Kapitel eins

1788 Words
Im siebenundzwanzigsten Stockwerk von Carter Enterprises hatte sich die Nacht bereits durch die Fenster geschlichen und den leuchtenden Horizont der Stadt verschlungen. Die meisten Büros lagen im Dunkeln – bis auf eines, aus dem ein schwacher bläulicher Schein drang. Das Licht einer Schreibtischlampe mischte sich mit dem Schein des Bildschirms und erhellte die reglose Gestalt einer Frau, die fast unbeweglich dasaß – und doch vollkommen konzentriert. Andromeda Carter, die einzige Tochter der Carter-Familie und Leiterin der Grafikabteilung des Unternehmens, hatte die Angewohnheit, Überstunden zu machen. Nicht, weil sie es mochte. Sondern weil sie musste. Elijah – ihr älterer Bruder – war vor anderthalb Stunden gegangen, wie üblich mit einem letzten Satz über die Schulter geworfen: „Ich hoffe, die Präsentation ist bis morgen früh fertig.“ Die unausgesprochene Botschaft: Wenn nicht, bist du schuld. Wie immer. Andromeda war daran gewöhnt. Sie war aufgewachsen mit Erwartungen, die sich wie Ketten um sie gelegt hatten. In der Carter-Familie fragte niemand, ob es dir gut ging. Man fragte nur: Bist du nützlich? Ihr langes schwarzes Haar war zu einem straffen Knoten gebunden, um Ablenkungen zu vermeiden. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug mit weißer, makellos gestärkter Bluse – tadellos, elegant, distanziert. Jede ihrer Bewegungen war präzise, selbst jetzt, wo die meisten Menschen zu Hause Wein tranken und ihre Lieblingssendungen schauten. Sie dagegen hockte noch immer über dem Monitor und fügte die letzten Linien zu einem 3D-Konzeptdesign für ein Luxuswagen-Projekt hinzu. Der Computer summte leise, während er das Render verarbeitete, und Andromeda lehnte sich für einen Moment zurück. Ihre Schultern schmerzten, ein dumpfes Pochen ging von ihrem Handgelenk aus. Sie massierte es, knackte die Finger. Nur noch ein paar Minuten, dann wäre es fertig. Dann … bewegte sich etwas. Der Türgriff drehte sich langsam. Ihre Augen ruckten zum verdunkelten Türrahmen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. 22:43 Uhr. „Elijah?“ rief sie unsicher, obwohl sie wusste, dass ihr Bruder nie so spät zurückkehren würde. Das war nicht seine Art. Die Tür öffnete sich. Es war nicht Elijah, der dort stand. Zwei unbekannte Männer glitten lautlos hinein. Der eine groß, breitschultrig, mit Bartstoppeln. Der andere etwas kleiner, aber muskulös, mit einem Tattoo, das sich seinen Hals bis zum Ohr hinauf schlängelte. Ihre dunkle Kleidung verschmolz mit den Schatten, doch Andromeda fiel das schwere Schuhwerk auf, die engen Stoffhandschuhe unter den Lederjacken. „Ist das irgendein kranker Scherz?“ fragte sie kalt, obwohl ihr Instinkt bereits schrie, dass etwas nicht stimmte. Ihre Stimme blieb fest, doch ihr Herz hämmerte. Der größere Mann schloss die Tür hinter ihnen, als gehöre er dorthin. „Andy Carter?“ fragte er. Andromedas Augen verengten sich. „Andromeda Carter. Wer sind Sie und was machen Sie hier?“ Der Tätowierte lächelte. Ein Lächeln, das Menschen instinktiv zurückweichen ließ. „Dein Bruder sagt, so nennen sie dich. Andy.“ Andromeda bewegte sich nicht. Sie starrte sie nur an, ihr Verstand raste. Elliot. Es musste Elliot sein. Der dritte Carter-Bruder. Der, der immer Ärger machte. Der, den sie stets aus der Patsche ziehen musste. Der, der sie nun verraten hatte. „Elliot? Das hat er gesagt?“ Der Bärtige nickte und zog ein zerknittertes Foto aus seiner Jackentasche. Es zeigte Elliot auf einer College-Party, offensichtlich betrunken, mit einem unbekannten Mädchen im Arm. „Dein Bruder hat deinen Namen verkauft. An uns. Er schuldet uns seit Monaten einen Haufen Geld. Aber ich schätze, du weißt bereits … wie loyal deine Familie ist.