Kapitel Zwei
Der Rest des Ausflugs mit Walter findet wie im Nebel statt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mindestens zwanzig Minuten damit verbringt, gegen die Eier des Fremden zu wettern – im wörtlichen und übertragenen Sinne – aber ich höre nur halb zu. Sobald es gesellschaftlich akzeptabel ist, erfinde ich eine Ausrede, um nach Hause zu eilen und meinen Zwilling per Video anzurufen.
Da der mysteriöse Typ sie kennt, muss sie ihn auch kennen.
Als ich mein Zimmer betrete, suche ich nach einem Platz, an dem ich mein Handy aufstellen kann, ohne dass meine Schwester die überall verstreuten Magier-Utensilien sieht. Ich will nicht, dass sie als meine persönliche Marie Kondo herkommt.
Da.
Ich gehe zu Manny, der Schaufensterpuppe, an der ich meine Tricks übe – die magische Variante. Ich nehme Manny den ausdruckslosen Kopf ab, lege ihm mein Handy in den Nacken und wähle Holly.
Keine Antwort.
Mist.
Ich rufe sie ohne das Video an. Gleiches Ergebnis.
Ich schalte auf Text um und bitte sie, mich anzurufen, sobald sie verfügbar ist, und warte.
Und warte noch ein wenig.
Müde vom Warten, beschließe ich, mich abzulenken. Aber womit?
Normalerweise nutze ich jeden freien Moment meines Lebens, um Magie zu praktizieren, aber der Schwanz des mysteriösen Kerls hat mich an ein Projekt erinnert, an dem ich von Zeit zu Zeit gearbeitet habe – eine Art Expositionstherapie, die mir eines Tages erlauben soll, mit einem Mann intim zu werden.
Na schön. Ich gebe es zu. Ich habe vielleicht ein klitzekleines Problem. Ich habe nicht nur Probleme beim Händeschütteln ohne Handschuhe. Ich habe auch ein Problem mit intimeren Berührungen, ganz zu schweigen vom Austausch von Körperflüssigkeiten jeglicher Art.
Das ist weder für einen Magier noch für einen Menschen gut. Wenn ich allerdings ein Detektiv à la Adrian Monk sein wollte, wäre ich unbezahlbar.
Das Gute daran ist, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Ruhr bekomme, gering ist.
Alles begann in meiner Kindheit, als ich Zeuge von etwas Schrecklichem wurde, einem Vorfall, den ich das Zombiemeisenmassaker nenne.
Meine Eltern besitzen einen Bauernhof, auf dem sie alle Arten von Tieren retten, und sie hatten die glänzende Idee, einem Vogel Unterschlupf zu gewähren, der den wissenschaftlichen Namen Parus major trägt, auf Englisch besser bekannt als the Great Tit – nein, keine große Titte, sondern eine Kohlmeise. Dieser Vogel hat auch einen anderen Namen – Zombie Tit. Der Grund für Letzteres ist das, was man erwarten würde. In freier Wildbahn sind diese Vögel durstig nach Hirn – Fledermaushirn, um genau zu sein. Aber wie sich herausstellte, sind sie nicht wählerisch und fressen auch das Hirn anderer Vögel, einschließlich Hühnern, in die ich an diesem schicksalhaften Tag hineinlief.
Blutige Hühner mit bösartig herausgehackten Gehirnen.
Blut und Hirn überall.
Eine zufriedene Zombiemeise.
Ich hatte vor lauter Schreien fast meine Stimme verloren.
Es waren tatsächlich zwei von uns an diesem Tag traumatisiert. Meine Schwester Blue, eine der Sechslinge und somit jünger und beeinflussbarer, stieß zuerst auf die blutige Szene. Sie hat bis zum heutigen Tag Angst vor Vögeln. Vielleicht auch Titten. Ich habe sie nie gefragt.
Ich habe kein Problem mit Vögeln. Oder Brüsten. Aber ich ekele mich vor Blut und Hirn, und diese Abneigung hat sich inzwischen auf alle Körperflüssigkeiten und damit auch auf Keime übertragen.
Also ja. Wenn schon allein das Küssen für mich undenkbar ist, so sind es verschiedene sexuelle Handlungen noch mehr.
Mit einem lauten Seufzer schnappe ich mir meinen Laptop und öffne die erste Pornoseite, die ich finde.
Bin ich bereit dafür?
Ich atme tief ein und langsam aus.
