Kapitel 2: Die Stille vor dem Sturm

1206 Words
Während die Worte des Fremden in ihrem sterbenden Bewusstsein zerfaserten, schien die Wirklichkeit selbst zu zersplittern – als ob ihre Existenz sich in Nebel auflöste und zugleich neu formte. Etwas begann sich zu bilden, noch vage, aber pulsierend, als würde ihre Seele sich weigern, im Nichts zu vergehen. „Habt ihr es gehört?“ „Er hat sich seiner entledigt - endlich.“ „Wirklich? Dieser Mischlingsbastard! … mit den Abtrünnigen eingelassen?“ „Wie … so tief sinken?“ „Cato … ließ ihn leiden.“ „… andere abschrecken.“ Das Geraune verlor sich in der Ferne, verklang im Nebel, der sie umfing. Zurück blieb Jinx, die sich ratlos vor einem Pfad wiederfand, der ihre Seele vorwärtslockte. Die nebligen Wände schienen aus Geflüster zu bestehen. Aus Schatten, die sich um ihren Geist legten und an ihrem Willen zu zerrten, sie langsamer machten und ihr Innerstes mit Kälte füllten. Sie selbst war durch Lügen und Gerüchte zu Fall gebracht worden. Ihr gesamtes Wesen schreckte vor diesem Weg zurück, der von den Werkzeugen ihrer Feindin gepflastert zu sein schien. Doch der Schleier des Vergessens ließ ihr keine Wahl. Undurchdringlich wogte der Nebel, raubte ihr die Sicht und ließ nur den Pfad vor ihr erkennen. Also schritt sie voran. Was sollte ihr hier noch widerfahren? Aurelia hatte ihr bereits alles genommen. Die Zeit des Zögerns war vorbei. Etwas Unausweichliches hing in der Luft und lenkte ihre Schritte durch die wabernden Grenzen ihrer neuen Realität. Die Schicksalsweber hatten eine Botschaft für sie – sie konnte es fühlen. Jenseits der Grenzen des Todes verflocht sich ein fremder Lebensfaden mit dem ihren – unausweichlich, unaufhaltsam. Als die Finsternis sie vollkommen verschluckte, taumelte sie kurz, dann setzte sich ihre Realität neu zusammen. Der erdige Duft eines Waldes drang in ihre Sinne. Blätter raschelten leise, der Wind strich durch die Nacht. War dies die Wirklichkeit? Oder eine Täuschung des Jenseits? Ein Schatten neben ihr zog ihre Aufmerksamkeit auf sich – eine starke Präsenz, lebendig und fremdartig. Als sie ihren Blick nach rechts lenkte, erstarrte sie. Ein gewaltiger Wolf kauerte dort, als wäre er Teil der Dunkelheit selbst. Sein Fell verschmolz mit der Nacht, doch seine Augen – ein unnatürlich helles Grau – durchdrangen die Schwärze mit einer eisigen Intensität. Ein Raubtier. Ein Alpha. Die Verbindung war da, spürbar, pulsierend – ein unausweichlicher Faden, der sie hierhergeführt hatte. Doch der Wolf nahm keine Notiz von ihr. Seine Aufmerksamkeit lag woanders, sein starrer Blick auf eine Biegung der Straße gerichtet. Weitere Wölfe. Angespannt, lauernd. Der Moment war nahe. Niemand bemerkte sie. Sie war nichts weiter als ein Geist – ein Schatten in einer fremden Welt. Warum war sie hier? Jinx ließ sich in ihre Rolle fallen. Sie wartete. Beobachtete. Und dann begann die Nacht, ihre Geschichte zu erzählen. *** Hinter dichten Büschen, verborgen am Rand der Langen Straße, kauerte der Alpha der Eisschwingen. Die Straße selbst wand sich in zahllosen Windungen durch den Großen Wald – von den salzigen Einöden der östlichen Steppe bis zum fernen Ozean im Westen. An Remus’ Rechten verbarg sich Kev, sein Beta. Sein scharfer Blick huschte über die Straße – taktierend, kalkulierend, sein Verstand bereits mehrere Schritte voraus. Neben ihm musterte Merriam mit wachsamen Augen die dunklen Schatten jenseits des Weges, während Danilo zu seiner Linken regungslos verharrte – ein Fels in der Dunkelheit, dessen ruhige Entschlossenheit eine stille Konstante war. Im Dickicht verborgen lagen die übrigen Krieger – vierzig der Besten. So gut, dass nicht einmal Remus sie erkennen konnte. Ein scharfer Hauch von Zitronensaft und Natron lag in der Luft – sorgfältig gewählt, um die animalische Wildheit ihrer Wölfe zu übertünchen. Noah, Remus’ Kontakt bei den Stahlklauen, hatte ihm den entscheidenden Hinweis gegeben: Ein geheimer Warentransport sollte sich heute Nacht