“ Andromeda griff nach ihrem Handy, doch der Tätowierte war schneller. Er sprang über den Schreibtisch und packte ihr Handgelenk mit einer Kraft, die Knochen zu brechen drohte. „Nein!“ schrie sie, schlug ihm mit der freien Faust ins Gesicht. Der Schlag traf. Der Tätowierte taumelte, doch der andere war schon hinter ihr, packte ihre Schulter und riss sie zurück. Sie stürzte zu Boden, schlug hart mit dem Ellbogen auf, doch sie hörte nicht auf. Sie trat, wand sich, ihre Nägel kratzten über das Gesicht des Bärtigen. „Fahrt zur Hölle! Die Polizei—!“ Ein harter Schlag explodierte auf ihrer Wange. Ihr Kopf schnellte zur Seite, Blut füllte ihren Mund. Für einen Moment wurde alles schwarz. Der Tätowierte knurrte: „Mach’s uns nicht schwerer, Prinzessin. Deine Wahl war das schon lange nicht mehr.“ Der Bärtige zog eine Spritze hervor und stieß sie ihr in den Hals. Andromeda zuckte, wollte schreien – doch ihre Stimme erstarb. Ihr Körper versank in Taubheit, und wie ein Stein, der ins Wasser fällt, glitt sie in die Dunkelheit. ♾️♾️♾️♾️♾️♾️ Als sie wieder zu sich kam, war es zuerst der Klang, der sie erreichte – das gleichmäßige Brummen des Motors, das gedämpfte Dröhnen der Reifen. Dann kam die Kälte. Der Wagenboden war eiskalt an ihrer Haut, ein raues Material schnitt in ihr Handgelenk. Sie öffnete die Augen. Ein schwarzer SUV. Der Kofferraum. Ihre Beine gefesselt, Hände auf dem Rücken gebunden. Direkt neben ihr, auf dem Beifahrersitz, saß der Tätowierte – die Arme verschränkt, als hätte er gerade nur einen langweiligen Auftrag erledigt. Andromeda zuckte, versuchte sofort, ihn zu treten. Ihr Körper war träge, doch sie traf sein Knie. Der Mann knurrte und packte ihr Haar. „Immer noch bissig. Gefällt mir,“ knurrte er. „Aber jetzt reicht’s.“ Ihre Kehle war trocken, doch ihre Stimme funktionierte noch. „Lass mich los, du kranker Bastard! Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst!“ Der Mann erstarrte. Einen Schlag lang Stille, dann lachte er tief. „Oh, doch. Mit einer verwöhnten Prinzessin. Einer Carter. Einer Niemand, die uns jetzt gehört.“ Dann schlug er zu. Der Schlag traf ihre Schläfe mit brutaler Präzision. Sterne explodierten hinter ihren Augen, und die Welt wurde wieder schwarz. ♾️♾️♾️♾️♾️♾️ Der schwarze Wagen raste durch die Nacht. Scheinwerfer flackerten über die Bäume, während die Straße sich ins Unbekannte zog. Das Ziel stand längst fest. Die Passagierin wehrte sich nicht mehr. Sie lag nur da, reglos – wie ein wildes Tier, das in eine Falle geraten war. Doch das Erwachen hatte gerade erst begonnen. Der SUV rollte leise eine Kiesauffahrt hinauf, als fürchte auch er, die gefrorene Stille der Nacht zu stören. Dichte Bäume säumten die Straße zu beiden Seiten, warfen Schatten wie Gitterstäbe. Schwere Wolken verschluckten den Mond, sodass nur die Scheinwerfer den Weg erhellten – bis sie ein finsteres Steingut vor sich enthüllten. Das Anwesen, von dem es hieß, dass Leben und Tod dort mit einem Flüstern entschieden wurden. Vor dem Herrenhaus flackerte eine einzelne Fackel im Wind. Zwei Männer standen an den gewaltigen Eichentüren. Einer trug einen marineblauen Anzug, einen schwarzen Schal um den Hals, die Haltung so scharf wie eine Klinge. Der andere, etwas kleiner, ebenfalls im Anzug, die Augen ständig wachsam. Ihre Stille, ihre Regungslosigkeit – und die Tatsache, dass selbst der Wind sie zu fürchten schien – machten eines deutlich: Dies waren keine gewöhnlichen Männer. Es waren Lucian Thornewell und Tobias, seine rechte Hand. Schatten von Tod und Urteil. Lucian stand unbeweglich, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Seine dunkelbraunen Augen beobachteten. Er blinzelte nicht. Er sprach nicht. Er starrte nur, als wüsste er längst, was nahte. Der SUV verlangsamte, hielt am Fuß der Steinstufen. Der Motor verstummte. Stille senkte sich. Tobias trat vor. „Also haben sie sie gefunden. Ziemlich schnell.