Kapitel 2: Der Herr der Burg

914 Words
Der Eingang zur Burg ist so weitläufig, dass ich mich winzig fühle, wie eine Ameise, verloren in einer Welt, die nicht meine ist. Die an den Wänden befestigten Fackeln werfen ein flackerndes Licht auf die dunklen Steine, und die Luft ist kühler als draußen, durchdrungen von einem Geruch, den ich nicht definieren kann, seltsam und metallisch. Jeder Schritt, den ich mache, jedes Echo in der Halle erinnert mich an meinen Zustand als Gefangene, sei es in meinem Körper oder in meinem Geist. Ich folge den Reitern, die mich bis hierher eskortiert haben, deren Schritte ebenso laut hallen wie meine, während wir in die Haupthalle eintreten. Die Marmortreppe, die vor mir emporragt, scheint direkt ins Unendliche zu führen, ihre kalte Schönheit vermag die Schwere des Ortes nicht zu mindern. Jede Stufe, jede Ecke dieser Burg scheint schwer von Geheimnissen und Anwesenheit zu sein. Doch es ist er, der mich einschüchtert, der mich ohne zu blinzeln beobachtet, ohne eine Geste zu machen. Er bewegt sich nicht. Er bleibt dort, im Schatten, sein Blick auf mir ruhend. Seine Silhouette ist imposant, seine Präsenz erdrückend, und trotz der Distanz, die uns trennt, spüre ich seine Dominanz. — Du scheinst ruhig. Seine Stimme, tief, durchdringt den Raum zwischen uns. Sie ist fast sanft, aber ich weiß, dass es nur eine Fassade ist. Jedes Wort, das er spricht, scheint von einer Kraft getragen zu werden, die die Worte selbst übersteigt. Ich balle die Fäuste. — Angst würde nichts ändern, antworte ich, meine Stimme ist selbstbewusster als ich mich fühle. Ein subtiler Lächeln spielt um seine Lippen, als ob er Amüsement an meiner Erwiderung findet. Ein Schaudern überläuft meine Haut, aber ich bleibe standhaft. — Du bist anders als die anderen. Ich weiß nicht, ob das ein Kompliment oder eine Drohung ist, die als Beobachtung getarnt ist. Doch ich habe keine Zeit, eine Antwort zu suchen, denn ohne ein weiteres Wort wendet er sich ab und beginnt, die Treppe hinaufzusteigen. — Folg mir. Ich erstarre einen Moment, meine Augen gleiten zu den Reitern hinter mir. Keiner von ihnen bewegt sich. Sie sind da, um zu gehorchen, um mich hierher zu bringen, nicht mehr. Niemand scheint bereit, mir irgendeine Art von Schutz zu bieten. Ich atme tief ein. Es gibt nichts anderes zu tun. Ich muss vorankommen. Ich steige die Stufen hinter ihm hinauf, jeder Schritt hallt im drückenden Schweigen um uns herum. Die Flure der Burg sind endlos, gewunden, gefüllt mit Kronleuchtern, deren Flammen schwach tanzen, kaum genug, um die Dunkelheit um uns herum zu erhellen. Die Stimmung hier ist seltsam, fast übernatürlich. Jede Wand scheint Geheimnisse zu bergen, jeder Schatten, eine unsichtbare Präsenz. — Seit wann lebst du hier? wage ich endlich eine Frage zu stellen. Er geht weiter, ohne sich umzudrehen, scheint nicht eilig zu sein, zu antworten. — Eine Weile. Ich runzle die Stirn. — Das ist keine Antwort. — Doch, das ist es. Er kümmert sich nicht um meine Frage. Sein Ton bleibt ruhig, fast gleichgültig. Er scheint nicht mehr sagen zu wollen. Wir gehen weiterhin durch dieses stille Labyrinth, bis wir vor einer massiven, geschnitzten Tür stehen. Er öffnet sie mühelos, als wäre die Tür nur eine Formsache, und zieht sich zurück, um mich eintreten zu lassen. Ich erwarte eine kleine Zelle, einen düsteren Raum, aber das ist nicht, was ich finde. Der Raum ist groß, fast gemütlich, erstaunlich einladend für eine so kalte Burg. Ein großes Himmelbett steht in der Mitte, seine makellosen Laken vermischen sich mit dem Schatten der hohen Fenster, die auf das verschneite Tal blicken. Ein Kamin knistert sanft und verbreitet eine wohltuende Wärme in der frischen Luft der Burg. — Du wirst hier schlafen. Seine Stimme, immer ruhig, hält mich in meinem Vorwärtsdrang an. Ich drehe mich zu ihm um, misstrauisch. Er sieht mich an, die Arme verschränkt. — Und danach? Er scheint einen Moment nachzudenken, aber ich weiß, dass er nicht meinen Erwartungen entsprechen wird. — Du stellst viele Fragen. Ich fühle mich gefangen, aber ich akzeptiere diese Antwort nicht, noch nicht. — Sie haben mir mein Leben entrissen, ich habe das Recht auf Antworten. Ein flüchtiges Lächeln bildet sich auf seinen Lippen, aber er antwortet nicht. — Ruh dich aus, Aeris. Wir werden morgen sprechen. Ohne auf meine Antwort zu warten, schließt er die Tür hinter sich mit einer verblüffenden Leichtigkeit. Ich stehe da, erstarrt, der Blick auf das geschnitzte Holz gerichtet. Die Stille breitet sich aus, schwer, vollkommen. Die Flammen im Kamin knistern sanft, aber das ist alles. Ich bin nicht mehr dort. Ich bin nicht mehr im Dorf. Ich bin allein, eingesperrt in dieser Burg, von der ich nichts weiß. Dennoch, wider aller Erwartungen, ähnelt dieser erste Abend keinem Albtraum. Es ist nicht die Angst, die mich wach hält. Es ist die seltsame Gewissheit, dass mein Leben gerade einen Wendepunkt erreicht hat. Dass ich diese Wende nicht kontrollieren kann. Langsam erwache ich, gewiegt von der wohltuenden Wärme des Kaminfeuers. Für einen Moment bin ich in eine fast unwirkliche Sanftheit eingehüllt und vergesse, wo ich bin. Der seidene Stoff der Laken gegen meine Haut, der subtile Geruch von brennendem Holz, die beruhigende Stille, die im Raum herrscht… Nichts hier ähnelt meinem früheren Leben. Das ist nicht mein Zimmer. Dann holt mich die Realität ein. Die Burg. Der Herr des Ortes. Mein neues Dasein. Ich lasse meine Augen langsam aufblitzen, nehme das sanfte Licht des Morgens auf, das durch das Fenster strömt. Der Raum ist so groß wie mein ganzes Haus, so raffiniert dekoriert, dass es fast erdrückend wirkt.
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