Die Tür öffnete sich lautlos, wie immer. So mühelos, als würde sie zu einer Hotelsuite führen, nicht zu einem Gefängnisraum.
Lucian Thornewell trat ein. In seiner Hand ein schwarzes Tablett – darauf ein abgedeckter Porzellanteller, eine Flasche Mineralwasser, ein Glas, ein kleines Schälchen mit aufgeschnittenem Brot, Butter und einem Apfel. Nichts Besonderes, aber frisch. Warm. Und … menschlich.
Als er die Tür hinter sich schloss, glitt sein Blick sofort zum Tisch. Die Pistole lag immer noch dort. Genau an dem Platz, an dem er sie zurückgelassen hatte.
Unberührt. Auch das war eine Antwort.
Andromeda saß auf der Bettkante, die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Haar klebte feucht an den Schultern, ihr Gesicht war immer noch blass – aber ihre Augen … ihre Augen waren nicht mehr ängstlich. Nicht einmal verzweifelt. Sie waren wütend.
Lucian ging zum Tisch und stellte das Tablett ab. Mit einem Finger schob er die Pistole beiseite, als wäre sie nur ein Bleistift.
„Du hast sie nicht einmal berührt“, stellte er fest, ohne sie anzusehen. Andromeda antwortete nicht.
Schließlich wandte sich Lucian ihr zu und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Die ganze Situation wirkte fast … ruhig. Zwei Menschen an einem Tisch. Einer hungrig. Der andere bewaffnet.
„Interessant“, fuhr Lucian fort, während er den Deckel von der Wasserflasche drehte. „Die meisten hätten sie wenigstens angesehen. Es versucht. Sie genommen. Gewartet, bis jemand wegschaut.“
Andromeda hob langsam eine Augenbraue.
„Wozu? Es wären doch sowieso keine Kugeln drin gewesen, oder?“
Lucians Lippen zuckten.
„Also bist du klug. Das hatte ich im Gefühl.“
Schweigen. Dasselbe bedrückende, elektrische Schweigen.
Lucian lehnte sich zurück. Er sah auf das Tablett, dann wieder zu ihr.
„Das ist ein Angebot. Ein einfacher Deal. Wenn du die Wahrheit sagst – alles, was du über deinen Bruder weißt, sein Geld, die Schulden, wo er ist, seine Pläne –, dann gehört das Tablett dir. Wasser. Essen. Ein weiches Bett. Verständnis.“ Er machte eine Pause. „Wenn nicht … bekommst du es nicht. Weder jetzt noch später.“
Andromeda rührte sich nicht. Ihr Magen knurrte schmerzhaft, als wollte er für sie sprechen, aber sie hielt stand. Dann lachte sie leise, trocken, bitter. Echte Bitterkeit.
„Ernsthaft? Du glaubst wirklich, du kannst mich mit Essen erpressen?“
Lucians Blick verhärtete sich.
„Das ist keine Erpressung. Es ist eine Wahl.“
„Bullshit.“ Andy sprang abrupt auf, der Stuhl quietschte hinter ihr. „Das ist keine Wahl. Das ist ein Machtspiel … und ich bin so verdammt müde davon, dass jeder glaubt, Hunger und Durst würden jemanden zum Reden bringen.“
Lucians Gesicht veränderte sich keine Spur.
„Bei den meisten funktioniert es.“
„Dann hast du es mit vielen Idioten zu tun gehabt.“
Die Luft im Raum schien dicker zu werden. Ihre Stimme war nicht laut, aber jedes Wort scharf wie eine Klinge. Ihre Augen funkelten, ihre Brust hob und senkte sich schnell.
