Erstes Kapitel.Ich weiß ein Blümlein blaue
Von himmelklarem Schein;
Es steht in grüner Aue,
Es heißt: vergiß nit mein!1
Auf einem Vorhügel des Taunus, der auf der einen Seite eine weite Aussicht nach der alten grauen Stadt Mainz und den durch paradiesische Auen strömenden Rhein, auf der andern in die üppigen Umgebungen der mächtigen Reichs- und Handelsstadt Frankfurt, auf den zur Vereinigung mit dem Rheine hinabfluthenden Main, nach den blauen Berggipfeln des Odenwaldes und des Spessarts gewährt, stand ein Kapellchen, dessen reizende Lage ebensosehr, wie seine fromme Bedeutung, den vorüberziehenden Reisenden zu verweilen ermahnte. Indem der von einigen rohen Säulen getragene Vorderbau dieses Asyles der Frömmigkeit seinen Eingang der weiten offenen Gegend zuwandte und alle Bewohner dieses schönen Gaues zum Besuche einzuladen schien, lehnte sich die hintere Mauer an einen dichten, zu höhern Regionen aufsteigenden Buchenwald, aus dessen Zweigen sich ein hundertstimmiges Wechsellied seiner gefiederten Sänger erhob. Durch die Dämmerung dieses Waldes führten von der Kapelle aus mehrere Pfade nach den Burgsitzen der Edlen von Eppstein, von Kronburg und noch andern theils auf den Höhen, theils in den Thälern des Taunus gelegenen Wohnstätten. Noch jetzt, nachdem ein Zeitraum von beinahe fünfhundert Jahren zwischen den Ereignissen, für welche wir die Theilnahme der Leser zu gewinnen hoffen, und der Gegenwart liegt, erhält sich diese Stelle in dem andächtigen Sinne, den ihr die Vorfahren beigelegt, und wer das gesegnete Land von der Grenze des einst so berüchtigten Spessarts bis zu den heitern Nebenhügeln des Rheingau’s durchzieht, dem leuchtet das Hofheimer Kapellchen, im Laufe der Jahre vielfach neu erstanden, auf der Grundlage jenes alten, längst vermoderten Baues, wie ein Stern des Friedens und der Liebe von seinem dunkeln Waldgrunde entgegen. Die Waldsänger im Buchenhaine singen noch in denselben Weisen, wie damals, im ungetrübten Silberlichte glänzen Main und Rhein herüber, aber welche Wechsel sind seitdem an dem Kapellchen vorübergegangen, wie viel Großes ist gefallen, wie mancher Heldengeist, der wie ein Comet die Welt durchzog, in Nacht versunken, wie manche Blüthe deutscher Kraft in Staub geschwunden, endlich die Kaiserkrone selbst, die ein Jahrtausend lang der Gegenstand so vieler Kämpfe und Bestrebungen, der Höhepunkt aller irdischen Majestät war! Seht auf das Kapellchen, ihr Herrn der Welt, und wie klein muß euch dann Alles erscheinen, was ihr in den Verwirrungen des Kriegs gewonnen, wozu die Menschen euch mit ihrem Blute fröhnen mußten, seht auf die vermoderten Denkmale eurer Macht, die ihr für die Ewigkeit zu errichten glaubtet: sie zerstoben vor dem leisen Hauche des Unsichtbaren, der die Stätte des Friedens und der Andacht in allen Stürmen der Zeit, sie mit seinem Geiste belebend, erhielt und bewahrte!
