Kapitel Drei

2199 Words
Die Dämmerung hatte gerade erst begonnen, sich über New York zu legen, als Sloane Quinn die Augen aufriss. Bis zum Wecker waren es noch Stunden, doch ihr Geist weigerte sich, zurück in den friedlichen Schlaf zu sinken. Das ungewohnte Bett drückte mit fremder Schwere in ihren Rücken, und ihre Gedanken rasten bereits: der erste Tag, das erste Training, Lennox Graves, Marcus, die Tour. Vorsichtig schlüpfte sie unter der Decke hervor und glitt barfuß lautlos über den Holzboden. Einen Moment blieb sie vor dem Fenster stehen. Die Lichter über dem grauenden Horizont schimmerten blass, wie ein angehaltener Atemzug. Sie atmete tief ein, sog den kühlen Stadtmorgen ein. Dann wandte sie sich ab und rollte die Yogamatte aus, die sie am Abend zuvor neben der Matratze vorbereitet hatte. Ihr Körper wusste genau, was zu tun war. Sie begann, sich mit langsamen, konzentrierten Bewegungen zu dehnen. Knöchel, Oberschenkel, Hüften und Rücken folgten einer eingeübten Abfolge. Es war nichts Spektakuläres und nicht besonders anstrengend—aber lebenswichtig. Wenn sie sich morgens nicht lockerte, würde der Schmerz, der in ihrem Körper lebte, sie irgendwann wieder verraten. Und Lennox Graves durfte das nicht sehen. Nicht er. Niemand. Die Bewegungen waren langsam, präzise. Der Muskel oberhalb ihres linken Knöchels dehnte sich immer etwas straffer als der rechte—eine unsichtbare Narbe aus der Vergangenheit. Sloanes Gesicht verriet nichts, doch sie fühlte den Schmerz bei jedem Zug. Sie kannte ihn gut. Er machte ihr keine Angst mehr. Sie hatte gelernt, mit ihm zu leben—leise, stur, ohne dass es jemand bemerkte. Nach fünfzehn Minuten stand sie auf, schüttelte die Arme aus, rieb die Oberschenkel und ging ins Bad. Der nächste Teil ihrer Morgenroutine: die Dusche. Das Bad war elegant und modern—metallische Kanten, Marmorkacheln, ein Duft in der Luft. Sie stellte die Wassertemperatur ein und streifte ihr Pyjamaoberteil ab. Ihr Spiegelbild begegnete ihr: modellierte, definierte Linien, kräftige Bauchmuskeln und eine kaum sichtbare Narbe nahe dem Knöchel. Früher war sie schmaler gewesen. Jetzt sprach jeder Muskel von Kontrolle—und von Kämpfen, die sie geführt und gewonnen hatte. Sie stieg unter die Dusche, und das heiße Wasser begann sofort, die Spannung fortzuspülen. Einen Moment lang schloss sie die Augen, ließ den Dampf ihre Lungen füllen, ließ die Muskeln weich werden. Ihre Haut färbte sich rosig in der Wärme, und Leben kehrte in ihre Züge zurück. Ein Bild von Lennox blitzte auf. Diese eisblauen Augen. Seine Stimme, triefend vor Verachtung: „Ballerina.“ Der Dampf wusch den Stachel seiner Worte nicht fort. Sie waren tiefer gesunken, als sie zugeben wollte. Sloane kniff die Augen fester zu und ließ die Gedanken abgleiten. „Dein Körper ist nicht mehr, was er einmal war—aber er gehört immer noch dir. Jeden Morgen holst du ihn dir zurück.“ Das hatte einer ihrer früheren Trainer nach der Operation gesagt, als sie über Monate hinweg wieder gehen lernen musste. Seitdem war jeder Morgen eine neue Chance gewesen. Ein neuer Kampf. Nicht gegen den Schmerz—sondern gegen die Scham, die mit dem Verlust kam. Das Wasser rann leise über sie. Die Zeit verstrich langsam, doch sie eilte nicht. Das war ihre Zeit—vor Lennox Graves. Bevor sie ihre Abwehr wieder gegen seine Worte und seinen Blick hochziehen musste. Schließlich drehte sie das Wasser ab, stieg aus der Dusche und griff