„Weißt du, was dein Problem ist?“ fuhr Andy fort, getragen von der Wut, als könnte sie nicht aufhören. „Du glaubst, die Welt besteht aus Befehlen und Gehorsam. Dass alle auf dieselbe Weise zerbrechen. Dass Information nur eine Frage von Geld oder Drohungen ist.“ Lucian sagte nichts. „Aber so funktionieren Menschen nicht. Und ich schon gar nicht. Wenn du denkst, ich leck dir die Hand für eine warme Mahlzeit … dann hast du die falsche Frau vor dir. Ich bin es nicht.“
Lucian beugte sich vor. In einer fließenden Bewegung griff er nach der Pistole und zog mit einem Klick ein volles Magazin aus seiner Jacke. Langsam – fast theatralisch – lud er die Patronen eine nach der anderen. Eins … zwei … drei … vier. Das Geräusch von Metall hallte in der Stille wider, fast erstickend.
Dann schob er das Magazin hinein, verriegelte es. Die Pistole spannte sich in seiner Hand. Aber er zielte nicht.
Er hob sie nicht einmal. Er legte sie auf den Tisch. Vor sie. Genau wie das Essen.
„Jetzt ist es eine Wahl“, sagte er leise, mit Stahl in der Stimme. „Geladen. Du weißt, was sie kann. Und wenn du glaubst, das sei nur ein psychologisches Spiel … rate ich dir, nicht zu testen, wo die Grenze ist.“
Andromeda zuckte keine Sekunde. Ihre Augen blieben auf seine gerichtet. Ihr Herz schlug bis zum Hals, ihr Magen krampfte – aber ihre Beine zitterten nicht.
„Rate mal“, zischte sie. „Ich würde immer noch lieber verhungern, als mich dir zu unterwerfen.“
Lucians Augen verdunkelten sich um einen Ton. Der Mundwinkel zuckte – aber es war kein Lächeln. Eher etwas Bedrohliches. Gefährliches. Unberechenbares. Er stand auf. Langsam, ruhig, ohne einen Anflug von Zögern. Er steckte die Pistole zurück in den Gürtel. Sah zum Tablett, dann zu Andy.
„Du kannst deine Meinung immer noch ändern“, sagte er schon an der Tür. „Aber nicht lange. Es gibt einen Punkt, an dem selbst ich die Geduld verliere. Und wenn das passiert … gibt es keinen Deal mehr.“
Das Spiel hatte offiziell begonnen.
Lucians Finger trommelten lautlos auf den Rand des Tabletts, als zählten sie die Sekunden, bis er die Kontrolle verlor.
Andromeda schwieg immer noch. Sie saß mit verschränkten Armen da, sah ihn an, als wüsste sie, dass jede ungesprochene Sekunde an ihm nagte.
„Das ist also dein Spiel“, knurrte Lucian schließlich. „Da zu sitzen wie eine stolze Märtyrerin und zu glauben, das bringt dir irgendwas?“
„Ich spiele nicht“, schoss Andromeda zurück. „Du bist derjenige, der Regeln für ein Spiel aufstellt, zu dem ich mich nie angemeldet habe.“
Die Desert Eagle lag auf dem Tisch wie ein dritter Teilnehmer, bereit, jederzeit ins Gespräch zu schneiden.
Lucian riss sie hoch. Das Metall klirrte kalt in seiner Hand, als er sie auf Andromeda richtete – nicht als Warnung. Reflexhaft. Aus Wut.
Sie zuckte nicht.
„Ernsthaft?“ zischte sie. „Das ist jetzt deine Strategie? Wenn Erpressung nicht funktioniert, zielen wir mit der Waffe?“
„Genug!“ bellte Lucian und machte einen Schritt auf sie zu. „Alles ist ein Kampf mit dir, oder? Jedes Wort ein Ziel, jede Grenze eine Tür zum Aufstoßen?“
„Was hast du erwartet? Dass ich still und leise Lebewohl zu meinem Selbstrespekt sage, während du Essen vor mir baumeln lässt, eine Waffe schwingst und mich ansiehst, als wäre ich ein verdammtes Werkzeug?“
Lucian senkte die Waffe langsam, aber seine Stimme schnitt weiter wie ein Messer.
„Du glaubst wirklich, es geht hier um dich? Dass ich es genieße, dass du hier bist? Dass das ein verdrehtes Machtspiel ist?“
„Wenn es das nicht wäre, wäre ich nicht hier.“
Lucian bewegte sich. Schnell. Er war in einem Augenblick vor ihr – so nah, dass sie seine Körperwärme spüren konnte, die simmernde Wut in seiner Haut.