Im Schatten dieses Kapellchens ruhete an einem schwülen Sommertage, in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, ein junger Mann, der mit leuchtenden Blicken die schöne Gegend zu seinen Füßen betrachtete. Aus seiner Miene sprach Ernst und Nachdenken, während ein leises Lächeln um seinen Mund anzeigte, daß ihm auch der Scherz und die heitere Bedeutung des Lebens nicht fremd seyen. Seine Gesichtszüge trugen das Gepräge jener Anmuth, die oft leichter gewinnt, als eine hohe, allen strengen Forderungen entsprechende Schönheit. Ebenso gehörte seine Gestalt nicht zu jenen kräftigen Gebilden, an denen die damalige Zeit reich war, allein das Ebenmaß der zierlich gebaueten Glieder, die leichte Haltung des schlankgewachsenen Körpers, die, als er sich auf einige Augenblicke erhob, um in das Innere der Kapelle zu blicken, sichtbar wurde, stimmten so sehr mit der angenehmen Bildung des Antlitzes überein, daß der junge Mann in seinem ganzen Wesen eine höchst wohlgefällige Erscheinung war. Seine Kleidung verrieth, daß er dem gelehrten Stande angehörte. Ein weitfaltiger kurzer schwarzer Mantel, sammetne Unterkleider von derselben Farbe, eine Pergamentrolle, nebst Feder und Dintenfaß im Gürtel, waren die Attribute, welche ihn als einen Baccalaureus oder Magister kennbar machten, wenn er nicht vielleicht schon gar in der Doctorwürde den höchsten Grad der Gelehrsamkeit erreicht hatte. Sein Haupt war mit der damals unter den jungen Modeherrn allgemein gebräuchlichen sogenannten böhmischen Gogel oder Kugel bedeckt, an der Seite trug er einen leichten Degen, der mehr ein Prunk- als ein Waffenstück schien.
Nachdem er mit einigen forschenden Blicken das Innere der Kapelle überschaut hatte, setzte er sich wieder auf die Stufen des Vorbau’s nieder. Er nahm die kleine Reisetasche, welche seine wenigen Bedürfnisse enthielt, zur Hand und öffnete sie. Hier begegnete zuerst dem Blicke eine Reihe glänzender chirurgischer Instrumente, die der junge Mann mit sichtlichem Vergnügen betrachtete; dann fand er in einem tief verborgenen Behältnisse einige Pergamentblätter, die, wie es sich nun zeigte, der Gegenstand seines Suchens gewesen. Indem sein Auge auf den wohlgebildeten Schriftzügen, welche sie enthielten, verweilte, schien ihn eine Wehmuth zu ergreifen, die aus den Tiefen seiner Seele hervorgehn mochte. Sein Blick wurde trüb, sein Angesicht düster und leise Seufzer drangen aus seiner Brust herauf. Er las mit großer Aufmerksamkeit eins der Pergamentblätter nach dem andern und verbarg sie dann sorgfältig wieder in das Innere seiner Reisetasche. Das letzte dieser Blätter erregte seine Theilnahme in einem erhöheten Grade:
»Armer Mann,« sagte er weich vor sich hin, »wie spricht aus diesem Liede die Sehnsucht nach der Welt, deren Freuden auf ewig für dich verschlossen sind!«
Mai, Mai, wonnigliche Zeit,
Die jedem Freuden beut,
Ohn’ mir. Wer meinte das?
»Die süßen Klänge, die dir aus seligen Erinnerungen, aus der tiefen Erkenntnis dessen, was du verloren, hervorgehn, strömen mächtig und ergreifend durch ganz Deutschland, aber dir dienen sie nur, dich deine Leiden, deine entsetzliche Einsamkeit tiefer empfinden zu lassen. Armer! Wie oft schon ist der Mai mit seinem neu erwachenden Leben, mit dem Willkommenrufe, den ihm die glücklichen Menschen zujauchzen, an den Ufern des Rheins hinabgezogen und du hörst das Frohlocken der Menschen, du siehst ihr freudiges Treiben, es ruft dich mit tausend bezaubernden Klängen hinüber zu denen, die du so sehr liebst, aber – du bist gebannt an die Scholle Erde, die dir immer dein Elend neu erzählt, sie würden dir den Tod für die Liebe geben, die du ihnen bringen wolltest. Da sitzest du nun in deiner Einsamkeit und klagst wie die Nachtigall, die aus verborgenem Dunkel ihre Lieder sendet.«
Der junge Mann hielt das Pergamentblatt noch in der Hand, sein Auge schien sich nicht von den Schriftzügen trennen zu können. Da tönte von dem Fuße des Hügels herauf ein übellautender Gesang aus rauher männlicher Kehle. Unwillig sah der Ruhende hinab. Noch verbargen die Gebüsche, die den Hügel umgaben, den Herannahenden. Der junge Wandrer legte behutsam das Pergamentblatt in sein Behältniß zurück und verschloß die Reisetasche mit einem Drucke an eine verborgene Feder, die nicht leicht jemand, dem das Geheimnis nicht bekannt war, entdecken konnte. Indessen wurde jener Gesang vernehmlicher und in einer langsamen, halb feierlichen, halb lächerlichen Weise drangen zu dem Ohre des erstaunten Zuhörers die Worte:
»Es ging sich unsre Fraue – Kyrieleison.