nach einem Handtuch. Mit einer einzigen Bewegung wickelte sie sich ein und warf einen Blick auf ihr beschlagenes Spiegelbild. Heute würde nicht leicht werden. Aber Sloane Quinn wählte nie den leichten Weg. Und wenn Lennox Graves glaubte, er könne sie mit Worten niederreißen—dann hatte er seine Gegnerin falsch eingeschätzt. Der Kampf begann heute. Die roten Ziffern der Digitaluhr sprangen gerade auf sechs, als Lennox die Augen öffnete. Nicht überraschend—er war schon seit einer halben Stunde wach, reglos. Im Bett liegend lauschte er der Stille, die nur von seinem eigenen Atem unterbrochen wurde. Die Nacht pochte noch in seinem Körper. Er hatte auf den Sack eingeschlagen, bis die Haut aufriss. Der Verband an seiner linken Hand pochte leicht, doch er ignorierte es. Er war nicht hier, um verhätschelt zu werden. Zehn Minuten später tigerte er bereits über den Hallenboden, Handschuhe festgezurrt. Er wartete auf niemanden. Tat er nie. Seine Regel: Wenn du etwas willst, erscheine pünktlich. Wenn nicht… bleib mir besser aus dem Weg. 6:58 Uhr. Schritte hallten den Flur entlang. Er drehte sich nicht um. Er trat an den Boxsack und setzte zwei schnelle Treffer mit beiläufiger Präzision, gefolgt von einer Dreierkombination. Seine Schläge waren kontrolliert, exakt—und brodelten vor Wut. Dann kam eine Stimme von hinten. Ruhig. Fest. „Stopp.“ Lennox drehte sich langsam um. Dr. Sloane Quinn stand dort in einem schwarzen Sporttop, eine Arzttasche am Arm, das Tablet in der anderen Hand. „Was hast du gesagt?“, fragte er leise, doch seine Stimme trug bereits diese spöttische Drohung. „Ich sagte, stopp. Du trainierst noch nicht.“ „Ich habe schon angefangen“, knurrte Lennox und ballte die Handschuhe. „Und wenn es dir recht ist, kontrolliere ich meinen Körper—nicht du.“ Sloane trat ruhig einen Schritt näher und antwortete: „Dein Körper ist derzeit übermüdet, dein Glukosespiegel ist zu niedrig, unter deinem Verband ist eine Entzündung, und wenn du den Sack noch zwanzig Minuten weiter bearbeitest, kippst du entweder um oder verletzt dich. Also nein. Kein Ring. Erst Frühstück. Dann Belastung. Das ist keine Debatte.“ Lennox starrte sie einen langen Moment an. Seine eisblauen Augen brannten förmlich, doch er rührte sich nicht. Sie wich nicht zurück. Gab nicht nach. Und das Schlimmste war… sie hatte recht. „Was zur Hölle bist du, meine Mutter?“ „Deine Mutter wusste vermutlich nicht, wie man deinen Blutzucker stabilisiert oder den morgendlichen Cortisolspiegel managt“, erwiderte sie trocken. „Ich schon. Also geh duschen. Ich bin in zwanzig Minuten in der Küche. Haferflocken, Banane, Eier, Protein. Dann kannst du dem Tag noch einmal eine verpassen.“ Lennox grinste—aber nicht freundlich. Eher wie ein Tier, das die Zähne fletscht, bevor es entscheidet, ob es zuspringt. „Und wenn ich nicht auftauche?“ Sloane blieb noch einen Moment reglos stehen, dann klappte sie ihr Tablet langsam zu. „Dann trage ich in meinen Bericht ein, dass der Athlet ärztliche Anweisungen missachtet, seine Gesundheit gefährdet und nicht tourtauglich ist. Dein Vertrag ist eindeutig: Du steigst nur mit medizinischer Freigabe in den Ring. Deine Wahl.