Was ich vorhabe, nennt sich systematische Desensibilisierung, und die Idee dahinter ist, wie der Begriff schon sagt: Wenn ich Handlungen, die mir Angst machen, in einer ruhigen, kontrollierten Umgebung sehe, kann ich vielleicht den Mut aufbringen, mich mit der realen Situation auseinanderzusetzen.
Hey, es funktioniert schließlich bei Spinnen- und Schlangenphobien.
Ich beginne mit Videos von Menschen, die sich küssen.
Bleib ruhig. Denk nicht über die Mikrobiota des Speichels nach. Oder die Mikrobiota der Zunge.
Das Problem ist, dass niemand in Pornos einfach küsst. Sie lutschen sich gegenseitig die Gesichter auf eine Art und Weise, die an die Monster aus Alien erinnert. Generell löst das Anschauen von Pornos für mich dasselbe aus wie Horrorfilme bei allen anderen.
Apropos Horror, Zeit, den Einsatz zu erhöhen.
Ich beginne mit einer harmlosen Sexszene. Die Geschichte hier ist, dass er ein Pizzalieferant ist und sie nicht anders kann, als ihn zu verführen.
Ja. Sicher. Das ist wahrscheinlich.
Ihnen beim Ausziehen zuzusehen ist okay. Sie küssen sich nicht, was gut ist – nicht für ihre fiktive Beziehung, sondern für meine Zimperlichkeit. Als ich jedoch beobachte, wie ein kondomloser Schwanz in die Öffnung der Schauspielerin eindringt, steigt mein Herzschlag wieder an, und das nicht aufgrund sexueller Erregung.
Scheiße. Hyperventiliere ich etwa?
Atme. Ein. Aus. Das passiert nicht mir. Die Menschen in dem Video sind Erwachsene, die eingewilligt haben, das zu tun. Außerdem werden Pornostars regelmäßig getestet, was kann also schlimmstenfalls passieren?
Meine Mantras funktionieren nicht. Mir fällt eine Handvoll Geschlechtskrankheiten ein, die eine extrem kurze Inkubationszeit haben, aber nach meinen Recherchen testen sich Pornostars nur etwa zweimal im Monat. Rein rechnerisch ist es also durchaus möglich, dass sie sich anstecken könnten, wenn sie genug Szenen drehen.
Irgendwie schaffe ich es, meine Atmung zu beruhigen.
Gut. Ich bin bereit für mehr.
Ich klicke auf ein Video, das einen für mich besonders verstörenden Fetisch zeigt – Natursekt.
Die Geschichte hier ist, dass sie eine MILF ist, und er ist der beste Freund ihres Sohnes. Was keinen Sinn ergibt. Sollte sie nicht seine Urologin sein oder so? Außerdem steht MILF für Mom I’d Like to f**k, also sollte sie in diesem Fall nicht eine MILPO sein, wie in Mom I’d Like to Pee On? Oder MILPOM – Mom I’d Like to Pee On Me?
Auf jeden Fall steigert dies den therapeutischen Wert dieser Sitzung. Sobald ich es aushalten kann, mir so etwas anzusehen, bin ich vielleicht bereit für den ersten Schritt in der realen Welt.
Hoffentlich. Vielleicht.
Sobald das Video beginnt, verstärkt sich das Gefühl, dass ich einen Horrorfilm schaue.
Manche Menschen glauben, dass Urin steril sei, aber das ist Unsinn. Wenn jemand eine Harnwegsinfektion hat, wonach suchen Ärzte in der Urinprobe? Bakterien. Würde das funktionieren, wenn das Zeug wirklich steril wäre? Nein.
Ich komme bis zur Hälfte des Videos, bevor ich es ausschalten muss. Ich bin noch nicht ganz so weit, denke ich.
Ich kaue auf meiner Lippe und überlege, ob ich die Therapiesitzung hier beenden soll, aber ich entscheide mich, noch eine Sache zu wagen.
Bukkake.
Es ist ein japanisches Wort, das übersetzt Augenherpes bedeutet. Zumindest nehme ich das an, denn Bukkake ist ein Akt, bei dem eine große Anzahl von Männern kollektiv auf jemanden ejakuliert – in der Version, die ich mir gleich anschaue, auf eine Frau.
Die Geschichte in diesem Video ist, dass sie die ungezogene Stiefschwester ist – ein sehr beliebtes Pornothema auf dieser Seite.
Aber Moment einmal. Abgesehen von der Tatsache, dass einige der Jungs viel zu alt sind, um noch zu Hause zu leben, wie ist diese fiktive Familie überhaupt zu fünfzig Stiefsöhnen und einer Stieftochter gekommen?
