"Morgen, mein Engel."
"Morgen."
Ich lächele, als ich Dad sehe und freue mich, dass er mal heute mit uns frühstücken kann.
Normalerweise ist er immer auf der Wache und kommt sehr spät nach Hause. Manchmal bleibt er auch die ganze Nacht oder den ganzen Morgen weg.
"Ich habe dir Pancakes gemacht, Schätzchen."
"Danke, Mom."
Ich setze mich an den gedeckten Tisch und fange an mich voll zu stopfen. Mom und Dad sehen mich belustigt an und führen danach ihr Gespräch einfach fort.
"Also, sie haben ihn einfach freigelassen? Ich meine, er hatte eine ganze Familie auf dem Gewissen!"
Mom sieht ihn geschockt an, während Dad nur seufzt. Er erzählt Mom ständig, was so im Leben anderer Menschen abläuft, woraufhin sie sich immer viel zu viele Filme schiebt.
Klar, ist das traurig, dennoch rückgängig kann man es eh nicht mehr machen.
Vorallem nicht, weil man die Menschen nicht kennt.
Vielleicht hatte er einen Grund für seine Taten? Vielleicht ist er auch nur krank oder ein Psycho.
Man weiß es nicht.
"Ja, aber es konnte nicht ganz bewiesen werden, dass er es war, weswegen er entlassen wurde. Klar, behalten wir ihn im Auge, dennoch wäre ich dafür, dass dieser Mistkerl noch im Knast hockt."
"Ronald.."
"Ich meine ja nur. Es erinnert mich an den Vorfall vor zwei Monaten."
Dad scheint in Gedanken versunken, während ich meine Stirn kraus ziehe. Ich erinnere mich nicht, dass er das mal erwähnt hat. Aber Mom anscheinend schon, da sie nur komisch guckt und dann an ihrer Kaffeetasse nippt. Als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie.
"Und was hast du heute so vor? l**t mit mir und deiner Grandma an den Hafen zu gehen?"
Sofort schüttele ich den Kopf. Wahrscheinlich etwas zu schnell, da sie mich verwirrt anguckt.
"Ehm, i-ich wollte heute eher mal in den Wald", stottere ich und meine Mom hebt nur ihre Augenbrauen.
"Ok, Spätzchen. Wenn du das willst, aber nimm einen Regenschirm mit, es könnte anfangen zu regnen."
Ich nicke nur und stehe auf, um mich fertig zu machen.
Sie kann ja nicht ahnen, dass ich seit einer Woche regelmäßig am Hafen war und auf Harvey gewartet habe.
Ich wollte ihn wiedersehen, doch er war die ganze Zeit nicht da. Auch nicht auf dem Segelboot oder am Fischen.
Ich habe William nach ihm gefragt, doch er meinte nur, dass er Urlaub hätte, aber bestimmt bald kommt, was ich sehr komisch fand.
Ich meine, wie sollte er bald wiederkommen, wenn er Urlaub hat?
Ich habe trotzdem die ersten Tage immer auf der Bank gehockt und gewartet, doch er kam nie. Und seit zwei Tagen habe ich es einfach aufgegeben.
Ich weiß nicht mal, warum ich ihm folge oder ihn unbedingt wiedersehen will. Ich kenne ihn nicht einmal.
Doch wenn ich an die letzte Begegnung am Hafen denke, fängt mein Körper an zu kribbeln und ich kann nicht anders und würde am Liebsten die ganze Stadt auseinandernehmen, nur um ihn zu finden.
Natürlich hat Chloe gemerkt, dass etwas nicht mit mir stimmt, doch ich tue so, als wäre alles in Ordnung und normal.
Irgendwie will ich ihr nicht von Harvey erzählen. Denn mal ehrlich, was soll ich schon erzählen?
Dass er ständig gemein ist, die Menschen in seiner Gegend einschüchtert und vergrault, mich gerettet hat, wenn auch nur ungewollt und ich mich trotzallem zu ihm hingezogen fühle?
