Aeris
Der Winter hüllt die Ländereien von Vaelhen in einen weißen Leichentuch, erstickt die Geräusche und erstarrt die Welt in einer drückenden Stille. Der Schnee knirscht unter meinen Schritten, während die kalte Luft sich unter meinem abgetragenen Umhang einnistet und meine Haut beißt. Doch es ist nicht die Kälte, die meine Hände zum Zittern bringt. Auch nicht der Biss des Windes, der mir Gänsehaut verleiht. Es ist das Warten. Die Angst, die in mir wie ein langsames Gift serpentiert.
Das Dorf ist von einem funebren Schweigen erfüllt. Zu ruhig. Gewöhnlich hört man selbst im Winter das Geräusch von Holz, das man spaltet, die Lachen der Kinder, das Murmeln von Gesprächen, die aus den Hütten entweichen. Aber heute Abend gibt es nichts. Nur eine Totenstille. Als ob alle den Atem anhalten.
Ich spüre die flüchtigen Blicke auf mir ruhen, während ich auf den zentralen Platz gehe. Ich ahne sie hinter den vergitterten Fenstern, hinter den nur halb geöffneten Vorhängen. Einige senken den Blick, wenn ich ihren Blick kreuze, andere wenden verlegen den Kopf. Selbst die, die mich seit meiner Kindheit kennen, tun so, als würden sie mich nicht sehen.
Sie wissen es.
Mein Schicksal wurde heute Morgen besiegelt, besiegelt durch einen Brief mit einem schwarzen Siegel.
„Das Opfer muss vor dem nächsten Mond geliefert werden.“
Diese Worte hallen noch in meinem Geist nach, schwer mit Bedeutung. Alle zehn Jahre wird eine Frau aus dem Dorf ausgewählt, um zum schwarzen Schloss geschickt zu werden. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Die Gerüchte sind zahlreich. Einige behaupten, sie würden einem dunklen Harem beitreten, andere, sie würden zu stillen, unsichtbaren Dienerinnen. Die gruseligsten flüstern, dass sie einfach verschwinden, von den Schatten des Herrn des Schlosses verschlungen.
Niemand wagt es, die Frage an diejenigen zu stellen, die dem Meister der Stätte dienen.
Ich schaudere.
— Aeris…
Ich zucke zusammen. Die krächzende Stimme meines Vaters reißt mich aus meinen Gedanken. Er steht vor unserem Haus, seine Züge von Sorge gezeichnet. Sein Blick ist heimgesucht, verschleiert von einer Not, die er zu verbergen versucht.
— Komm hinein, flüstert er.
Ohne ein Wort gehorche ich ihm. Kaum ist die Tür hinter mir geschlossen, legt er eine Hand auf meinen Arm, seine Finger umklammern meinen Ärmel mit fieberhafter Insistenz.
— Hör mir zu, Aeris. Es gibt vielleicht einen Weg zu fliehen.
Mein Herz macht einen Satz.
— Fliehen?
Er nickt, der Kiefer angespannt.
— Es gibt einen geheimen Durchgang durch den Wald, nach Süden... Wenn du jetzt gehst, könntest du ihnen vielleicht entkommen.
Ich schüttle den Kopf.
— Du weißt, was sie im Dorf tun werden, wenn sie entdecken, dass das Opfer verschwunden ist.
Eine drückende Stille breitet sich aus. Er senkt den Blick, und seine Hand zittert leicht auf meinem Arm. Dann schließt er langsam die Augen, als wollte er mein Gesicht in sich aufnehmen, meine Züge in sein Gedächtnis einprägen. Als er sie wieder öffnet, schwebt ein Schatten der Resignation in seinem Blick.
— Es tut mir leid.
Ich umklamme seine Hand mit meiner, ein trauriges Lächeln streift über meine Lippen.
— Mir auch.
Plötzlich ertönt ein Geräusch von Hufen in der Nacht.
Ich halte den Atem an.
Sie sind da.
Die Reiter des vampirischen Herren tauchen aus der Dunkelheit auf, ihre Silhouetten in schwarze Umhänge gehüllt, ihre Pferde bewegen sich mit übernatürlicher Anmut durch den Schnee. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, gleichgültig gegenüber der Tragödie, die sich hier abspielt.
Einer von ihnen hält vor mir an und hält die Hand aus.
— Komm.
Ein letzter Blickwechsel mit meinem Vater. Seine Fäuste sind geballt, aber er sagt nichts. Er kann nichts sagen.
Ich atme tief ein und lege meine Hand in die des Reiters.
Er hebt mich ohne ein Wort auf sein Pferd, und der Zug entfernt sich vom Dorf.
Ich schaue mich nicht um.
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Die Reise verläuft in einer drückenden Stille. Der Wald zieht sich um uns herum, dicht und bedrohlich, seine knorrigen Äste scheinen uns fangen zu wollen. Das Licht des Mondes kämpft darum, das dicke Blätterdach zu durchdringen und wirft sich bewegende Schatten auf den verschneiten Boden.
Dann, plötzlich, öffnet sich die Landschaft.
Und ich sehe es.
Das schwarze Schloss thront auf einer steilen Klippe, überblickt die umliegenden Ländereien wie ein Geist, der über sein Reich wacht. Seine hohen Türme verschmelzen mit der Nacht, und eine seltsame Aura scheint den Ort zu umgeben, eine Mischung aus Majestät und Schrecken.
Die schweren Tore öffnen sich langsam.
Ich steige vom Pferd ab, zögere einen Moment, bevor ich den Reitern ins Innere folge. Die Luft ist kühl, durchzogen von einem Duft, den ich nicht erkenne. Der Geruch der Macht. Massive Steinmauern umgeben mich, geschmückt mit dunklen Wandteppichen, während das flackernde Licht der Fackeln tanzende Schatten auf den gepflasterten Boden wirft.
Eine tiefe Stille herrscht in der Eingangshalle.
Dann durchfährt mich ein Schauer.
Ich spüre es.
Noch bevor ich es sehe, weiß ich, dass er da ist.
Eine Gestalt erscheint am Ende des Flurs.
Er schreitet langsam voran, in einen Umhang aus tiefschwarzer Tinte gehüllt, seine Bewegungen fließend und präzise. Als er vor mir stehen bleibt, durchbohrt sein Blick mich mit einer beunruhigenden Intensität. Seine Züge sind von kalter, fast überirdischer Schönheit, seine dunklen Augen von einem unverständlichen Licht durchzogen.
— Du bist Aeris.
Seine Stimme ist ruhig, aber sie vibriert von unbestreitbarer Autorität.
Ich hebe das Kinn und weigere mich, meine Angst zu zeigen.
— Ja.
Ein kaum merkliches Lächeln spielt um seine Lippen.
— Willkommen im Schloss Asverik.
Sein Ton ist höflich, aber ein Schwindel überkommt mich.
Ich bin nicht mehr frei.
Mein neues Leben beginnt.