Kapitel Vier

2183 Words
Fieber ist der leiseste Killer. Es schleicht sich ein wie Panik, und wenn man es bemerkt, frisst es einen schon von innen auf. Der Körper versucht zu kämpfen, aber jeder Herzschlag fühlt sich wie ein Kampf an – langgezogen, dumpf und gnadenlos. Andromedas Finger krallten sich in die Laken, ihre Augen halb geschlossen, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Ihr Körper zitterte, aber nicht vor Kälte. Die nassen Kleider waren entfernt, sie war in eine trockene Decke gehüllt, doch das Zittern hörte nicht auf. Die plötzliche Abkühlung hatte geholfen, die Spirale einer Panikattacke zu durchbrechen – aber etwas anderes war in ihr zerbrochen. Der Körper war wehrlos geblieben. Und nun tobte der Sturm nicht nur in ihrem Geist, sondern auch in ihrem Blut. „Ihr geht es nicht gut“, sagte die Krankenschwester und schob ein Thermometer unter ihren Arm. „Pupillen erweitert, Atmung unregelmäßig.“ Der Arzt bereitete bereits die Infusion vor. Antibiotika, Flüssigkeit, Steroide. Seine Bewegungen waren schnell, aber nicht hastig – die Hände eines Mannes, der genau wusste, wo der Abgrund ist und wie nah sie ihm waren. „Wir werden sie nicht verlieren“, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. „Aber das hier ist nicht nur körperlich. Ihr zentrales Nervensystem ist überlastet – der Schock, die Enge, der Schlag… alles auf einmal.“ Tobias stand an der Tür, die Arme verschränkt. Sein Blick war auf das Mädchen gerichtet, aber die gewohnte Härte war stumpf geworden. Nach der eiskalten Dusche am Morgen konnte er sie nicht mehr mit denselben Augen ansehen. Das Bild kam immer wieder hoch – dieser Ausdruck, diese rohe Angst, die niemand vortäuschen oder antrainieren konnte. Das Thermometer piepte. „Vierzig Grad. Und steigend.“ Die Frau wimmerte. Ihre Stimme war schwach, wie Wind, der durch ein verlassenes Haus streicht. Sie schob die Decke weg, zog sie wieder über sich. Ihr Körper konnte sich nicht entscheiden, ob er fror oder brannte. Dann kam der erste Fiebertraum. Die Bilder flackerten. Es war, als wäre Andromeda zwischen zwei Welten gefangen. Zuerst sah sie ihr Büro. Den Bildschirm, die Zeichnungen. Elijahs Stimme: „Wenn du das vermasselst, verlieren wir alles.“ Dann sprang die Tür wieder auf. Die zwei Männer. Die Hand, die sie packte. Der Schmerz. Dann… war sie zu Hause. Elliot weinte. Sie beschützte ihn, wie damals als Kinder. „Tu meinem Bruder nichts!“ schrie sie, aber niemand hörte es. Die Szenen verschwammen ineinander. Als stünde derselbe Schatten in jedem Hintergrund. Derselbe Mann. Dunkler Anzug, dunklere Augen. Lucian Thornewell. Der Mann, der schwieg, während sie weinte. Der nur zusah. Und es geschehen ließ. Der Arzt arbeitete ruhig, aber entschlossen. Sie tupften sie wieder mit feuchten Tüchern ab, überprüften Blutdruck und Sauerstoffwerte. Aber nichts änderte sich. Und dann… öffnete sich die Tür. Lucian trat ein. Der Arzt hielt nicht inne, nickte nur. Tobias trat zurück, aber ihre Blicke trafen sich. Lucian ließ seinen Blick langsam durch den Raum wandern, dann blieb er bei Andromeda stehen. Sie reagierte nicht auf seine Präsenz. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Stirn noch immer von Schweiß bedeckt. Die Infusion tropfte wie ein Metronom, ungeduldig die Zeit messend. „Was passiert hier?