Kapitel 1

1229 Words
Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter immer Geschichten. Damals habe ich mir nie viel dabei gedacht. Ich dachte, es wären einfach nur...Geschichten. Als ich aufwuchs, wurde mir schnell klar, dass es sich nicht um hochtrabende Fantasien und Märchen handelte, sondern um Erinnerungen an ihre Vergangenheit, Erinnerungen an unsere Vorfahren, bevor unsere Welt den Bach runterging. Sehen Sie, was aus einer Legende entsteht, egal wie übertrieben die Geschichte wird, es gibt immer einen Funken Wahrheit. Man muss nur die Fiktion von der Tatsache trennen. Meine Großmutter erzählte mir immer Geschichten von der Auserwählten – derjenigen, die uns alle retten würde. Als ich jünger war, glaubte ich, dass das, was sie sagte, wahr war. Dass irgendwann jemand geboren werden würde, genau wie das Orakel es vorhergesagt hatte – jemand, der unsere Seelen retten und uns wieder mit unserer Magie verbinden könnte. Als ich erwachsen wurde und sah, wie sich die Welt um mich herum entfaltete, glaubte ich nicht mehr an die Erlösung. Der Auserwählte schien mehr ein Gebet als Realität zu sein. Ein Traum, den wir unbedingt wahr werden lassen wollten. Etwas, wofür wir alle gebetet haben. Etwas, in dem wir Hoffnung finden mussten, wenn es keine mehr gab. Wie sollten wir an diese sogenannte Erlösung glauben, wenn unsere Vorfahren uns den Rücken kehrten? Vor allem, wenn wir seit dem großen Krieg nur Tod und Gemetzel erlebt haben. Nichts als Schmerz und Armut. Ich glaubte an die Geschichten, betete für den geheimnisvollen Auserwählten, der unsere Welt vom Bösen befreien würde. Jetzt sehe ich es jedoch als das, was es wirklich ist, nur ein Traum der Hoffnung. Ein unerreichbares Märchen. Eine Geschichte, um Hoffnung zu schaffen. Hoffnung ist gefährlich; sie lässt einen glauben, dass alles besser wird. Ich hörte auf, an der Hoffnung festzuhalten, als ich aus erster Hand miterlebte, dass sie nichts als Herzschmerz verursachte. Als der Aufstand vor zwölf Jahren stattfand, kämpften alle Fae-Kreaturen an der Seite der Elfen und Engel, um die Fehler unserer Vorfahren aus dem großen Krieg wiedergutzumachen und das Gleichgewicht wiederherzustellen, so wie es sein sollte. Meine Eltern gehörten zu denen, die tapfer kämpften. Ich war damals neun Jahre alt. Meine Großmutter versteckte mich im Bunker unter unserem Haus und versprach, auf mich aufzupassen, falls sie nicht zurückkehren würden. Als wir wieder nach oben kamen, hatte sich die Welt verändert, und auch mein Leben. Meine Eltern waren tot. Nicht eine einzige Person, die im Krieg gekämpft hatte, überlebte. Keine Elfen, keine Feen, keine Engel. Sogar die Menschen waren größtenteils ausgelöscht, einschließlich des Orakels. Ihr Tod war der größte Schlag, denn damit verloren wir nicht nur Leben, sondern auch unsere Magie. Ich gehörte zu einer aussterbenden Art. Es gab kaum noch Fae. Einige versteckten sich, aber wir versuchten unser Bestes, um im Schatten zu bleiben und unbemerkt zu bleiben. Ich hatte außer meiner Großmutter noch nie einen anderen Fae getroffen, aber ich weigerte mich zu glauben, dass wir die Einzigen waren, die noch übrig waren. Wir standen jetzt am Ende der Nahrungskette, direkt neben den Menschen. Beherrscht vom Drachenreich. Das Drachenreich war anders als alle anderen zuvor, und die Herrscher waren gnadenlos und grausam. Niemand durfte ohne ihre Erlaubnis hinein oder hinaus. Ich habe die Stadt nie verlassen, gezwungen, mich unter denen zu verstecken, die hier leben, in der Hoffnung, dass wir unbemerkt bleiben. Denn ein Fae zu sein, war ein Todesurteil. Wenn man erwischt und entdeckt wurde, betete man, dass der Tod schnell eintreten würde und nicht der qualvolle Tod, den so viele während des Aufstands erleiden mussten. An der Spitze der Nahrungskette standen die Drachen, dann die Lykaner und Vampire. Wir standen an nächster Stelle vor den Elfen und Feen, dann den Meerjungfrauen. Ganz unten standen die Menschen. Jetzt standen wir