Ganz sicher nicht.
Dennoch vermisse ich ihn, was völlig absurd ist und ich sollte damit aufhören.
Ich schnappe mir mein Buch und laufe die Treppen hinunter. Nachdem ich in meinen Mantel und in die Stiefel geschlüpft bin, stülpse ich mir die weiße Wollmütze auf den Kopf und verabschiede mich von meinen Eltern.
Das Wetter ist etwas benebelt. Zwar ist es kühler, als die letzten Tage und auch die Sonne lässt sich nicht blicken, dennoch tut es gut, die frische Luft, die nach baldigem Regen riecht, einzuatmen.
Mir fällt gerade auf, dass ich den Regenschirm vergessen habe. Ich hoffe, dass es nicht regnet.
Ich laufe fröhlich summend den Waldpfad entlang, bis ich ankomme und im Wald den Weg entlanglaufe, den ich schon seit meiner Kindheit kenne.
Ich komme an der kleinen Lichtung an, die nur umkreist von Bäumen ist, weswegen sie gut belichtet ist, auch wenn die Sonne nicht scheint.
Da es noch nicht geregnet hat, ist das Gras trocken, weswegen ich mich auf meinen Bauch lege und lese. So wie jedes Mal, wenn ich hierhin komme.
Zu meinem Glück lässt sich die Sonne blicken und strahlt auf mich herab, weswegen mir auch nicht all zu kalt ist.
Ich liebe es hier zu liegen und einfach nur unter den Sonnenstrahlen und dem Himmel zu lesen, auch wenn er ab und zu bewölkt ist. Der Geruch von Grünem und Erde beruhigt mich und die Stille tut gut und lässt mich ganz in meiner Welt versinken.
Keiner ist da, um mich zu unterbrechen.
Da ich den Wald kenne, habe ich auch keine Angst alleine, was sich aber schnell ändern kann, wenn es dunkler wird. Aber bis dahin werde ich es genießen.
Ich sollte wieder öfter hierhin kommen, ich merke, dass ich es vermisst habe.
Es vergeht eine Weile, in der ich einfach nur lese und dem Gezwitscher und dem Gesang der Vögel lausche. Ab und zu muss ich wegen dem Roman vor mich hin lächeln und gerade, als ich die Seite umblättern will, lässt mich eine Stimme hochfahren und ein kurzer Schrei entweicht aus meinem Mund.
"Grinst du immer so dämlich vor dich hin?"
Ich blicke auf und sehe Harvey etwas weiter weg von mir stehen.
Er sieht mich wieder mit zusammengezogenen Augenbrauen an und anstatt seine Frage wahrzunehmen, blicke ich ihn mit großen Augen an.
Es ist das erste Mal, dass ich ihn seit einer Woche sehe und ich habe ganz vergessen, wie schön er aussieht.
Diesmal hat er einen grauen Pulli an, dessen Kapuze seine wunderschönen Haare versteckt und dadrüber wiedermal seine Lederjacke. Seine Hände sind in seiner Hosentasche vergraben und seine Lippen scheinen noch dunkler als sonst.
Ich starre sie genau an.
Wie er gerade mit seiner Zunge sie befeuchtet und dann aufeinander presst.
Atmen, Mady.
"Was liest du da für eine Scheiße?"
Er blickt mit erhobener Augenbraue auf mein Buch und ich runzele die Stirn, weil ihn das wohl zu interessieren mag.
Er hätte wenigstens erstmal fragen können, wie es mir geht.
Ich merke, wie sich meine Wangen erhitzen und ich weiß nicht mal warum. Ich sehe auf das Cover des Romans in meiner Hand.
"Einmal rund um's Glück."
"Aha. Hört sich Scheiße an. Kein Wunder, dass du es liest."
Verletzt sehe ich ihn an. Hat er mich das jetzt nur gefragt, um mich wieder zu beleidigen. Ich finde es ist ein schönes Buch und vielleicht sollte er das mal lesen.