“ Lucian reagierte nicht. Sein Blick verengte sich nur leicht. Der Fahrer – der Bärtige – stieg aus. Er ging um das Fahrzeug herum, öffnete die hintere Tür und gab seinem Partner, dem Tätowierten, ein Zeichen. Die beiden tauschten einen Blick, dann gingen sie zum Kofferraum. Sie öffneten ihn. Lucians Kiefer spannte sich – etwas veränderte sich in seinem Gesicht. Ein Schatten von Warnung. Drinnen lag Andromeda reglos. Ihr Gesicht bleich, das Haar zerzaust, getrocknetes Blut an der Schläfe. Seilspuren zeichneten sich in ihre Handgelenke. Sie war nicht sediert. Sie war bewusstlos. Verletzt. Lucian trat vor. Tobias ging mit, doch Lucian hob die Hand. Halt. Seine Stimme war frostig, als er endlich sprach: „Was ist mit ihr passiert?“ Der Tätowierte zuckte beiläufig mit den Schultern, als beschriebe er einen Koffer, den er schwer zu tragen gefunden hatte. „Sie hat gekämpft. Mich sogar gebissen. Das Beruhigungsmittel hat nicht schnell genug gewirkt. Also hat sie einen Schlag abbekommen. Und im Auto noch einen, als sie mir ins Knie trat. Nichts Ernstes.“ Lucian rührte sich nicht. Die Bäume erstarrten, als hielte die Natur selbst den Atem an. Er zog etwas unter seinem Mantel hervor. Eine schlanke, schwarze Pistole. Ohne ein Wort schoss er dem Mann in den Kopf. Der Knall ließ die Erde erzittern. Der Körper sackte nach vorn auf den Kofferraum, rollte dann auf den Kies. Hirnmasse spritzte. Blut sammelte sich. Der andere – der Fahrer – erstarrte. Tobias trat einen Schritt vor, und sofort fiel der Fahrer auf die Knie. „Lucian, bitte… ich hab—ich hab ihm gesagt, er soll sie nicht anfassen… Ich schwöre, ich hab—“ Lucians Blick hob sich, die Pistole noch in der Hand. „Was war mein Befehl?“ „Dass… dass…“ stotterte der Mann. „Sie unversehrt zu bringen.“ „Unversehrt,“ wiederholte Lucian. „Und das? Nennst du das unversehrt?“ Er ging zu Andromeda. Kniete sich hin. Seine Finger strichen sanft über ihr Gesicht, wischten einen Tropfen Blut fort. Einen Moment lang starrte er sie an. Sein Gesicht zuckte. Es war nicht Wut. Es war etwas Tieferes: Verlust der Kontrolle. „Tobias.“ „Ja, Boss.“ „Bring sie weg. Medizinische Untersuchung. Dokumentiere alles – von den Kratzern bis zu ihrem Puls.“ „Verstanden.“ „Und er?“ Lucian blickte auf den knienden Fahrer. Eine Pause. Dann kalt: „Nehmt ihn. Soll er anderswo um Gnade flehen. Von mir bekommt er keine.“ Tobias gab zwei Wachen ein Zeichen. Sie packten den Fahrer. Seine Schreie und Bitten verhallten kurz – wie ein letzter Atemzug. Ein weiterer Mann trat aus dem Herrenhaus mit einer Trage. Einer von Lucians Leuten. Sie hoben Andromeda vorsichtig aus dem Kofferraum. Ihr Kopf hing schlaff, das Haar fiel über ihre Schulter. Ihre Haut war kalt – wie Marmor. Lucian trat zurück. Er sah sie an, doch sein Ausdruck blieb undurchschaubar. „Die Carter-Familie hat ihre Ehre verloren, bevor du überhaupt geboren wurdest,“ sagte er leise. „Und doch … warst du es, die den ersten Schritt auf mich zu gemacht hat. Nicht dein Vater. Nicht dein Bruder. Du.“ Er sagte nichts mehr. Er drehte sich um und ging auf den Eingang des Herrenhauses zu, lange Schritte, der Mantel wehte hinter ihm wie Rauch. Tobias warf noch einen Blick zurück, während Andromeda ins Innere getragen wurde. Dann folgte er seinem Herrn in die Dunkelheit. Die Nacht zog weiter über ihnen, wie ein Leichentuch. Die Tür des Anwesens schloss sich. Und die Welt veränderte sich.
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