direkt neben ihnen, die Aasfresser der Welt, die sich nahmen, was übrig war, nachdem der Rest weggeworfen hatte, was er nicht wollte. Fae ohne Magie hätten genauso gut Menschen sein können. Wir sehen aus wie Menschen, abgesehen von unseren Augen, die jeweils einzigartig für unsere Blutlinie sind. Meine hatten die Farbe von Amethyst, wie die Blutlinie meiner Mutter. Meine Blutlinie war so gut wie ausgelöscht. Wir gehörten früher zu einer der größten Fae-Familien und halfen, unter unseresgleichen zu herrschen. Meine Blutlinie war königlich, jetzt ist sie verschwunden, genau wie unsere Vorfahren, und nur ich und meine Großmutter sind übrig. Meine Großmutter sagte, dass unsere Blutlinie einst zu den königlichen Fae gehörte und dass unsere Vorfahren Großes vollbracht haben. Jetzt war ich die Letzte unserer Blutlinie und möglicherweise die vorletzte Fae. Wenn ich einmal gehe, war es das. Das Überleben meiner Blutlinie ruht ganz auf meinen Schultern. Ja, die Zukunft sah nicht gut aus für meine Familie, die bald ausgelöscht sein würde. Mein einundzwanzigster Geburtstag stand bevor. Ich hatte diesen Tag gefürchtet, solange ich mich erinnern konnte, den Tag, an dem sie mich jagen und zum Schloss schleppen würden. Es gab nicht viele Arbeitsmöglichkeiten für Fae, genau wie für die Menschen. Fae waren nur noch eine ferne Erinnerung, an deren Existenz die Menschen nicht glauben wollen. Deshalb tarnen wir uns, indem wir uns unter die Menschen mischen. Die meisten Menschen wurden in die Sexindustrie oder in die Sklaverei verkauft, es sei denn, man wurde erwischt und als Fae enttarnt. Dann hatte man sich nur das Recht verdient, für die Sünden seiner Vorfahren einen qualvollen Tod zu sterben. Deshalb gibt es keine Fae mehr. Deshalb halten sich meine Großmutter und ich in den Schatten auf und mischen uns unter die Menschen, damit wir unbemerkt bleiben. Der einundzwanzigste Geburtstag war ein bedeutender Tag für die Fae-Kreaturen. An diesem Tag soll sich unsere Magie manifestieren. Seit dem Aufstand wurden keine Fae mehr gefunden, zumindest nicht, dass ich wüsste. Man glaubt, dass wir den Krieg verloren haben, dass das Orakel die Schicksale erzürnte und sie die Fae meiden und uns unsere Magie nehmen. Die Vorfahren haben uns allen den Rücken gekehrt. Meine Großmutter sagte mir, dass sie damit versuchen wollten, das Aussterben unserer Art zu verhindern, aber ich glaube, dass sie uns alle einfach aufgegeben haben. In den Schatten verbannt zu sein, war wahrscheinlich das Beste, auch wenn es eine hoffnungslose Existenz war. Machtlos zu bleiben bedeutete, dass unsere wahren Fähigkeiten nicht von den bösen Mächten, die jetzt unsere Welt plagten, aufgegeben werden konnten. Heutzutage rufen die Drachen und Vampire alle Menschen an ihrem Geburtstag zusammen. Die Menschen stellten sich in einer Reihe auf und standen vor den Herrschern, die letztendlich über ihr Schicksal entschieden. Wenn man irgendwelche magischen Fähigkeiten zeigte, töteten sie einen sofort, egal ob man ein Fae war oder nicht. Und wenn sie sich nicht sicher waren? Nun, dann starb man trotzdem. Meine Großmutter sagte, dass dies gegen alles verstieß, woran sie glaubte. Magie sei heilig und etwas, das gefeiert werden sollte, und nicht etwas, für das man zum Tode verurteilt wird. In einer Woche würden sie mich rufen. Meine Großmutter und ich blieben versteckt, in der Hoffnung, dass ich unbemerkt bleiben würde. Meine Großmutter weigerte sich strikt, sie mich finden zu lassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich an den Meistbietenden verkauft werden würde. Doch tief im Inneren wusste ich, dass sie machtlos war, sie aufzuhalten. Sicher, sie hatte Macht, sie war die einzige Fae auf der Erde, durch deren Adern noch uralte Magie floss. Die Magie, die uns am Leben erhalten hatte. Doch ihre Magie schwand langsam. Sie würde irgendwann erlöschen. Dann würden wir wirklich unserem Untergang ins Auge sehen.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD