"Tschüss, Grandma!", rufe ich ihr noch zu, bis ich endlich entlassen bin und die Tür, nach dem altbekannten Klingeln, ins Schloss fällt.
Erschöpft trete ich den Heimweg an und ziehe meinen roten Mantel enger um mich, da es langsam dämmert und die Luft kühler wird, als am Mittag.
Überhaupt ist es hier in Ketchikan, einer der schönsten Städte in Alaska, immer etwas kühl und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, sodass man denkt, es fängt jede Minute an zu regnen.
Obwohl ich hier aufgewachsen bin, bevorzuge ich immernoch Anchorage, wo ich eigentlich studiere. Ich habe mich so sehr an eine Großstadt gewöhnt, weswegen mir alles hier viel zu klein und eng vorkommt. Die Wälder drumherum machen es nicht viel besser.
Ich fühle mich so, als würde hier jeder jeden kennen.
Meine Oma führt die einzige Schneider- und Näherei in dieser Einkaufsstraße, die an das einzige Einkaufszentrum dieser Stadt führt. Und da ich nun Semesterferien habe, darf ich sie bei ihr verbringen, um ein wenig zu arbeiten und nicht faul zu Hause rumzuliegen.
Diese Idee hatte meine geliebte Mutter.
Eigentlich ist es nicht so schlimm, aber den ganzen Tag, Stoffe nach Farben sotieren, manchmal Probe stehen, damit Grandma an mir die Kleider messen kann und auch noch den Kunden, die sich auf den Sesseln gemütlich machen und mit meiner Grandma quatschen, ständig Kaffee hin- und her zu bringen, kann ganz schön nervend und anstrengend sein.
Wenigstens lässt mich Grandma nicht zu sehr arbeiten und näht mir ständig Alltagskleider und Röcke, weswegen ich wirklich kaum Hosen habe.
Aber ich mag sie.
Wie jeden Tag seit ich hier bin, laufe ich am Hafen vorbei und der Wind weht nur durch meine braunen Haare, die mir die Sicht versperren. Spät abends sieht der Hafen wunderschön aus.
Die Boote und Segelschiffe sind nacheinander aneinangereiht und es sieht so aus, als würden sie mit dem Wind zusammen tanzen. Ein Geruch von Fisch und Meer liegt in der Luft und die Straßenlampen erhellen die Straße und verleihen eine schöne Atmosphäre.
Wie schon so oft, habe ich davon geträumt, mal mit meinem Freund Hand in Hand durch diese Straße zu laufen, doch dieser Traum ist bis jetzt nicht in Erfüllung gegangen und wird es vielleicht auch nie.
Nicht, dass ich noch nie einen Freund hatte, aber es hielt einfach nicht lange an und er lebt weiter in Anchorage, weswegen ich ihn noch nie hierhinbringen konnte.
Leise summend gehe ich weiter und schaue auf das Meer hinaus. Normalerweise sind hier mehrere Leute unterwegs, doch diesmal scheine ich ganz alleine zu sein.
Kein Fischer, der die Segeln abspannt und die Angeln an ihr Ständer bindet. Keine Kinder, die kleine Steine hoch in die Luft werfen, um die Möwen zu treffen, die wunderschön über dem Meer kreisen und keine Familien oder verliebten Menschen, die auf den Bänken sitzen und einfach nur dem Rauschen des Meeres zuhören.
Plötzlich sehe ich, wie ein Mann vor einer Straßenlampe sitzt und sehr fertig aussieht. Ich erkenne dank dem Licht, dass er dreckige und zerrissene Sachen anhat, die ihm kein bisschen Wärme spenden. Vor ihm steht ein Pappbecher, der leer aussieht und irgendwie tut er mir Leid.
Langsam gehe ich auf ihn zu und bleibe vor ihm stehen. Er hebt seinen Kopf und sein ungepflegter Bart lässt ihn alt aussehen. Seine Augen scheinen müde und dunkle Augenringe zieren sein Gesicht.
Ich lächele ihn aufmunternd an, was er nicht erwiedert und schmeiße ihm fünf Dollar in den Pappbecher. Er hat's eher nötiger als ich und mit einem letzten Lächeln drehe ich mich um, um meinen Weg fortzusetzen.
Ich habe kein Danke erwartet, denn es ist normal, dass sich Leute in diesem Zustand schämen. Irgendwie muss ich lächeln, bei dem Gedanken, dass ich ihm helfen konnte.
