raum lag in gedämpftem Licht, nur fahles, orangefarbenes Straßenlicht drang durch die Spalten der Jalousien. Ihr Tablet ruhte auf der Kommode, ihr Notizbuch lag auf dem Boden. Heute Nacht wollte sie nicht schreiben. Nicht analysieren. Nur abschalten. Sie legte sich auf die Seite, achtete auf die schmerzende Schulter und versuchte, ruhig zu atmen. Die Decke wölbte sich dunkel und stumm über ihr. Hinter der Wand war es still—zunächst. Lennox’ Zimmer war immer in Schweigen gehüllt, als bräuchte er Abstand selbst im Schlaf. Doch heute Nacht… war etwas anders. Das erste Geräusch war leise. Fast unhörbar. Ein dumpfer Schlag. Wie etwas, das heruntergefallen war. Sloane öffnete die Augen. Eine halbe Minute Stille. Dann wieder: ein plötzliches, scharfes Geräusch. Von der Wand her. Als wäre etwas—oder jemand—gegen einen Schrank geprallt. Sloane setzte sich auf, die Decke glitt von ihren Beinen. Sie lauschte. Ein rasselnder Atem. Dann ein tiefer, kehliger Seufzer. Von der anderen Seite der Wand. Lennox. Sie runzelte die Stirn. Vielleicht nur ein Traum. Vielleicht wälzte er sich herum. Doch dann schnitt ein weiteres Geräusch durch die Stille—eine scharfe, zornige Bewegung, als wäre etwas umgestoßen worden—und sie wusste gewiss: Das war nicht nur ein Traum. Das war mehr. Angespannte, unruhige Laute filterten durch das sonst stille Haus. Lennox’ Stimme war nicht klar, nur tiefe, raue Bruchstücke—wie das dunkle Murmeln eines Halbschlafenden, der verfolgt wird. Sein Atem ging schnell, stockte manchmal. Sloane saß eine Zeitlang am Bettrand, barfuß, reglos. Die Handflächen auf den Oberschenkeln, den Blick auf den Boden geheftet. Dieser Mann lief vor etwas davon. Und selbst im Schlaf war er nicht sicher. Sie blieb noch so sitzen, die Hände in die Oberschenkel gedrückt, der langsame Puls der Nacht um sie herum. Die Geräusche verklangen nicht. Hinter der Wand keuchte Lennox, bewegte sich, murmelte Unverständliches—doch an jedem Ton hafteten Angst und Zorn. Dann kam der Krach. Kein menschlicher Schrei—sondern der Aufprall von Metall auf den Boden. Vielleicht ein Stuhl. Vielleicht eine Lampe, gegen die Wand geschleudert. Egal. Das war nicht mehr normal. Sie stand auf. Barfuß und leise trat sie aus ihrem Zimmer. Der Flur war dunkel, aber die Umrisse der Türen zeichneten sich im schwachen Nachtlicht deutlich ab. Lennox’ Tür stand einen Spalt offen, und von drinnen sickerte gedämpftes, gepresstes Keuchen nach außen. Wie das eingesperrte Geräusch eines verwundeten Tieres, verborgen vor der Welt, nur von der Dunkelheit gehalten. Sloane ging ohne zu zögern hinein. Das Zimmer lag im Halbdunkel. Auf dem Bett lag Lennox zusammengerollt, ein Arm unter dem Kissen verkeilt, der andere krallte sich in die Decke. Sein Körper bebte, als kämpfe er gegen etwas. Die Muskeln waren gespannt, die Stirn vom Schweiß glänzend. Harte, zerbrochene Atemzüge rissen aus seinem Mund, und hin und wieder murmelte er verwaschene Worte. „Geh… nicht… zurück… nicht… fass mich nicht an…“ Seine Stimme war brüchig, kam aus tiefer Tiefe. Und herzzerreißend vertraut. Sloane trat näher. Sie dachte nicht nach. Rechnete nicht. „Lennox“, sagte sie sanft—aber nicht flüsternd. „Lennox, wach auf. Hörst du mich?