„Dein Bruder hat gelogen. Mich bestohlen. Niemand sucht nach dir. Und du bist diejenige, die sie hergebracht haben. Willst du die Wahrheit? Der einzige Grund, warum du noch atmest, ist, dass ich neugierig bin, was für ein Mensch verschwindet und niemandem etwas bedeutet.“
Das traf. Für einen Moment wirkten die Worte tiefer als jeder Schlag oder jede Kugel.
Aber Andromeda presste die Kiefer zusammen. Ging nicht zurück. Ihre Stimme war scharf, dunkel.
„Dein Problem ist, dass du glaubst, die Welt besteht aus Verrätern und Sündenböcken. Dass, wenn niemand jemanden sucht, er wertlos ist. Aber du weißt keinen verdammten Dreck über mich.“
Lucians Augen flackerten.
„Dann sag etwas. Irgendwas. Überzeuge mich, dich nicht nur als Geisel zu sehen.“
„Und wenn ich rede, was dann? Glaubst du mir dann? Vertraust du mir?“
„Nein.“ Die Antwort kam sofort. „Aber dann weiß ich wenigstens, wo ich anfangen muss, deine Mauern zu brechen.“
In dem Moment stürmte Andromeda vor, ihre Stimme brach fast aus ihr heraus.
„Ich bin nicht dein Experiment! Ich bin kein Rätsel, das du lösen kannst, nur um herauszufinden, wie du es gegen mich einsetzen kannst!“
Lucian grinste. Aber es war keine Freude. Es war das Lächeln, das eine Klinge macht, bevor sie schneidet.
„Oh doch, das bist du.“
Stille. Zu lang. Zu erstickend. Die Desert ruhte immer noch in seiner Hand. Dann … trat Lucian zurück. Aber nicht, als würde er zurückweichen. Eher, als hätte er gerade etwas erkannt.
„Gut“, sagte er langsam. „Dann wisse das … Wenn du jetzt nicht anfängst, über Elliot Carter zu reden, ziele ich das nächste Mal nicht neben deinen Kopf. Ich ziele auf dein Knie.“
Andromeda verengte die Augen.
„Dann ziel besser. Denn wenn du daneben schießt … komme ich für dich.“
Ein Atemzug. Zwei Raubtiere. Ein Raum. Kein Laut. Die Luft war eine gespannte Klinge. Lucian steckte die Desert Eagle langsam weg. Seine Hand blieb angespannt. Seine Augen schlossen sich nicht. Aber jetzt wusste er: Diese Frau würde nicht leicht brechen. Wenn er etwas wollte, müsste er tiefer graben. Klüger. Rücksichtsloser. Oder … gefährlicher.
Er sah auf das Tablett. Dann zurück zu ihr.
„Das Essen bleibt. Aber das war deine einzige Gnade. Morgen reden wir anders.“
Er setzte sich wieder. Lehnte sich zurück. Beobachtete Andy wie eine Herausforderung, die immer interessanter wurde. Und sie starrte zurück. Das Spiel hatte offiziell begonnen. Lucian rührte sich nicht.
Er saß nur da, entspannt im Körper, aber sein Blick … war ein Gefängnis aus Klingen, eines, in das er sie einzusperren versuchte. Die Luft verdichtete sich erneut, wie ein Stromausfall, der jeden Moment explodieren konnte.
Andromeda sprach nicht. Blinzelte nicht. Sie hielt nur seinen Blick, jeder Nerv angestrengt, nicht zu zeigen, wie sehr sich ihr Magen zusammenzog. Das Tablett war immer noch da.
Das Essen roch nicht mehr verlockend. Es roch widerlich. Weil sie wusste, was es kostete. Und was man dafür erwartete.
Lucian bewegte sich plötzlich.
Er stand auf, langsam, aber zielgerichtet. Die Bewegung war nicht laut – aber sie zerbrach die Stille wie ein Schrei. Er umrundete den Tisch und trat vor sie.
