KAPITEL EINS

2200 Words
KAPITEL EINS Detective Keri Locke war frustriert. Sie saß an ihrem Schreibtisch in der West Los Angeles Pacific Einheit des LAPD und starrte den Bildschirm ihres Computers an. Um sie herum herrschte das übliche geschäftige Treiben. Zwei Teenager hatten eine Handtasche gestohlen und waren auf der Flucht mit ihren Skateboards gefasst worden. Eine ältere Dame an einem der Nachbartische erklärte einem geduldigen Officer, dass ihre Tageszeitung zum wiederholten Male aus ihrem Vorgarten geklaut worden war. Zwei dickliche Typen saßen in Handschellen auf einer Holzbank an der gegenüberliegenden Wand, weil sie sich in einer Kneipe geschlagen hatten und offenbar versuchten, ihren Kampf hier fortzusetzen. Keri ignorierte sie alle. Seit zwanzig Minuten studierte sie die Kleinanzeigen einer Tageszeitung in der Kategorie Gemischte Gesuche. Seit sechs Wochen las sie täglich diese Anzeigen, seit ihre Freundin Margaret „Mags“ Merrywether ihr den Tipp gegeben hatte, dass sie dort vielleicht einen Hinweis finden würde, der sie zu ihrer verschwundenen Tochter Evie führen könnte. Evie war vor über fünf Jahren entführt worden. Nach einer unerbittlichen, aber meist ergebnislosen Suche, hatte Keri sie gefunden, doch man hatte sie ihr ein zweites Mal entrissen. Der bloße Gedanke daran, wie Evie in dem schwarzen Van fortgebracht worden und womöglich für immer verloren war, war einfach zu viel. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihr lag. Es ging schließlich um eine mögliche Spur. Und eine Spur brauchte sie unbedingt. Ende November hatte Mags versucht, mit diesem geheimnisvollen Mann in Kontakt zu treten, der sich Schwarzer Witwer nennt. Er war bekannt dafür, dass er die Drecksarbeit für die Reichen und Mächtigen verrichtete. Er brachte politische Feinde zum Schweigen, ließ aufdringliche Reporter verschwinden oder beschaffte besonders vertrauliche Materialien. In diesem Fall vermutete Keri, dass er entweder ihre Tochter in seiner Gewalt hatte, oder zumindest wusste, wo sie sich befand. Denn vor sechs Wochen hatte Keri den Mann ausfindig gemacht, der Evie all die Jahre gefangen gehalten hatte. Es handelte sich dabei um einen professionellen Entführer, der unter dem Decknamen der Sammler bekannt war. Keri wusste inzwischen, dass sein echter Name Brian Wickwire war. Bei ihrem Zusammentreffen war es zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen, in dem Keri ihn schließlich getötet hatte. Als sie später sein Appartment durchsucht hatte, waren ihr Informationen in die Hände gefallen, dank derer sie Evie ausfindig machen konnte. Doch gerade als sie dort eingetroffen war, hatte sie gesehen, wie ein älterer Mann das Mädchen in einen schwarzen Van gedrängt hatte. Sie hatte nach ihrer Tochter gerufen, die inzwischen dreizehn Jahre alt war, und sie hatte gehört, wie ihre Tochter das Wort Mama gesagt hatte. Doch dann hatte der Mann Keris Auto gerammt und war mit Evie entkommen. Benommen hatte Keri zusehen müssen, wie ihre Tochter zum zweiten Mal vor ihren Augen entführt wurde. Noch in der gleichen Nacht hatte man den Van auf einem leeren Parkplatz gefunden. Der Mann war mit einem Kopfschuss hingerichtet worden. Von Evie fehlte jede Spur. Wochenlang hatte das Department in jede erdenkliche Richtung ermittelt und überall nach ihr gesucht. Doch sie fanden nichts als Sackgassen. Irgendwann mussten sie sich wieder auf andere Fälle konzentrieren. Letzten Endes war es Mags gewesen, die eine frische Spur ausgraben konnte. Mags sah zwar aus wie das Titelmodell eines High Society Magazins, aber eigentlich war sie eine knallharte Enthüllungsjournalistin. Sie hatte Parallelen