“ fragte Lucian leise, aber seine Stimme vibrierte vor kalter Spannung. „Ihr Körper hat reagiert. Schlimm. Das Trauma, die Abkühlung, das Fieber. Sie halluziniert jetzt, aber sie ist nicht im Koma“, antwortete der Arzt. „Solche extremen Reaktionen sind nach einer Panikattacke nicht ungewöhnlich. Aber sie wurde rechtzeitig behandelt.“ Die zwanzigminütige kalte Dusche hatte das Fieber ausgelöst. Aber sie lebte. Lucians Blick glitt über den Körper unter der Decke. Seine Augenbraue zuckte, kaum merklich. „Der Keller… ist nicht für Frauen geeignet“, sagte er trocken. Tobias schwieg. Lucian ging durch den Raum, blieb an der anderen Seite stehen und starrte an die Wand, als würde er dort seine Gedanken ordnen. Dann sprach er ohne Zögern scharf: „Das dritte Gästezimmer. Das in der Ecke. Das ist jetzt ihre Zelle.“ Tobias zog eine Augenbraue hoch. „Fenster?“ „Gitter davor. Licht bleibt. Wand verkabeln, Kamera in die Decke. In einer Stunde ist es fertig und sie wird dorthin verlegt.“ „Und die Möbel?“ Lucian blickte auf das Mädchen. „Ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch. Kein Luxus. Aber es soll nicht wie ein Gefängnis aussehen.“ Tobias nickte. „Verstanden. Ich brauche eine Stunde.“ „Du hast fünfzig Minuten.“ Lucian sah sie ein letztes Mal an. In seinen Augen war kein Urteil. Nur etwas Hartes, Verschlossenes. Und doch… seine Lippen spannten sich leicht. Dann ging er hinaus. Und Andromeda, an der Schwelle des Bewusstseins, fiel in einen weiteren Traum. Aber zum ersten Mal… war Licht darin. ♾️♾️♾️♾️♾️♾️ Exakt fünfzig Minuten waren vergangen. Nicht mehr, nicht weniger. Das dritte Gästezimmer des Anwesens – einst ein warmer, mit Mahagoni verkleideter Rückzugsort – war zu einem sterilen, stillen Gefängnis geworden. Hinter den schweren Vorhängen vergitterte Fenster. Aber das Licht blieb. Eine fast unsichtbare Kamera war in der Decke eingebaut, Sicherheitskabel zogen sich durch die Wände, die Einrichtung auf das Minimum reduziert: ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch. Der Teppich war entfernt. Jeder Schritt hallte über den kahlen Boden. Andromeda lag in der Mitte des Zimmers. Ihr Körper war von einer weichen Decke bedeckt, nasses Haar klebte am Kissen. Die Ärzte hatten die Basisbehandlung abgeschlossen. Das Fieber war leicht gesunken, aber immer noch gefährlich hoch. Der Infusionsständer stand ruhig neben ihr und tropfte Leben in ihren Arm. Sie war nicht aufgewacht. Lucian Thornewell stand hinter der Tür, im angrenzenden Arbeitszimmer. Die Luft war abgestanden, der Kamin kalt, aber er bewegte sich nicht. Tobias stand neben ihm, angespannt, eine Mappe mit den medizinischen Berichten des Mädchens in der Hand. Der Text war klar, knapp, klinisch. Aber nichts darin hatte Lucian nicht schon mit eigenen Augen gesehen. „Das war nicht der Plan“, sagte Tobias schließlich und durchbrach das Schweigen. Seine Stimme war nicht mehr defensiv – der Sarkasmus von vorher war verschwunden. Lucian lehnte an der Wand, die Arme über der Brust verschränkt. Das dunkle Hemd spannte sich über seinem Körper, sein Blick ins Leere gerichtet. „Ich wollte ein Carter-Kind. Jemand Gefährliches. Jemand, den wir einschüchtern konnten. Dann… würden wir verhandeln.“ „Stattdessen hast du eine gebrochene Frau, die in engen Räumen Panik bekommt“, neigte Tobias den Kopf. „Klingt nicht nach einem fairen Tausch.“ Lucian drehte langsam den Kopf. „Sie ist nicht zerbrechlich“, sagte er leise. „Nicht so. Was du siehst, ist keine Schwäche. Der Körper… ja, er ist instabil. Aber der Wille – den kann man ihr nicht einfach nehmen.