Kapitel 2
Der Abend zieht sich, und ich merke, wie die Uhr tickt. Es ist spät, aber Caleb ist immer noch da, immer noch in der Nähe. Seine Präsenz drückt schwer auf mich. Die Gespräche um den Tisch sind fröhlich und locker, doch mein Kopf ist weit entfernt. Ich beobachte ihn unauffällig, während er mit meiner Mutter und seiner Familie spricht. Ich kann mich nicht von ihm abwenden, auch wenn ich es mir immer wieder sage.
Die Lichter des Weihnachtsbaums flackern sanft, werfen tanzende Schatten an die Wand. Ich sitze auf einem der Stühle, das Glas Wein in meiner Hand, aber der Geschmack von Trauben und Alkohol kommt mir seltsam bitter vor. Ich kann mich nicht entspannen. Es fühlt sich an, als ob die Luft zwischen Caleb und mir brennt.
„Isabella, warum isst du nicht mehr?“, fragt meine Mutter plötzlich. Sie sieht mich mit einer besorgten Miene an, ihre Stirn leicht gerunzelt. „Du hast doch noch gar nichts vom Nachtisch probiert.“
Ich zucke mit den Schultern, während ich versuche, mich aus meinen Gedanken zu reißen. „Ich bin einfach nicht so hungrig“, antworte ich, obwohl ich weiß, dass das eine Lüge ist. Der Bauch in mir ist ein knurrender Abgrund, aber es ist nicht der Hunger, der mich quält.
„Du solltest dich nicht zu sehr gehen lassen, mein Schatz“, sagt sie, doch ihre Worte klingen eher wie eine Besorgnis, als ein Vorwurf.
„Ich weiß“, murmle ich, ohne ihr in die Augen zu schauen.
Es ist schwer, sich zu konzentrieren, wenn Caleb in meiner Nähe ist. Seine Stimme hallt immer noch in meinem Kopf nach, der Klang seiner Worte von früher, die Art, wie er mich abgewiesen hat. Wie er einfach die Tür zugeschlagen hat, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken. Aber das war damals, und das ist jetzt.
Ich setze das Glas ab und stehe auf. „Ich werde nach draußen gehen, kurz frische Luft schnappen“, sage ich, ohne wirklich darüber nachzudenken.
„Alles in Ordnung, Isabella?“, fragt meine Mutter mit besorgtem Blick, doch ich nicke nur. „Ja, alles gut.“
Ich ziehe meine Jacke an und gehe zur Tür, ohne noch einmal zurückzublicken. Der kalte Luftzug schlägt mir entgegen, als ich den Flur betrete. Es fühlt sich an, als ob ich den Raum hinter mir, diesen ganzen Abend, einfach abschütteln muss. Draußen ist der Schnee jetzt dichter geworden, und die Welt um mich herum ist in ein weißes, sanftes Licht gehüllt. Der Klang meiner Schritte im Schnee ist das Einzige, was den stillen Winterabend durchbricht.
Ich atme tief durch, der kalte Luftzug brennt in meiner Lunge, aber es fühlt sich irgendwie rein an. Der Schnee unter meinen Füßen knirscht, als ich weitergehe. Ich brauche Abstand, brauche Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Doch ich weiß, dass ich nicht einfach davonlaufen kann. Caleb wird immer ein Teil meines Lebens bleiben, genauso wie er Teil meiner Vergangenheit ist.
„Isabella?“
Der Ruf meines Namens lässt mich zusammenzucken. Ich drehe mich langsam um. Da steht er, Caleb. Wie aus dem Nichts ist er hinter mir aufgetaucht, genau wie immer, wenn ich dachte, dass ich einen Moment für mich hätte. Er hat sich seine Jacke übergeworfen, der dunkle Stoff hebt sich von dem weißen Schnee ab. Er sieht mich mit diesem Blick an – ernst, nachdenklich. Es ist ein Blick, den ich nie vergessen habe, auch wenn ich ihn immer wieder zu ignorieren versuche.
„Was machst du hier draußen? Es ist kalt“, sagt er, während er langsam auf mich zukommt.