entdeckt zwischen Evies Verschwinden und einem Fall, an dem sie vor Jahren gearbeitet hatte. So war sie auf den Schwarzen Witwer gekommen. Nächtliche Hinrichtungen per Kopfschuss auf leeren Parkplätzen waren eine Art Markenzeichen. Außerdem wussten sie über ihn, dass er einen nicht-registrierten Lincoln Continental fuhr, und genau so einen hatte die Überwachungskamera des Parkplatzes aufgezeichnet. So hatte Mags auf einen anonymen Tipp hin eine verschlüsselte Nachricht an den Schwarzen Witwer gesendet – und zwar über die Kleinanzeigen der Tageszeitung. Das war scheinbar seine bevorzugte Methode, um mit potenziellen Kunden in Kontakt zu treten. Zu ihrer Überraschung hatte er fast unverzüglich geantwortet. Er würde sich bald darum kümmern, dass sie alles Nötige besprechen konnten. Bis dahin sollte sie sich eine neue E-Mail Adresse zulegen. Seitdem hatte sie leider nichts mehr von ihm gehört. Mags hatte vor drei Wochen noch ein zweites Mal versucht, ihn zu erreichen, aber sie hatte keine Antwort mehr bekommen. Keri wollte, dass sie es noch einmal versuchte, aber Mags hielt das für eine schlechte Idee. Wenn sie ihn unter Druck setzten, würde er einfach komplett abtauchen. Auch wenn es frustrierend war, mussten sie abwarten, dass er sich meldete. Keri machte sich jedoch Sorgen, dass er das vielleicht nie wieder tun würde. Als sie jetzt zum dritten Mal die Kleinanzeigen überflog, ging ihr durch den Kopf, wie sich diese zuerst so vielversprechende Spur langsam in eine weitere Sackgasse verwandelte. Sie schloss die Webseite, schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Um gegen die Hoffnungslosigkeit anzukommen, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Manchmal half genau das, um plötzlich Zusammenhänge zu sehen, die ihr vorher entgangen waren. Es muss einen Hinweis geben. Was habe ich übersehen? Es ist da, ich muss es nur erkennen. Aber sie kam nicht weiter. Ihre Gedanken kreisten um den Schwarzen Witwer. Niemand wusste, wer er wirklich war. Niemand wusste, wo man ihn finden kann. Vor einiger Zeit hatte sie das Gleiche über den Sammler gedacht. Dennoch war es ihr gelungen, ihn aufzuspüren, ihn zu töten und die nötigen Informationen zu finden, die sie zu ihrer Tochter geführt hatte. Wenn sie es einmal geschafft hatte, würde sie es auch ein zweites Mal schaffen. Vielleicht sollte ich mir noch einmal die E-Mails und die Wohnung des Sammlers ansehen. Vielleicht habe ich dort etwas übersehen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Sammler und der Schwarze Witwer in derselben Unterwelt tätig waren. Beide boten ihren Kunden kriminelle Dienste an. Der eine war ein Kidnapper und der andere ein Auftragskiller. Es war nicht ausgeschlossen, dass sich ihre Wege irgendwann gekreuzt hatten. Vielleicht gab es beim Sammler tatsächlich irgendwelche Hinweise zu finden. Plötzlich fiel ihr auf, dass es noch einen weiteren Zusammenhang gab. Beide kannten einen gewissen gut betuchten Strafverteidiger namens Jackson Cave. Die meisten Leute kannten Cave als semi-prominenten Rechtsanwalt, aber Keri hatte eine andere Seite an ihm gesehen: einen zwielichtigen Dealmaker, der den übelsten Abschaum der Gesellschaft verteidigte und hinter den Kulissen aus Zwangsprostitution, Drogenhandel und Mord Profite schlug. Leider konnte Keri ihm nichts beweisen, weil sie selbst ein paar Geheimnisse zu hüten hatte. Dass Cave mit beiden Männern bekannt war, lag allerdings auch ohne Beweise auf der Hand. Das wiederum würde vermuten lassen, dass sie sich wirklich gekannt hatten. Auch wenn es nicht viel war, würde es sich doch lohnen, noch einmal genauer hinzusehen. Sie brauchte irgendetwas, um nicht durchzudrehen. Gerade als sie in den Lagerraum für Beweismittel gehen wollte, um noch einmal Wickwires Sachen durchzugehen, kam ihr Partner Ray Sands an ihren Tisch. „Ich habe gerade Lieutenant Hillman im Aufenthaltsraum getroffen“, sagte er, „wir haben einen neuen Fall. Ich werde dir alle Informationen unterwegs geben. Können wir sofort los? Du siehst aus, als hättest du gerade etwas vorgehabt.