Als es nicht mehr weit zu der Seitenstraße ist, in die ich hinein muss und dadurch den Hafen verlasse, fühle ich mich komischerweise beobachtet. Ich blicke immerwieder nach hinten, doch kann keinen entdecken.
Komisch.
Ich will gerade in meiner Tasche herumwühlen, um mein Handy heraus zu holen, als mich plötzlich jemand am Arm packt.
Erschrocken drehe ich mich um und es ist dieser Obdachlose an der Lampe.
"Lassen sie das! Gehen Sie weg!"
Er stinkt fürchterlich und sein Griff um meinen Arm wird stärker, weswegen ich anfange leicht zu wimmern.
"Ich gebe Ihnen auch mein ganzes Geld! Bitte!"
Ich versuche mich zu befreien und versuche um mich zu schlagen, doch er greift auch nach meinem anderen Arm und hält mich zu fest.
"Ich will kein Geld, sondern lieber ein hübsches Mädchen, wie dich", säuselt er und sein Atem stinkt fürchterlich nach Vodka.
Angeekelt verziehe ich mein Gesicht und vor Angst, dass er mich jetzt hier auf der Stelle vergewaltigt, kommen mir die Tränen.
Nein, Mady!
Mit einem Mal hebe ich mit voller Wucht mein Knie und treffe seinen Allerwertesten, weswegen er vor Schmerz aufstöhnt und mich loslässt.
Für einen Moment, bin ich wie gelähmt und überrascht, dass ich das gerade wirklich gemacht habe und sehe ihm zu, wie er sich auf dem Boden krümmt.
"Du verdammte Göre", zischt er und mit einem Mal fließt das Blut wieder durch meine Venen.
Und ich renne.
Ich höre seine Schritte und Rufe hinter mir und zwinge mich zu einem Adrenalinstoß.
"Bleib stehen, du kleine Schlampe!"
Gerade als ich mich umdrehe, um zu sehen, wieviel Abstand ich habe, knalle ich volle Kanne gegen eine harte Brust.
Und hätte die Person mich nicht an meinen Armen festgehalten, wäre ich zu Boden gekracht.
Ich blicke auf und das erste, was ich sehe, sind grüne Augen. Und ich habe noch nie in schönere geblickt.
Für einen Moment vergesse ich, dass hinter mir ein Psychopath herrennt und verschwinde in diese Augen, des jungen Mannes, der eine schwarze Kapuze auf dem Kopf hat, durch die braune Locken hervorluken.
Seine Lippen sind aufeinander gepresst und seine Augenbrauen zusammengezogen.
Hätte er mich im Moment nicht gerettet, hätte ich mich wohl niemals geträumt in seine Nähe zu kommen.
Er hat so eine extrem authoritäre Ausstrahlung und sein Blick ist einschüchternd, dennoch kann ich nicht wegschauen.
Er unterbricht unseren Blickkontakt, indem er mich hinter seinen Rücken zieht und er macht einen Schritt auf den Perversen zu.
"Verpiss dich, du Wichser, bevor ich dich hier auseinander nehme."
Ich sehe etwas in seiner Hand glitzern und vermute, dass es sich um ein Messer handelt.
Oh mein Gott.
Wo bin ich nur hingeraten?
Der Typ sieht unsicher zu dem Kapuzentypen auf, bevor er dann ängstlich davonläuft.
Als er endlcih weg ist, fange ich an, mich zu beruhigen und mein Herz schlägt wieder in einem normalen Takt.
Ich sehe zu meinem Retter, der einfach an mir vorbeimarschiert, als wäre gar nichts gewesen.
"Halt, warte!"
Ich laufe ihm hinterher und fasse an seinen Arm, weswegen er stehenbleibt und meine Hand ansieht. Sofort löse ich sie.
"Ich wollte mich nur bedanken, i-ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte und-"
"Zieh einfach keine Röcke an."
Er sieht mich kurz abfällig an und setzt seinen Weg fort, während ich ihm verwirrt hinterhersehe.
Eins ist klar, er ist nicht ein Ritter auf einem weißen Ross.
Ich blicke an mir hinunter und mein Blick bleibt an dem schwarzen luftigen Rock hängen, unter dem ich, wegen der Kälte, eine schwarze Strumpfhose trage.
Was wollte er damit sagen?