Andromeda wollte sich reflexartig zurückziehen – aber es gab keinen Platz. Lucian stand vor ihr, griff plötzlich nach ihrem Kinn. Seine Finger hoben ihr Gesicht, zwangen sie, ihm in die Augen zu sehen.
„Sieh mich an“, zischte er leise, vor unterdrückter Wut. „Sieh, wenn du wirklich keine Angst hast.“
Andromedas Augen weiteten sich – aber nicht vor Angst. Dieses Vergnügen gönnte sie ihm nicht.
Lucian beugte sich vor, sein Blick glitt schnell und scharf über ihr Gesicht. Ihre Haut war blass, ihre Lippen trocken – aber ihre Augen … ihre Augen hielten einen Sturm.
Wut. Unterdrückte Angst. Und etwas anderes … etwas Tieferes, Wilderes, Härteres. Verzweiflung, die sich nicht in Flehen verwandelte – sondern in Widerstand. Lucian sprach einen Moment lang nicht. Er starrte nur. Dies war ein Blick, den er nicht gewohnt war. Kein Betteln. Kein Brechen. Kein Zerfallen.
Es war … Überleben. Und das störte ihn.
Er ließ ihr Kinn los. Packte ihren Arm in einer schnellen, überraschend starken Bewegung und riss sie von der Bettkante hoch.
„Komm“, knurrte er. „Wenn du so stark bist, dann iss auch so.“
Er wartete nicht auf eine Antwort. Zerrte sie zum Tisch, drückte sie in den Stuhl. Der Stuhl knarrte. Das Tablett klapperte. Lucian ging auf die andere Seite und setzte sich langsam, fast provozierend, wieder hin. Die Desert Eagle lag nun vor ihm. Schwarz, glänzend, wie eine verstörende Erinnerung.
Ein paar Sekunden lang starrten sie sich nur an.
Andromedas Lippen waren fest zusammengepresst, ihre Brust hob sich scharf. Lucians Gesicht war kalt, aber hinter seinen Augen – etwas brannte. Etwas, das er nicht zeigen wollte. Dann, immer noch auf Andy blickend, hob er die Desert.
Seine Finger lösten gekonnt die Sicherung. Ein Klicken. Ein metallisches, scharfes Geräusch. Nicht laut – aber lauter als alles in dieser Stille.
Und er legte sie nicht zurück auf den Tisch. Er senkte sie darunter, zielte auf ihr Bein.
Direkt.
„Iss“, sagte er leise. Unerbittlich. Andromeda rührte sich nicht. Lucians Stimme sank tiefer. Dunkler.
„Iss, oder ich schieße dir in dein hübsches kleines Bein. Direkt unter das linke Knie. Nicht tödlich. Aber ich garantiere dir, du wirst nie wieder Absätze tragen.“
Stille. Andromedas Augen funkelten. Ihre Lippen zitterten vor unterdrückter Wut. Ihre Stimme bebte. Nicht vor Angst – sondern vor Zorn.
„Du bist krank“, sagte sie langsam, jedes Wort wie eine Klinge. „Du glaubst wirklich, das lässt mich denken, du hättest die Kontrolle?“
Lucian antwortete nicht sofort. Er starrte sie nur an.
„Nein. Ich denke, du weißt längst, dass ich sie habe.“
Andromeda wandte den Kopf ab – aber nur für eine Sekunde. Dann griff sie nach dem Brot. Nicht sanft. Nicht leise. Als wäre es keine Unterwerfung – sondern eine Kriegserklärung. Ein Bissen. Noch einer. Schließlich trank sie, hielt die Flasche fest, als hielte sie das Gleichgewicht selbst.
Jede Bewegung war langsam. Schmerzhaft. Aber gezielt.
Ihre Wahl.
Lucian zeigte keine Reaktion. Er sah nur zu. Und der einzige Gedanke, der in seinem Kopf hämmerte, war dieser:
Diese Frau wird nicht leicht zu brechen sein. Und genau das machte ihn noch entschlossener, sie zu brechen.