“ Das Schweigen war scharf wie eine Klinge. Lennox blickte zurück auf den Sack, der noch sanft von seinen Schlägen pendelte. Seine Hand ballte sich erneut. Dann löste er langsam die Handschuhe, warf sie auf eine Bank und ging Richtung Duschen. „Und die verdammte Banane wird nicht in der Mikrowelle erhitzt“, brummte er über die Schulter. Sloane nickte kaum merklich. Und als er im Flur verschwand, schrieb sie eine neue Zeile in ihre Notizen: „Erster Sieg: keine Schläge, keine Flüche, keine Ohnmacht. Einfach… weggegangen. Das ist etwas.“ Nachdem Lennox im Flur verschwunden war, blieb Sloane reglos in der Mitte der Halle stehen. Die Handschuhe lagen auf der Bank, wo er sie hingeworfen hatte—achtlos und doch mit perfekter Zielgenauigkeit. Jede seiner Bewegungen war ein Kampf. Sogar das Nachgeben. Sie schloss die Hülle des Tablets mit einem Seufzer und machte sich auf den Weg zur Küche. Am Ende des Flurs öffnete eine schmale Tür einen Blick in einen modernen, minimalistischen Raum: Edelstahl, schwarze Arbeitsplatten, Glasregale und ein großer Kühlschrank, in dem die Zutaten in beinahe militärischer Ordnung bereitstanden. Marcus hatte gründliche Arbeit geleistet—diese Küche war nicht für Käsetoast gedacht. Das war ein Treibstofflabor. Sloane band ihr Haar zurück, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel, und legte ohne Zögern los. Ihre Bewegungen verrieten, dass dies nicht das erste Mal war, dass sie für einen Profisportler kochte. Sie holte drei Eier, eine Handvoll frischen Babyspinat, eine halbe Avocado und eine Prise Meersalz. Für den Haferbrei wählte sie Mandelmilch, gab etwas Zimt und fein gehackte Datteln hinzu, rührte dann eine halbe Banane, einen Löffel Erdnussbutter und Chiasamen ein. Alles in exakten Verhältnissen—sie wusste genau, was Lennox’ Körper brauchte, um die Belastung des Vormittags zu überstehen. Für den Smoothie nahm sie eine Handvoll Heidelbeeren, eine Portion Erbsen, griechischen Joghurt und einen Messlöffel Kollagenpulver, alles mit Protein gemixt. Während der Mixer leise summte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Er würde pünktlich sein. Wahrscheinlich zählte er die Zeit sogar während des Trainings im Kopf. Zehn Minuten—maximal. Zwei Scheiben Roggenbrot bräunten im Toaster. Auf die eine kam Avocadocreme, auf die andere ein Klecks eiweißreicher Hüttenkäse mit einer Prise Chiliflocken. Sie richtete alles präzise an—nicht zu viel, nicht zu wenig. Funktional, aber dennoch ansprechend. Als sie das letzte Teilchen platzierte, hörte sie das markante Geräusch der ausgehenden Dusche. Sloane trat zurück und stellte ein Glas Zitronenwasser und einen Kurkuma-Anti-Entzündungs-Shot dazu. Das war kein Frühstück. Das war ein Schlachtplan. Kalibriert, zielgerichtet, eine nährstoffdichte Bombe zur Anhebung des Energielevels. Exakt drei Minuten später betrat Lennox Graves die Küche. Das Haar noch feucht, ein dunkles T-Shirt achtlos übergestreift—und doch sah er aus wie ein Raubtier, das versehentlich in die Zivilisation geraten war. Er blieb im Türrahmen stehen, ließ den Blick über den Tisch gleiten und sah dann zu Sloane. „Was zur Hölle ist das?“ „Frühstück“, erwiderte sie trocken. Lennox ging herüber, schaute auf den Teller, dann auf den Smoothie, dann wieder zu ihr. „Das ist mehr Essen, als ich in einer Woche zu mir nehme.“ „Vielleicht ist das das Problem“, sagte sie ungerührt. „Die Portionen sind exakt auf dein Gewicht und dein Aktivitätsniveau berechnet. Du nimmst nicht zu. Du überlebst.“ Er setzte sich. Nicht höflich. Nicht lässig. Wie ein Mann, der beschlossen hatte, dass dies Krieg sei—den er aber vorerst vertagte. Er griff zuerst zum Haferbrei. Ein Löffel. Dann noch einer. Dann hielt er inne. „Ist das… Dattel?