„Ich wollte einfach mal kurz raus. Brauche einen Moment für mich“, antworte ich, während ich mich bemühe, ruhig zu bleiben.
Er bleibt stehen, nur wenige Schritte entfernt. „Das verstehe ich. Aber… was ist los?“
Seine Frage trifft mich unerwartet. Ich habe nicht wirklich erwartet, dass er sich darum kümmert, was in mir vorgeht. Doch da ist dieses Band zwischen uns, das immer noch da ist – auch wenn es von einer Distanz umhüllt ist, die ich nie ganz verstehen konnte.
„Nichts ist los“, sage ich, ohne wirklich zu wissen, ob das die Wahrheit ist. Es fühlt sich an, als würde ich meine Gedanken in einen Sack voller Sand stecken und sie tief vergraben. „Ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich.“
„Und du denkst, dass du diese Zeit findest, indem du einfach hier draußen stehst und den Schnee anschaust?“, fragt er, seine Stimme ist ruhig, fast zu ruhig.
Ich drehe mich von ihm weg, um nicht in seine Augen sehen zu müssen. „Ich brauche keine Ratschläge von dir, Caleb“, sage ich scharf, obwohl ich selbst weiß, dass es nicht die Antwort ist, die ich ihm eigentlich geben wollte. Es ist die Wut, die in mir brodelt, die sich ihren Weg bahnt.
„Es tut mir leid, Isabella“, sagt er nach einer langen Pause, seine Stimme klingt plötzlich weich, so, als würde er sich wirklich bemühen, mich zu verstehen. „Ich… Ich wollte nicht, dass du dich so fühlst.“
„Es ist zu spät, Caleb“, entgegne ich, ohne mich umzudrehen. „Es ist alles viel zu spät.“
„Ich weiß“, murmelt er. „Aber ich…“
„Lass es einfach“, sage ich, meine Stimme bricht für einen Moment, und ich wische schnell über meine Augen. „Es gibt nichts mehr zu sagen.“
Stille breitet sich aus zwischen uns. Der Schnee fällt leise, umhüllt uns mit einer Art friedlicher Ruhe, die nicht zu der Anspannung passt, die zwischen uns herrscht. Ich will ihm keine weitere Chance geben, möchte nicht, dass er mir wieder die Hoffnung gibt, die ich damals in ihn gesetzt habe. Aber hier sind wir, und ich weiß nicht, was ich tun soll.
„Du solltest wieder reingehen“, sagt Caleb schließlich. „Es ist wirklich zu kalt, und deine Mutter wird sich sorgen.“
„Ja, du hast recht“, murmle ich. Aber anstatt zu gehen, bleibe ich einfach noch einen Moment stehen. Ich kann die Wärme des Hauses durch die Tür spüren, die mich wieder in die Welt der Erwartungen zurückzieht. Doch ein Teil von mir will noch immer hier draußen bleiben, will den Moment für sich selbst haben.
„Glaubst du, wir können irgendwann wieder normal miteinander umgehen?“, fragt Caleb leise. Es klingt fast wie ein Flüstern, als ob er sich nicht sicher ist, ob er diese Frage wirklich stellen sollte.
„Vielleicht“, sage ich, obwohl ich nicht daran glaube. „Vielleicht irgendwann, aber nicht heute.“
Ich drehe mich um und gehe zurück zur Tür, aber nicht, ohne einen letzten Blick auf Caleb zu werfen. Er steht immer noch da, in der Kälte, wie ein Schatten, der sich nicht so leicht vertreiben lässt. Und obwohl ich weiß, dass ich ihn hinter mir lassen muss, weiß ich auch, dass ich ihn niemals ganz loslassen werde.
Als ich die Tür hinter mir schließe, höre ich das leise Klicken und den beruhigenden Klang der Wärme, die mich empfängt. Aber mein Herz bleibt draußen, im Schnee, bei Caleb, in der Frage, die zwischen uns steht: Wird es irgendwann wieder eine Chance für uns geben? Und wenn ja, was passiert, wenn ich sie nicht ergreife?
Die Antwort bleibt unklar, aber die Nacht ist noch jung, und der Winter hat gerade erst begonnen.