Das würde ihm gut tun.
Obwohl ich mir Harvey mit keinem Buch in der Hand vorstellen kann.
"Es ist ein schönes Buch. Es geht um Liebe und Glück."
Ich habe den Drang das Buch und mich verteidigen zu müssen. Denn es ist einfach nur ein Liebesroman, an dem nichts auszusetzen ist.
Ganz im Gegenteil, ich lese es jetzt zum zweiten Mal.
"Und was steht drin? Dass jeder Mensch glücklich ist oder sein f*****g Glück findet?"
Er verdreht einfach nur die Augen und dreht sich um. Der spöttische Unterton in seiner Stimme zeigt wieder, dass er genervt ist.
"Warte! Wohin gehst du?"
"Geht dich nichts an."
Und damit sind wir wieder bei Harvey's Stimmungsschwankungen. Erst tut er so, als würde er sich wenigstens ein wenig interessieren und im nächsten Moment ist er wieder so abweisend.
Sofort rappele ich mich auf und folge ihm. Es ist schwer mit ihm mitzuhalten, da er einfach durch den Wald läuft, als kennt er ihn komplett auswendig.
"Nein, es geht um ein Mädchen, dass in der Vergangenheit viel durchgemacht hat und einen Neuanfang startet und eine Person kennenlernt, der ihr wieder zeigt, was Glück ist", rattere ich neben ihm laufend hinunter und merke jetzt schon, wie ich langsam aus der Puste gerate.
Er geht einfach desinteressiert weiter und genau als ich mir selber innerlich selbst auf die Stirn haue, warum ich ihm das überhaupt erzähle, fängt er an zu reden.
"Man kann nicht einfach wieder von heute auf morgen f*****g glücklich sein. Entweder ist das Glück auf deiner Seite oder eben nicht."
Verwundert sehe ich ihn an und bin fasziniert von seinen Worten. Es ist kaum zu glauben, dass ich gerade mit Harvey über die Definition von Glück spreche.
"Aber es gibt immer etwas, was einen Menschen glücklich macht. Du hast bestimmt auch etwas, was dich an dein Glück erinnert."
Abrupt bleibt er stehen, sodass ich gegen seinen Rücken knalle und mich gerade noch halten kann. Endlich kann ich verschnaufen.
Während sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigt, steht Harvey einfach immernoch da und hat nichts gesagt. Mittlerweile ist die Sonne ganz verschwunden und der Wald scheint wieder dunkler. Ich kann froh sein, Harvey hier zu haben, obwohl er gerade mit seinem Aussehen nicht ganz ungefährlich aussieht.
"Harvey?"
"Ich erinnere mich nicht an mein Glück. Ich brauche es auch nicht. Ich habe es schon längst verloren."
Er dreht sich um, die Stirn wieder krausgezogen und kommt auf mich zu, während ich automatisch immer weiter nach hinten gehe, um den Abstand zu vergrößern. Doch als mein Rücken in Berührung mit einer Baumrinde macht, weiß ich, dass ich keinen Ausweg mehr habe.
Er bleibt direkt vor mir stehen und lehnt seinen rechten Arm, genau über meinem Kopf, gegen den Baum. Seine Augen verlassen nicht einen Moment meine und sein Duft steigt mir wieder in die Nase.
Sein Blick scheint durch mich hindurch zu sehen und mein Herz, dass sich erst eben wieder beruhigt hatte, arbeitet wieder auf Hochtouren.
Vorallem da seine Lippen wieder nicht viel entfernt von meinen sind und ich mich nicht entscheiden kann, ob ich ihm nun in die Augen oder auf die Lippen sehen soll.
"Nur eine Sache macht mich glücklich, kleine Mady."
Unfähig etwas zu sagen, sehe ich ihn einfach nur an und umklammere mit meiner Hand das Buch noch fester.
"Ich bin glücklich, wenn ich alleine bin."