“ „Wille?“ Tobias hob eine Augenbraue. „Vor zwei Stunden lag sie fast ohne Atem am Boden. Jetzt liegt sie halb bewusstlos in einem verschlossenen Gästezimmer. Jeder Arzt würde sagen, das ist kein Widerstand. Das ist Trauma.“ Lucians Augen blitzten. „Nein. Das ist etwas Tieferes. Ihr Vater, ihre Brüder, die Geschäftswelt, in der sie aufgewachsen ist… sie kommt aus einer Umgebung, in der eine Frau perfekt sein muss, während niemand zuhört, wenn sie um Hilfe schreit. Das ist nichts Neues für sie. Das… ist ihr vertraut.“ Tobias zuckte mit den Schultern. „Und was macht das für einen Unterschied? Im Moment ist sie nutzlos. Ihr Bruder ist verschwunden. Kein Deal, keine Informationen, kein Druckmittel. Sie leidet einfach nur. Und du… du siehst zu. Tust nichts.“ Lucian antwortete nicht sofort. Doch dann, als hätte ein neues Geräusch ihren Austausch durchbrochen, hallte ein leises Stöhnen durch die Wand. Verzerrt, aber scharf genug. Andromeda schlief nicht. Lucian bewegte sich in einer einzigen Bewegung zur Tür, Tobias dicht hinter ihm. Die Tür knarrte, Licht fiel in den Raum. Der Anblick war nicht neu – aber er fühlte sich anders an. Der Körper des Mädchens zuckte, ihr Gesicht fiebrig gerötet. Schweiß glänzte wieder auf ihrer Stirn. Das Wimmern entkam ihren Lippen wie ein in einem Traum gefangener Schrei. Ihre Hände waren fest an die Brust gepresst, die Beine in einem Krampf angezogen. Der Körper reagierte mit kleinen Zuckungen auf irgendeinen inneren Sturm. „Ich kann nicht atmen…“ murmelte sie, nicht ganz wach. „Nicht… nicht einschließen… bitte… Ellie…“ Lucian bewegte sich nicht. Er hatte ihre Stimme noch nie so gehört. Nicht kalt, nicht trotzig. Nur reine Angst. Die Infusionsleitung spannte sich, als ihr Arm sich bewegte. Das Gerät piepte. Tobias trat vor und justierte die Nadel. Eine Krankenschwester erschien lautlos im Hintergrund. „Das sind Fieberträume. Aber sehr intensiv. Sie weiß nicht, wo sie ist – ihre Erinnerungen verzerren sich.“ Lucian beugte sich an den Rand ihres Bettes. Er kam nah – aber berührte sie nicht. Er sah nur zu, wie ihre Wimpern flatterten, wie ihre Lippen ohne Laut Worte formten. „Tobias.“ „Ja?“ „Überwache alles intensiver. Jedes Geräusch, jede Bewegung, Schlafmuster, Körpertemperatur. Jede Minute protokollieren.“ Tobias nickte, während die Krankenschwester ein neues Thermometer unter ihren Arm schob. Lucian sah weiter zu. Er fragte nichts. Gab keine Befehle. Stand einfach da – wie jemand, der einen Menschen ansieht, den er verstehen sollte… aber noch nicht versteht. Dann sprach er. „Wenn sie aufwacht… sag ihr nichts über mich. Vorerst nur… beobachten. Und warten.“ Dann verließ er den Raum leise. Aber sein Blick blieb zurück. Wie ein Schatten, der nie schläft. Lucian Thornewell schloss die Tür hinter sich, ohne ein Geräusch. Das Wimmern der Frau, die Fieberschübe hallten noch in seinen Ohren, aber seine Schritte waren jetzt fest, seine Haltung wieder hart und gefasst. Er kehrte ins Arbeitszimmer zurück. Der einzige Raum im Anwesen ohne Kamera. Hier dachte er. Hier plante er. Hier zog er die Linien in den Leben anderer. Über den Schreibtisch gebeugt, tippte er in schnellen, mechanischen Bewegungen. Seine Finger flogen über die Tastatur, öffneten sein privates Nachrichtennetzwerk – eine geschlossene Datenbank, mehr wert als jedes offizielle Register. Andromeda