Kapitel Zwei

2130 Words
Der Handschuh donnerte gegen den Sandsack, doch Lennox spürte das Gewicht des Aufpralls nicht mehr. Seine Muskeln arbeiteten automatisch, der Rhythmus war perfekt, aber sein Geist war weit weg. Ein Blick zum Rand des Rings zeigte Marcus’ Gestalt, die aus dem fahlen Morgenlicht auftauchte – die Arme verschränkt, der Ausdruck undurchdringlich, während er ihn beobachtete. Nach Lennox’ letztem Schlag zog er den Handschuh in einer einzigen fließenden Bewegung aus, klemmte den Riemen zwischen die Zähne und riss ihn los. „Wenn du hergekommen bist, um zu kritisieren, nur zu. Aber wenn du nur stumm glotzen willst, dann verpiss dich“, knurrte er. Marcus rührte sich nicht. „Ich habe Neuigkeiten.“ „Wieder ein Kampf abgesagt? Oder werde ich gesperrt, weil ich Jenkins letzte Woche auf der Pressekonferenz den Kiefer gebrochen habe?“ Lennox’ Stimme war rau, die morgendliche Spannung knisterte durch seine Muskeln. Nach dem Aufwachen war er immer so – reizbar, unberechenbar. „Weder noch“, trat Marcus aus dem Schatten und blieb am Ringrand stehen. „Es ist etwas, das dir tatsächlich helfen könnte, deine letzte Chance nicht zu vermasseln.“ Lennox stieß ein bitteres, müdes Lachen aus. „Fang nicht mit deinem Motivationsgelaber an, Flynn. Du weißt, ich hasse das.“ „Das ist keine Rede. Es ist eine Tatsache. Du machst dieses Jahr die Tour. Acht Länder. Vier Monate. Und laut Vertrag … wird dir eine Sportärztin zugeteilt.“ Stille. Das Wort schien die Luft zu spalten. „Was?“ „Du hast mich schon verstanden“, erwiderte Marcus ruhig und legte sein Notizbuch auf die Bank. „Dr. Quinn. Reha-Spezialistin. Sie reist überall mit dir hin. Sie überwacht deine Belastung, überarbeitet deine Ernährung und hilft, deine mentale Stabilität zu halten. Und bevor du fragst – nein, wir haben dich nicht konsultiert. Es war der Wunsch des Sponsors. Und du hast den Vertrag unterschrieben.“ In Lennox’ Augen flackerte es. „Diese verdammten Kleingedruckten …“ „Genau“, nickte Marcus. „Du akzeptierst es – oder du kannst dorthin zurück, aus welcher Hölle du gerade so eben herausgekrochen bist.“ „Ich brauche keine jammernde Seelenklempnerin oder einen Gutmenschen-Priester, der mir hinterherläuft“, spuckte Lennox wütend. „Ich brauche niemanden, der sich um meine Mind-Body-Balance kümmert, wenn ich nur eines will: gewinnen.“ Marcus stand mit verschränkten Armen. „Dann gewöhn dich an das neue System. Denn ohne sie bekommst du keine Freigabe für den Ring. Die Sponsoren gehen das Risiko nicht ein. Und ich auch nicht.“ Lennox ballte die Fäuste. „Und wie lange, glaubst du, hält diese ‚Dr. Quinn‘ an meiner Seite durch? Eine Woche? Zwei?“ „Sie ist klüger als du“, erwiderte Marcus gelassen. „Und ich glaube, sie ist auch geduldiger.“ Das leise Knarren der Eingangstür hallte durch das Gym. Lennox wollte gerade die nächste Beleidigung ausstoßen, als er in der Bewegung erstarrte. Schritte. Selbstbewusst. Präzise. Dann eine Frauenstimme. „Guten Morgen.“ Beide Männer drehten sich um. Im Durchgang der Halle, hinter dem Schatten des Rings, stand eine Frau. Schwarze Hose, graues Jackett, blonde Haare zum Knoten gesteckt, die Augen scharf und eisig. Eine Aktentasche am Arm, das Telefon in der Hand. Sie sah direkt zu Lennox. Nicht neugierig. Nicht interessiert. Eher so, als würde sie ihn bereits kennen. Lennox sagte zunächst nichts. Dann zuckte ein Muskel in seinem Gesicht. „Ach nein. Das ist mein neuer Babysitter?