“ „Nur ein paar Nachforschungen“, antwortete sie und schaltete ihren Computer aus. „Aber das kann auch noch etwas warten. Fahren wir.“ Ray sah sie neugierig an. Er hatte gemerkt, dass sie ihm etwas verheimlichte. Das war ihr klar. Aber er sagte nichts mehr dazu und so stand sie auf und verließ mit ihm zusammen das Revier. * Keri und Ray gehörten zur Einheit für Vermisste Personen bei der West Los Angeles Division. Es war eine der angesehensten Einheiten des LAPD und sie und Ray waren der Hauptgrund dafür. Sie hatten in den vergangenen achtzehn Monaten mehr Fälle gelöst, als die meisten anderen Einheiten in drei Jahren. Leider hatte Keri auch den Ruf etwas verrückt zu sein, und ebenso viele Probleme zu verursachen wie zu lösen. Technisch gesehen wurde derzeit noch gegen sie ermittelt, weil ihre Begegnung mit dem Sammler nicht gerade nach Vorschrift abgelaufen war. Aber angeblich handelte es sich bei den Untersuchungen nur um eine Formalität, um die sich polizeiintern gekümmert werden musste. Trotzdem fühlte sie sich, als würde diese Geschichte wie eine dunkle Wolke über ihr schweben. Obwohl man ihre Methoden hin und wieder in Frage stellen konnte, sprachen die Ergebnisse ihrer Ermittlungen für sich. Ray und Keri waren die Besten der Besten, auch wenn sie gerade privat ein paar Herausforderungen zu meistern hatten. Keri beschloss, jetzt nicht darüber nachzudenken. Sie konnte sich schließlich nicht gleichzeitig auf eine Vermisstenmeldung und auf ihre private Beziehung zu Ray konzentrieren. Als sie im Auto saßen, erzählte er ihr alles über den neuen Fall. Sie sah aus dem Seitenfenster, um seine starken, dunklen Hände, die das Lenkrad hielten, nicht im Blickfeld zu haben. „Unser potenzielles Opfer heißt Jessica Rainey“, sagte Ray. „Sie ist zwölf Jahre alt und lebt in Playa del Rey. Ihre Mutter trifft sie normalerweise auf dem Fahrradweg nach der Schule, aber heute hat sie nur das Fahrrad am Straßenrand und ihren Rucksack in einem Gebüsch gefunden.“ „Was wissen wir über die Eltern?“, fragte Keri, als sie den Culver Boulevard entlang fuhren. Zufällig wohnte sie auch ganz in der Nähe. Erfahrungsgemäß konnte Entfremdung eine wichtige Rolle spielen. In gut der Hälfte aller Fälle von vermissten Kindern hatte ein Elternteil das Kind entführt. „Nicht viel“, sagte Ray und lenkte das Auto geschmeidig durch den Stadtverkehr. Es war Anfang Januar und draußen war es kalt, aber Keri bemerkte Schweißperlen auf Rays Stirn. Er war nervös. Doch bevor Keri der Sache nachgehen konnte, redete er weiter. „Verheiratet, Mutter arbeitet von zu Hause aus. Sie entwirft Hochzeitseinladungen. Der Vater arbeitet in Silicon Beach für eine IT-Firma. Sie haben auch einen jüngeren Sohn, er ist sechs Jahre alt. Er ist heute den ganzen Nachmittag in der Hausaufgabenbetreuung. Die Mutter hat dort angerufen um sicherzugehen, dass dort alles in Ordnung ist. Hillman hat ihr geraten, ihn vorerst noch dort zu lassen, damit für ihn alles so lange wie möglich normal bleibt.“ „Klingt soweit alles ganz normal“, kommentierte Keri. „Ist die Spurensicherung schon unterwegs?“ „Ja, Hillman hat sie informiert. Vielleicht sind sie schon vor Ort und untersuchen Fahrrad und Rucksack auf Fingerabdrücke.