“ Sloane blickte von ihrem Tablet auf, auf dem sie bereits sein Regenerationsprotokoll entwarf. „Ja. Natürlicher Zucker. Schnell verfügbar. Sonst würdest du beim Training kollabieren.“ „Natürlich“, murmelte Lennox. „Natürlicher Zucker. Was kommt als Nächstes—Ashwagandha und eine Yogastunde während meines Kampfes?“ Sloane hob den Blick, unbeirrbar. „Nein. Morgen früh: Glukoseprofil, danach Laktatschwellen-Test. Yoga nur, wenn dein Rücken das Sprinttempo nicht packt. Seien wir ehrlich, Graves… Beweglichkeit war nie deine Stärke.“ Lennox verzog das Gesicht, widersprach aber nicht. Er trank sogar den Smoothie. Beim Kurkuma-Shot hielt er inne. „Was zur Hölle ist das?“ „Entzündungshemmend. Nicht Hölle. Überleben.“ Er starrte sie einen langen Moment an und kippte ihn dann in einem Zug. „Widerlich“, brummte er. „Wirksam“, entgegnete Sloane und machte eine weitere Notiz. Er aß. Er trank. Er stritt nicht weiter. Und er war immer noch hier. Das war der erste Sieg des Tages. Er stellte den Löffel ab, stand aber nicht sofort auf. Er saß einfach da. Still. Die Arme auf den Oberschenkeln, die Brust hob und senkte sich ruhig—als ringe er noch immer mit dem Frühstück, aber nicht mit dem Essen—sondern mit dem, was sein Körper ihm zuflüsterte. Dieses Gefühl war ihm fremd. Seine Muskeln waren nicht schwer vor Erschöpfung. Sein Magen schmerzte nicht vom Kaffee auf nüchternen Magen, und sein Kopf pochte nicht vom ausgelassenen Schlaf zugunsten des Trainings. Jetzt… geschah etwas anderes. Energie pulsierte unter seinen Fingerspitzen. Nicht die übliche nervöse, explosive Spannung—sondern etwas Fokussierteres. Tiefer. Sein Körper… arbeitete. Wirklich. Als würde er zum ersten Mal nicht gegen ihn kämpfen, sondern mit ihm arbeiten. Zuerst glaubte er es nicht. Dann spürte er es in seinen Schritten, als er sich bewegte. Leichter. Das Blut floss schneller, das Herz ruhig—nicht getrieben von Koffein und Zorn. Das war etwas anderes. Effizienz. Disziplinierte Energie. Und es machte ihn wütend. Denn Sloane hatte recht. Sie saß ihm gegenüber, kritzelte Notizen, als sei nichts geschehen. Sie sprach nicht. Sie blickte nicht auf. Doch Lennox wusste, dass sie ihn beobachtete. Selbst wenn ihr Kopf gesenkt blieb, spürte er es—Sloane erfasste jede seiner Reaktionen, kalkulierte, saugte auf. Und das irritierte ihn noch mehr. Er würde es nicht sagen. Niemals. Er würde ihr diese Genugtuung nicht geben. Auch wenn sie es wusste. Auch wenn sie es geplant hatte. Nein. Dankbarkeit gehörte nicht in seinen Wortschatz. Und er war nicht der Mann, der „Danke“ sagte, nur weil jemand wusste, wie man seinen Körper besser funktionieren ließ. Nein. Sein Körper war ein Schlachtfeld. Und heute… schien er bereit. Wortlos stand er auf. Griff nach seinem Handtuch, wischte sich in einer Bewegung den Mundwinkel ab und ließ den Teller, das Glas, den ganzen sorgfältig ausgearbeiteten Kriegsplan zurück. Als wäre es nur ein weiteres Hindernis, das es zu überwinden galt. Er blickte nicht zurück. Sprach nicht. Ging einfach. Sloane sah ihm nach, wie er aus der Küche verschwand, und als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schrieb sie nur eine einzige Zeile in ihr Notizbuch: „Er hat es nicht gesagt. Aber sein Körper hat es bereits. Der Krieg wird nicht mit Worten entschieden—sondern in diesem ersten Gehorsam.“
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