Carter. Der Name pulsierte kalt auf dem Bildschirm. Klick. Nichts. Zumindest nichts Substanzielles. Ein Firmeneintrag: Carter Technologies – Aktionäre. Die Zwillinge: Elijah und Elliot. Mutter verstorben, Vater zurückgezogen auf einem Landsitz. Aber Andromeda… war nur ein Name in der Struktur. Kein Foto. Keine Presse. Keine Veranstaltungen. Nicht einmal ein LinkedIn-Profil. Als würde sie absichtlich im Hintergrund bleiben. Lucian runzelte die Stirn. Er tauchte tiefer in Systeme ab – solche, die schon in der Grauzone lagen. Reisedokumente, Banktransaktionen, private Korrespondenz. Elijah – der perfekte Erbe. Elliot – leichtsinnig, unter Druck. Aber Andromeda? Sie existierte fast nicht. Ihre Bankaktivität war minimal. Barzahlungen, anonyme Karten. Sogar ihre Adresse war verschleiert – ein Innenstadtstudio, über eine separate Firma gemietet. Keine sozialen Medien, keine Nachrichten, keine Bilder. Lucian lehnte sich zurück. Sein Blick blieb auf dem Bildschirm, aber sein Geist war weiter voraus. Etwas stimmte nicht. Eine Frau, die in so einem Umfeld aufwächst, in diesen Kreisen, kann nicht so unsichtbar sein. Oder… sie wählt es. Er öffnete ein neues Fenster und tippte: Andromeda Carter – akademisch, Patent, Ingenieurwesen. Endlich etwas. Ein paar technische Arbeiten, Prototypen, Industriedesigns. Eine Handvoll Studien, alle mitverfasst. Nie die Hauptautorin. Aber ihr Name war da – in kleinen Buchstaben, im Hintergrund. Wie eine Signatur. Wie jemand, der arbeitet, aber nie Anerkennung verlangt. Lucians Lippen spannten sich. Er wandte sich vom Bildschirm ab und drückte den Interkomknopf. „Tobias. In mein Büro. Sofort.“ Ein paar Minuten später trat Tobias ein. Sein Gesicht wirkte müde, sein Hemd zerknittert, aber seine Augen waren noch scharf. „Und? Was hast du gefunden?“ fragte er, ohne sich die Mühe zu machen, sich zu setzen. Lucian drehte sich langsam zu ihm. „Nichts“, sagte er. „Und das ist das Problem.“ „Nichts?“ „Es gibt nichts über sie. Keine Fotos, keine Interviews, kein öffentliches Leben. Sie geht nicht aus, nimmt an keinen Veranstaltungen teil. Sie mischt sich nicht in die Unternehmensstrategie ein. Ihre Spuren existieren nur beruflich. Es ist, als würde sie sich absichtlich… vor der Welt verstecken.“ Tobias zuckte mit den Schultern. „Und warum ist das ein Problem?“ Lucian stand auf. „Weil Elliot sich dann nicht kümmert. Wenn die Welt nicht weiß, dass sie wichtig ist… steht niemand unter Druck. Elliot sucht nicht. Handelt nicht. Bettelt nicht.“ Tobias schwieg einen Moment. „Du meinst… er ist vielleicht gar nicht in Kontakt mit ihr? Oder es ist ihm egal?“ Lucians Blick verhärtete sich. „Ich sage, wir haben vielleicht die falsche Person genommen.“ Tobias war ehrlich überrascht. Das war nicht typisch Lucian. Nicht der Zweifel. Nicht die Selbstreflexion. „Heißt das…?“ „Es heißt nichts. Noch nicht.“ Lucian setzte sich wieder, sah aber nicht auf den Bildschirm. „Nur, dass wir unsere Werkzeuge überdenken müssen.“ Tobias nickte langsam. „Und was ist mit ihr? Sie liegt da, halb bewusstlos, in einem verstärkten Raum. Was sagen wir ihr, wenn sie aufwacht?“ Lucian schwieg lange. Dann sagte er leise: „Beobachte weiter. Aber jetzt nicht, um sie zu brechen. Um zu verstehen, was diese Frau so gut versteckt.“ Denn jeder, der sich so gut vor der Welt verbergen kann… weiß etwas sehr, sehr gut.
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