“ „Ja“, antwortete Marcus. „Lennox, das ist Dr. Sloane Quinn.“ Sie lächelte nicht. Reichte nicht die Hand. Sie trat einfach weiter in den Raum und richtete sich auf. „Sie sind Lennox Graves. Und ich bin der Grund, warum Sie diese Saison möglicherweise überleben,“ sagte sie leise, klar. Etwas flackerte in Lennox’ Blick. Ein zynisches Grinsen kroch über sein Gesicht. „Das wird ja ganz großartig.“ Sloane stand in der Mitte des Raumes. Sie zuckte nicht unter Lennox’ eisigem Blick, obwohl er sie praktisch durchbohrte. Der Mann war schweißnass, die Muskeln zitterten noch vom Training, und jeder Zentimeter schrie: „Komm mir nicht näher.“ Aber sie blieb. Ruhig. Mit geradem Rücken. Lennox’ Blick glitt über sie, offen abschätzend. Nicht wie jemand, der eine neue Kollegin beurteilt. Eher wie einer, der nach einer Schwachstelle sucht. Einem Riss in der Rüstung. „Grüne Augen, blonde Haare, militärische Haltung … ich dachte, Marcus schickt mir eine Ärztin und keine Ballerina, die zu viel Grey’s Anatomy gesehen hat“, murmelte er und wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. Sloanes Miene veränderte sich nicht. „Ich habe Ihre medizinischen Unterlagen geprüft, Mr. Graves. Ihr Knie ist stark instabil, Ihre linke Rotatorenmanschette chronisch entzündet, und Ihr Stresslevel ist so hoch, dass schon moderate körperliche Belastung einen Kreislaufkollaps auslösen könnte. Wäre ich die Ballerina, lägen Sie bereits am Boden“, erwiderte sie mit leiser, aber skalpellscharfer Stimme. Lennox blinzelte, sichtlich überrascht von der Retourkutsche. Dann reckte er das Kinn und schnaubte. „Sieh mal einer an. Die Ärztin ist nicht nur auf dem Papier echt. Reden kann sie auch. Sag mal, Quinn – habt ihr in der Uni auch beigebracht bekommen, wie man mit einem Kerl umgeht, der nichts mit dir zu tun haben will?“ „Man hat mir beigebracht, professionell mit einem selbstzerstörerischen Egomanen umzugehen, der Schmerz für Ruhm hält“, sagte sie. „Ihr Körper fällt auseinander, Graves. Und Sie ignorieren das seit viel zu langem. Ich bin nicht hier, um Sie zu mögen. Ich bin hier, um Ihre Karriere zu retten. Wenn Sie mich lassen.“ Marcus stand im Hintergrund, die Arme immer noch verschränkt, und beobachtete. Er mischte sich nicht ein. Genau das wollte er – die erste Spannung sich entfalten lassen und sehen, wer wen handeln konnte. Lennox trat näher. Nicht drohend, aber so, dass die Luft zwischen ihnen dichter wurde. „Weißt du, was ich mehr hasse als Ärzte? Ärzte, die glauben, mich zu kennen.“ Sloane wich nicht zurück. Sie sah ihm direkt in die Augen. „Ich kenne Sie nicht, Mr. Graves. Aber ich kenne Schmerz. Und Verlust. Wissen Sie, was ich mehr hasse als Krankheit? Menschen, die nicht gesund werden wollen.“ Die Luft knisterte zwischen ihnen. Etwas in Lennox’ Gesicht verhärtete sich, doch er sagte nichts. Er ballte die Faust, trat dann langsam zurück. Als hätte er begriffen, dass seine alten Spielchen bei dieser Frau nicht ziehen würden. „Also gut“, durchbrach Marcus schließlich die Stille, „fangen wir an. Der Trainingsplan für die erste Woche steht. Sloane nimmt an allen Einheiten teil. Jeden Morgen Start um sechs. Und Graves – wenn du sie nochmal anbrüllst, bevor ihr wenigstens zehn Minuten dieselbe Luft geatmet habt, wirst du’s bereuen.