Sobald der eigentliche Bukkake beginnt, fällt es mir schwer, hinzusehen.
Vielleicht, wenn ich ein wenig vorspule?
Nein.
Schlimmer.
In der Ecke des Videos wird digital gezählt, wie oft die Jungs schon gekommen sind und wie oft die Schauspielerin geschluckt hat – wir sind bei sechzehnmal Abspritzen und zehnmal Schlucken.
Sollte das nicht für alle wie ein Horrorfilm aussehen? Anders als bei einer normalen Gesichtsbehandlung ist das Gesicht der Frau komplett mit cremiger Flüssigkeit bedeckt, was einen grotesken Effekt erzeugt.
Seltsamerweise habe ich nicht das Gefühl, dass die Schauspielerin ausgenutzt wird, obwohl das sehr wohl der Fall sein könnte. Vielleicht liegt es daran, dass sie so aussieht, als hätte sie Spaß, während die gesichtslosen Männer nur mechanisch und ohne jede Begeisterung wichsen – als wäre es eine lästige Pflicht.
Ich frage mich, wie viel es kosten würde, so viele Kerle zu engagieren, um das privat bei sich zu Hause machen zu lassen. Außerdem, macht es eigentlich Heteromännern Spaß, dabei zuzusehen? Ich bin kein Experte, aber es scheint so, als ob Schwänze und Männersperma hier das Hauptgericht sind und das Mädchen eher die Beilage. Lässt die Schauspielerin nach dieser Szene auch eine Mahlzeit aus? Wie nahrhaft ist das Zeug eigentlich? Kann ein Veganer es konsumieren?
Nebenbei bemerkt: keiner dieser Schwänze sieht so schön aus wie der, den der mysteriöse Fremde hatte. In der Tat kann keiner der Porno-Schwänze, die ich je gesehen habe, mithalten.
Moment. Ich schummele. Ich habe mich von dem Video abgelenkt. Ich muss genau auf den Bildschirm achten und daran arbeiten, mich zu beruhigen, um eine therapeutische Wirkung zu erzielen.
Ich öffne die Augen im Clockwork-Orange-Style und schaue mir das Kommen und Trinken an.
Jetzt setzt die Panik ein.
Genau wie beim Urin kann auch das Sperma mit Bakterien verunreinigt sein, wenn ein Mann eine Harnwegsinfektion hat. Bei so vielen Jungs steigen die Chancen auf einen schlechten Ausgang proportional an.
Ich schalte das Video aus und beruhige meine Atmung.
Bin ich bereit für den schwierigsten Teil der Therapie?
Ich gehe zur Zielkategorie und schaue zweimal hin. Es gibt ein Video namens Analyse. Macht es Menschen an, Dinge zu analysieren?
Nein. Es ist eigentlich Anally Sis, eine andere Stiefgeschwister-Geschichte.
Na schön. Zumindest hat diese eine realistischere Anzahl von Stiefgeschwistern. Ich fange an, zuzuschauen, und zwinge mich, die klaffende Öffnung auf dem Bildschirm anzustarren.
Ja. Das ist es. Arsch zu Mund – eine Praxis, die ich gruseliger finde als Freddy Krueger, Michael Myers, The Babadook und sogar Pee Wee Herman.
Das langsame Atmen hilft mir jetzt überhaupt nicht. So muss sich jemand mit einer Clown-Phobie fühlen, wenn er ES sieht.
Der Empfänger muss super sauber sein.
Nein. Das hilft nicht.
Der Geber muss ein extrem gutes Immunsystem haben.
Nein.
Ich schalte das Video aus.
Ich kann das nicht ansehen. Ich bin noch nicht bereit.
Hey, wenigstens habe ich nicht geschrien. Oder einen Herzinfarkt bekommen. Das erste Mal, als ich hörte, dass man dazu auch toss the salad, also den Salat anmachen sagt, habe ich für etwa ein Jahr lang keinen Salat mehr gegessen.
Ich schließe meinen Laptop und versuche, mich zu beruhigen.
Vielleicht war das eine schlechte Idee. Vielleicht will ich nicht, dass mein Zwilling mir sagt, wer der Typ ist. Denn was soll das bringen? Es ist nicht so, dass ich etwas mit ihm machen kann. Es könnte einfach frustrierend sein …
Mein Telefon klingelt.
Als ich auf dem Weg zurück zu meiner Schaufensterpuppe fast stolpere, gestehe ich mir ein, dass ich doch wissen will, wer er ist.
Deshalb ist es eine große Erleichterung, dass der Anrufer mein Zwilling Holly ist.