“ Er reagierte nicht. Sein Arm schoss in die Luft, als wolle er etwas wegdrücken. Sein Gesicht verkrampfte sich. „Lennox, wach auf“, wiederholte sie fester und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Fehler. Es geschah zu schnell, um es zu fassen: Lennox schnellte vom Bett hoch, packte ihr Handgelenk, und im nächsten Moment stand er, die Augen wild. Die Bewegung dauerte nur eine Sekunde—aber sie reichte, um den Raum mit roher Spannung zu füllen. „Was zur Hölle tust du da?!“ brüllte er, seine Stimme explodierte in der Stille und hallte von den Wänden. „Was zum Teufel machst du in meinem Zimmer, du verrückte Frau?!“ Sloane wich nicht zurück. Doch ihr Herz setzte einen Schlag aus. „Ich hab dich gehört. Du hattest einen Albtraum. Du warst nicht du selbst.“ „Na und?!“ Lennox trat zurück, doch seine Augen brannten weiter. „Glaubst du, du kannst hingehen, wohin du willst, nur weil du ‚die Verantwortung‘ für mich übernommen hast? Du bist nicht meine Mutter! Nicht meine Therapeutin! Wer zum Teufel glaubst du zu sein, dass du hier mitten in der Nacht rein schleichst wie so eine—“ „Wie jemand, der nicht will, dass du dir im Schlaf den Schädel einschlägst?!“ fuhr Sloane dazwischen, zum ersten Mal scharf. „Ich hab gehört, wie du um dich schlugst, nach Luft rangst, gegen die Wand knalltest! Ich wollte dich nicht retten, Lennox. Ich wollte nur nicht, dass du mit einer Gehirnerschütterung aufwachst.“ Lennox’ Fäuste ballten sich, seine Brust hob und senkte sich. Er war jetzt ganz wach, schweißnass, aufgewühlt, keuchend. „Ich habe dich nicht gebeten, mich zu beobachten!“ schrie er. „Ich will dich hier nicht! Ich will nicht, dass du mich so siehst! Raus hier, Quinn! Sofort!“ Sloane nickte stumm. Sie bat nicht. Erklärte nicht. Drehte sich nur um. Doch als sie hinausging, sank Lennox’ Blick—ungewollt—und da sah er es. Sie hinkte. Belaste kaum ein Bein. Ihre Schritte waren steif—nicht theatralisch, sondern schmerzhaft vertraut. Die linke Hand krallte sich an ihre Schulter. Diese Schulter. Die, die er früher getroffen hatte. Etwas drehte sich in seiner Brust. Keine Schuld. Eine seltsame, unerwünschte Erkenntnis: Auch sie konnte verletzt sein. Die Tür schloss sich. Kein Knall. Nur ein leises Klicken. Der Raum fiel wieder in Stille. Doch Lennox legte sich nicht hin. Er stand nur da. Zwischen zerwühlten Laken, den Erinnerungen in seinem Kissen und seinem eigenen zerrissenen Atem. Und zum ersten Mal in seinem Leben waren es nicht seine Dämonen, die die Nacht störten. Es war die Tatsache, dass jemand sie gesehen hatte. Wer in der Dunkelheit versunken ist, erkennt, wenn ein anderer dort ebenfalls ertrinkt. Sloane ging langsam, gemessen den Flur entlang, doch in ihr fühlte sich jeder Schritt an, als liefe sie über Glasscherben. Sie war nicht laut. Schlug die Tür nicht zu. Nicht einmal ihr Schluchzen war zu hören—denn sie schluchzte nicht. Sie setzte sich nur auf die Bettkante, und die Tränen fielen leise. Die Tür klickte hinter ihr ins Schloss, aber die Szene von eben hallte noch in ihrem Kopf nach. „Raus hier, Quinn! Sofort!