“ Ray passierte gerade die Kreuzung bei Jefferson Boulevard. Keri konnte ihr Appartement fast schon sehen. Der Strand war nur noch eine halbe Meile entfernt. Das Haus der Raineys lag in einem angesagten Gebiet des Stadtteils in den Hügeln. Keine fünf Minuten von dort befanden sich mehrere Multimillionen-Dollar Villen. Keri bemerkte, dass Ray ungewöhnlich still geworden war. Sie wusste, dass er Anlauf nahm, etwas Unangenehmes anzusprechen. Ohne zu wissen warum, fürchtete sie sich davor. Sie kannte Ray Sands seit mehr als sieben Jahren, noch bevor Evie entführt worden war. Damals hatte sie als Professorin für Kriminologie an der Loyola Marymount University gearbeitet und er war als Gastredner in ihrem Kurs gekommen. Als Keris Leben nach der Entführung ihrer Tochter auseinanderzufallen begann, war er für sie da gewesen – als ermittelnder Detective und auch als Freund. Er stand ihr zur Seite, als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ und als ihre Karriere den Bach hinunterging. Ray hatte sie damals überzeugt, Polizistin zu werden. Nach zwei Jahren Streifendienst kam sie dann zur Einheit für Vermisste Personen und Ray wurde ihr Partner. Mit der Zeit waren sie sich näher gekommen. Vielleicht lag es an ihrer lockeren Art miteinander zu flirten. Vielleicht lag es daran, dass sie sich mehrmals gegenseitig das Leben gerettet hatten. Vielleicht lag es einfach an der besonderen Anziehungskraft zwischen ihnen. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass Ray, der schon immer beliebt bei den Frauen gewesen war, aufgehört hatte, über seine weiblichen Bekanntschaften zu sprechen. In den letzten Monaten hatten sie immer mehr Zeit miteinander verbracht. Sie besuchten sich gegenseitig nach Feierabend, sie gingen zusammen ins Restaurant, sie riefen sich gegenseitig an, wenn es Dinge zu besprechen gab, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Es war fast, als wären sie ein Paar; in fast jeder Hinsicht. Sie hatten bisher nie den letzten entscheidenden Schritt gewagt, um ihre Beziehung zu besiegeln. Sie hatten sich noch nicht einmal geküsst. Warum will ich nicht, dass er es sagt? Keri war gerne mit Ray zusammen und ein Teil von ihr wollte mehr von ihrer Beziehung. Sie fühlte sich ihm so nah, dass es beinahe komisch war, dass nichts zwischen ihnen passierte. Dennoch fürchtete sie sich vor dem nächsten Schritt, auch wenn sie den Grund dafür nicht in Worte fassen konnte. Jetzt spürte sie, dass Ray kurz davor war, diese unsichtbare Schwelle zu überschreiten. „Kann ich dich etwas fragen?“, begann er, als er in Pershing Drive einbog. Diese Straße würde sie bis in die reiche Gegend von Playa del Rey bringen. „Okay.“ Bitte tu es nicht. Das wird alles ruinieren. „Du stehst mir so nahe, wie kein anderer auf dieser Welt“, sagte er sanft. „Und ich habe den Eindruck, dass es dir mit mir nicht anders geht. Habe ich recht?“ „Ja.“ Fahr doch etwas schneller, wir sind fast da. Ich muss aus diesem Auto raus. „Aber wir haben nichts in diese Richtung unternommen“, sagte er. „Wohl nicht“, murmelte sie unsicher. „Ich möchte das gerne ändern.“ „M-hm.“ „Ich bitte dich hiermit ganz offiziell um ein Date, Keri. Ich will am Wochenende gerne mit dir ausgehen. Würdest du mit mir zu Abend essen?“ Sie antwortete nicht sofort. Als sie schließlich den Mund öffnete, um etwas zu sagen, war sie selbst nicht sicher, was es war. „Besser nicht, Ray. Aber danke für die Einladung.“ Ray starrte geradeaus auf die Straße. Sein Mund stand ein bisschen offen, aber er sagte nichts. Auch Keri war erstaunt von ihrer Antwort und kämpfte schweigend gegen den Drang an, aus dem fahrenden Auto zu springen.
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