durch den Wald bewegen. Cato, sein Halbbruder und Alpha der Stahlklauen, war in die Enge getrieben. Die Versorgungslage spitzte sich zu, und seine Wölfe würden ihn bald infrage stellen. Dieser Überfall war kein gewöhnliches Manöver – es war der Höhepunkt eines stillen Krieges. Und Remus wusste, dass es keine Alternative gab. Sein Bruder würde sich seiner Herausforderung zum Zweikampf stellen müssen. Und er würde ihn nicht verschonen. Catos Regenerationskräfte waren legendär, ein Vermächtnis ihres Vaters, Gaius Eisauge. Doch Remus trug ein anderes Erbe in sich – die übernatürliche Schnelligkeit seiner Mutter, einer Hexe des Zwielichtzirkels. Er war ein Schatten in der Luft, schneller als ein Gedanke. Cato würde ihn nicht einmal treffen. Ein flüchtiger Gedanke schoss ihm durch den Kopf – eine Erinnerung daran, dass er sich gewünscht hatte, es wäre nie so weit gekommen. Doch dieser Krieg würde nicht enden, solange sein Bruder atmete. Ein schwacher Windstoß brachte einen neuen Duft zu ihm. Leder, Maschinenöl, Schweiß. Der Transport näherte sich. Kev spannte die Muskeln an, sein Blick huschte suchend über die Schatten. Neben ihm atmete Merriam tief ein, die kühle Nachtluft verscheuchte ihre Nervosität. Danilo wartete still auf ihren Plan vertrauend. Das leise Rascheln im Dickicht vermischte sich mit dem fernen Brummen eines Motors – verborgen, doch unvermeidlich näherkommend. Die Luft knisterte vor Spannung. Sie waren bereit. Mit einer knappen Handbewegung wies Remus Danilo an, die übrigen Kämpfer lautlos zu koordinieren. Die Eskorte war die letzte Unbekannte. Ein übermächtiger Gegner konnte alles zunichtemachen. Doch je schneller und unbarmherziger sie zuschlugen, desto sicherer war der Sieg. Der Plan war klar: Sobald der erste Lieferwagen zum Stehen kam, würde die Signalrakete das Zeichen für den Angriff geben. Zwischen den Wagen klafften große Lücken. Remus konnte nur die Krieger zwischen dem ersten Lieferwagen und dem dahinter folgenden LKW erkennen, der Rest des Konvois blieb verborgen hinter der Biegung. Der vorderste Lieferwagen befand sich nun direkt unterhalb des Abhangs, auf dem Remus und seine Krieger kauerten. Die Straße war ihre Falle. Die Beute hatte keinen Ausweg. Kev warf ihm einen letzten, bestätigenden Blick zu. Keine Worte waren nötig. Er fing das siegesgewisse Grinsen seines Betas auf – Kev bewegte sich zeitgleich mit ihm. Sein Grinsen war ein stilles Versprechen: Er würde an Remus’ Seite kämpfen, bis zum letzten Atemzug. Wie lautlose Schatten glitten sie den Abhang hinunter, die Dunkelheit ihre Verbündete. Zwei Werwölfe in der Fahrerkabine. Zwei in Wolfsform flankierten den Lieferwagen. Drei weitere Krieger mit langen Stahlschwertern hielten Wache. Wachsam, die Ohren zuckten bei jedem Geräusch. Doch ihre Haltung verriet Nachlässigkeit. Ein Fehler, den sie bereuen würden. Die anfängliche Unruhe wich einer eisernen Entschlossenheit. Jeder Zweifel verblasste. Es gab kein Zurück. Er war bereit. Remus sprang – ein lautloser Blitz aus Schatten und Kraft. Die Luft vibrierte von der plötzlichen Bewegung, und dann gab es nur noch Instinkt. *** Jinx, die längst zu einem Teil der Schatten dieser schicksalhaften Nacht geworden war, spürte die Unausweichlichkeit dieses Kampfes mindestens ebenso deutlich wie Remus und seine Verbündeten. Das tiefe Grollen der Motoren vibrierte durch ihr Innerstes, ließ die Knochen erzittern – als sei sie selbst Teil dieses bevorstehenden Sturms. Ein dunkles Echo dessen, was gleich geschehen würde. Doch trotz der gewaltigen Spannung, die die Luft erfüllte, lag ihre Aufmerksamkeit einzig auf dem schwarzen Wolf – groß, finster und beherrscht. Ein Alpha, daran bestand kein Zweifel. Und doch wusste sie nicht, wer er war, dieser Wolf, zu dem das Schicksal sie geführt hatte. War sie nur ein flüchtiger Schatten, verloren zwischen zwei Welten? Oder hatte das Schicksal längst entschieden, dass sie hierhergehörte?
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