“ Lennox schnaubte nur, antwortete aber nicht. Sloane hielt seinen Blick einen Herzschlag länger, dann öffnete sie ihre Tasche, zog das Tablet heraus und begann, Notizen zu machen. Effiziente, professionelle Bewegungen – als wäre es nur ein weiterer Arbeitstag. Doch in ihrem Inneren wusste sie bereits: Dieser Mann war kein gewöhnlicher Fall. Nicht nur, weil sein Körper zerfiel, sondern weil in ihm etwas Tieferes eingeschlossen war. Und aus irgendeinem Grund konnte sie nicht anders, als den Schlüssel finden zu wollen. Und Lennox … Lennox spürte, dass diese Frau gefährlicher war als jeder Gegner, dem er je gegenübergestanden hatte. Denn sie schlug nicht. Sie verteidigte nicht. Sie sah. Und das war schlimmer. Marcus räusperte sich und deutete Sloane, ihm zu folgen. Lennox war schon am anderen Ende des Gyms, drosch wieder auf den Sandsack ein, wütend und konzentriert. Mit jedem Schlag heulte die Luft, als trüge sie einen weiteren erstickten Schrei. Sloane warf noch einen letzten Blick zurück und folgte dann Marcus. Der Flur war ruhiger, überraschend großzügig. Dicker Teppich am Boden, die Wände gesäumt von Sportmemorabilien – signierte Handschuhe und Fotos, Echos von Lennox’ früherem Ruhm. Doch sie wirkten staubig, als läge etwas längst Verloschenes auf ihnen. „Ich weiß, was Sie denken“, sagte Marcus leise und blieb vor einer dunklen Holztür stehen. „Und Sie haben recht. Lennox ist ein verdammt harter Fall. Aber wenn es jemand schaffen kann, dann vielleicht Sie.“ „Es ist nicht meine Aufgabe, ihn zu ‚handlen‘“, erwiderte Sloane ruhig. „Ich muss ihm nur helfen, sich selbst zu handhaben.“ Marcus’ Mundwinkel hoben sich kaum merklich. „Ihr denkt euch ähnlicher, als mir lieb ist.“ Er öffnete die Tür, und Sloane trat in einen hellen, elegant eingerichteten Raum. Nicht zu groß, aber durchdacht: bequemes Bett, Schreibtisch, Einbauschrank, ein Fenster mit Tageslicht, ein kleiner Sessel in der Ecke. Die Wände in einem sanften Grau, beruhigend im Ton, der Boden dunkles Holz. Das Bett war ordentlich mit weißer Bettwäsche gemacht, ein Nachttisch daneben. „Das Zimmer am Ende des Flurs ist Ihres“, sagte Marcus und deutete dann nach links. „Dort sind Lennox’ Quartiere. Ihr seid Nachbarn.“ Sloane hielt inne. „Das war so geplant?“ „Sein Training, seine Ernährung, seine Regeneration – alles braucht jetzt tägliches Tracking. Schnelle Reaktion ist entscheidend. Und …“ Marcus senkte die Stimme, „er lässt niemanden an sich heran. Wenn er sich an Ihre Präsenz gewöhnen soll, müssen Sie körperlich nah sein. Nähe lehrt manchmal mehr als ein Stapel Notizen.“ Sloane seufzte. Sie widersprach nicht. Sie wusste, dass Marcus recht hatte. „Es gibt ein eigenes Bad, guten Wasserdruck, schnelles Internet, und die Küche ist den Flur runter. Sie erstellen einen täglichen Ernährungsplan für ihn – ich koordiniere den Ablauf. Und wenn Sie Fragen haben … zögern Sie nicht. Und Sloane?“ Sie sah ihn an, die Hände noch am Taschengurt. „Wenn es zu viel wird … sagen Sie es. Niemand erwartet, dass Sie das allein schaffen.