“ Sie hatte schlimmere Worte gehört. Erniedrigung, Zurückweisung, rohe Brutalität—sei es im Beruf, sei es aus einer Vergangenheit, in der Menschen ihre Stimmen wie Waffen benutzten. Aber das hier… war anders. Es tat weh, weil sie nicht erwartet hatte, dass es weh tun würde. Sie riss die Jacke ab und warf sie über den Stuhl. Der Schmerz in der Schulter pochte noch vom Schlag zuvor, und als sie sich setzte, schoss ein tieferer Schmerz durchs linke Bein. Sie hatte es vor Lennox nicht gezeigt—und nicht zeigen wollen—doch jetzt, hinter der Tür, ließ sie für einen Moment die Deckung sinken. Allein. Sie beugte sich vor und umfasste ihren Knöchel mit beiden Händen. Eine langsame, bewusste Bewegung. Sie legte die Stirn auf den Oberschenkel und begann zu atmen—leise, ungleichmäßig. Die Tränen explodierten nicht. Nichts brach aus ihr hervor. Sie… kamen einfach. Wie eine Quelle, die zu lange verschlossen war. Tropfen um Tropfen, über Gesicht und Kinn, auf ihr Knie. Nicht wegen des Schmerzes. Nicht wegen des Schlags. Sondern wegen der Ungerechtigkeit. Weil sie versucht hatte, etwas zu tun. Etwas aufzuhalten. Die Hand nach einem Mann auszustrecken, der gegen sich selbst kämpfte. Und dafür bekam sie genau das, wovor sie ihr Leben lang weggelaufen war: Zurückweisung. Zorn. Brutale, vernichtende Mauern. Genau wie damals. Eine Erinnerung flackerte—ein altes Tanzstudio. Ihr eigenes Spiegelbild, verweinte Augen, ein steifes, frisch operiertes Knie. Der Moment, in dem der Arzt sagte: „Das Risiko wäre zu groß, wieder einzusteigen.“ Und ihre Choreografin, die sie nie in die Compagnie zurückrief. Du bist nicht stabil genug. Das Risiko nicht wert. Das Gefühl war dasselbe gewesen. Sie war aus einem Traum verstoßen worden. Und jetzt, aus einem Menschen. Sloane atmete aus. Sie wischte sich die Tränen ab—erst das rechte Auge, dann das linke. Präzise. Methodisch. Als gäbe es ihr Kontrolle über das, was in ihr brodelte. Sie stand auf, spürte die Spannung wieder im Knie. Massierte die Schulter mit routinierter Bewegung, ging zum Spiegel. Blieb stehen. Ihre grünen Augen blickten zurück, gerötet. Das Haar ein wenig zerzaust. Das graue Tanktop an der Schulter zerknittert. Nicht ihr bester Zustand. Aber das störte sie nicht. Es war ihr Ausdruck. Die Frage in ihren eigenen Augen. Ist es das wert? Die Antwort kam leise. Erst als Gedanke. Dann laut. „Ja. Ist es.“ Denn Lennox wusste nicht, was er tat. Er wusste nicht, wie man loslässt. Er hatte nie gelernt zu vertrauen. Und Sloane… sie wusste genau, wie es sich anfühlt, wenn niemand an dich glaubt—nicht einmal du selbst. Sie würde nicht gehen. Nicht weglaufen. Nicht einmal, wenn Lennox weiterhin zurückbiss. Denn sie wusste, wie es ist zu fallen und niemand streckt die Hand aus. Sloane kehrte langsam ins Bett zurück. Legte sich hin, rollte auf den Rücken, die Arme über der Brust verschränkt, so wie sie es als Kind tat, wenn sie allein zu Hause war und die Welt enger wurde. Der Schmerz war nicht weg. Die Demütigung auch nicht. Aber jetzt hatte sie einen Zweck. Und während sie langsam die Augen schloss, schlug in ihrer Seele ein einziger, störrischer Gedanke Wurzeln: Du wirst heilen, Lennox Graves—auch wenn du noch glaubst, es nicht zu wollen.
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