“ Sloane nickte kurz. „Danke. Aber ich laufe für gewöhnlich nicht davon.“ Marcus’ Lippen zuckten zu einem flüchtigen Lächeln, bevor er sich umdrehte und ging. Sloane atmete erst aus, als sie ganz allein war. Sie blickte sich im Raum um und ging dann zu der Tür, die zu Lennox’ Zimmer führte. Sie war geschlossen, Stille drang dahinter hervor – doch irgendwo hinter dieser Wand tobte noch immer der Sturm namens Lennox Graves. Und sie war nun in sein Auge getreten. Sloane stand noch in der Mitte des Zimmers, als ein leiser Seufzer ihre Lippen verließ. Die Anreise, die Konfrontation mit Marcus, Lennox’ beinahe tierischer Ausbruch … es war alles zugleich ermüdend und überfordernd. Aber jetzt war sie allein. Zeit, sich einzurichten – wenn auch nur, um Lennox die nächste Ausrede zu nehmen, sie zu provozieren. Ihr Koffer stand noch in der Ecke, sauber geschlossen. Sie kniete sich daneben, öffnete ihn und begann methodisch mit dem Auspacken. Kleider, mit militärischer Präzision gefaltet, lagen darin: makellose Blusen, schmale Hosen, einige bequeme Sweats, Sneakers und ein formelleres Outfit für den Fall eines Dinners oder Events. Während sie sie in den Schrank räumte, waren ihre Bewegungen automatisch – doch hinter jedem Falten und jedem Reißverschluss summte etwas Straffes. Routine brachte Ruhe. Wiederholung erzeugte die Illusion von Kontrolle. Zumindest ein Stück weit. Unterwäsche in eine separate Schublade, Toilettenartikel ins Bad. Auf die Kommode legte sie ihr Tablet und einen Ordner – letzterer enthielt Lennox Graves’ vollständiges medizinisches und leistungsbezogenes Profil, das sie heute Abend noch lesen würde. Sie begann immer mit gründlicher Vorbereitung. Aber noch nicht jetzt. Als sie den strengen Dutt löste, fing der Spiegel ihren Blick auf. Die welligen, blonden Strähnen glitten über ihre Schultern. Ihre grünen Augen wirkten etwas müde, doch die gewohnte Entschlossenheit brannte in ihnen. Einen Moment lang starrte sie nur ihr eigenes Gesicht an – jenes, das sie nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst zu zeigen versuchte. Nachdem sie fertig ausgepackt hatte, zog sie die Vorhänge auf und sah aus dem Fenster. Draußen pulsierte die Stadt noch, voller Lichter und Geräusche. Drinnen aber herrschte Ruhe. Die Müdigkeit legte sich wie Blei auf ihre Schultern. Sie ließ sich aufs Bett fallen. Die Matratze war bequem, die Laken rochen frisch gewaschen. Sie schloss kurz die Augen, setzte sich dann wieder auf, um den Wecker auf sechs Uhr zu stellen. Ihr erstes gemeinsames Training. Die erste echte Bewährungsprobe. Die Uhr näherte sich elf. Sie lag da und starrte an die Decke – der Körper schwer, der Geist aber weigerte sich abzuschalten. Lennox’ Gesicht blieb in ihren Gedanken – scharfe Linien, eisiger Blick, ein Körper, der von Wut und Widerstand erzählte. Dieser Mann kämpfte nicht nur physisch. In ihm tobte etwas Unsichtbares. Etwas Tieferes. Etwas Schmerzhaftes. „Ich muss ihm helfen. Auch wenn er das nicht will.“ Das war ihr letzter Gedanke, bevor die Erschöpfung sie endlich übermannte. Und auf der anderen Seite des Flurs schlief Lennox Graves noch immer nicht. Er schlug auf den Sandsack ein. Schlug, bis seine Hände zu bluten begannen. Aber er hörte nicht auf.
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