Des Morgens in dem Thaue – Halleluja.
Da begegnet ihr ein Junge – Kyrieleison.
Der Bart war ihm entsprungen – Halleluja.
Gelobt sey’st du Maria!«2
Entrüstet blickte der junge Mann nach der Stelle, wo derjenige erscheinen mußte, der, wie es ihn dünkte, in einem schamlosen Liede das Heiligste lästerte. Zu seinem vermehrten Befremden trat jetzt, keuchend unter der Last eines vollgefüllten Sackes, ein Bettelmönch von kleiner, untersetzter Gestalt aus dem Gebüsche hervor. Indem er mühesam den Hügel erstieg, wiederholte er mit gepreßter, von schweren Odemzügen unterbrochener Stimme jenen Gesang, bis er vor den Stufen der Kapelle stand, hier seinen Sack abwarf und sich nun aus seiner gebeugten Stellung empordehnte. Ohne eine Überraschung zu äußern, nahm er den Fremdling wahr, der bereits unter dem Vordache der Kapelle weilte, nickte ihm mit einem gutmüthigen Lächeln zu und setzte sich dann behaglich an seine Seite nieder. In dem ganzen Wesen des Barfüßers lag jene Treuherzigkeit, jener Muthwille und die heitre, scherzhafte Laune, welche den Klosterbrüdern, die zu Terminirgängen ausgesandt wurden, eigen zu seyn pflegten. Sein wohlgepflegter Körper, sein rothglühendes Antlitz zeigten, daß er die Beschwerden seines Wanderlebens, durch leibliche Genüsse, wie sie ihm sein Verkehr mit der Welt bot, zu versüßen wußte. Bei aller Treuherzigkeit, die in seinen Zügen lag, war auch ein Ausdruck von List in den kleinen grauen Augen, von Schalkheit um die aufgeworfenen Lippen nicht zu verkennen. Indem er den Platz neben dem jungen Manne einnahm und einen Blick in die weit ausgebreitete Gegend warf, sprach er:
»Ein schönes Plätzchen hier! heiliger Franciscus, ora pro nobis! Dämpfe unsere Gelüste, mache die überlaute Stimme der Begierde verstummen! Aber sagt mir, junger Mann, ist es einem armen Klosterbruder, der das Gelübde der Entbehrungen abgelegt, zu verdenken, wenn bei dem Anblicke so vieles Reichthums, wie hier vor unsrem Auge verschwendet liegt, allerlei weltliche Wünsche in seiner Seele erwachen? Seht dort die Schätze der reichen Handelsherrn von Frankfurt, auf dem Main die schwer beladenen Schiffe der Niederländer, rechts hin die Weinberge des gesegneten Stiftes Hochheim – o wer doch das Alles in seinem Sacke mitnehmen könnte!«
Unter einem seltsamen, zwischen Ernst und Scherz schwankenden Seufzer, öffnete nach diesen Worten der Bettelmönch seinen Zwerchsack und wühlte unter den mannigfachen Gegenständen, welche dieser enthielt, mit suchender Hand umher.
»Für Einen, der sein Leben der Armuth gelobt,« nahm indessen der junge Mann das Wort, »hegt Ihr, mein würdiger Pater, in Wahrheit Wünsche, die Ihr als eine Verlockung des Gottseybeiuns bekämpfen müßt. So auch kann ich den mehr als weltlichen Gesang, den Ihr, als Ihr den Hügel heranstieget, angestimmt, nicht anders, als ein Erliegen unter satanischer Versuchung betrachten –«
»Wie – was?« fiel ihm, die Arme erstaunt unterschlagend, der Barfüßer in’s Wort: »ein Lied, das ein hochwürdiger Prior im Breisgau selbst gedichtet, wollt Ihr eine Verlockung des schwarzen Höllenfürsten nennen? Ihr seyd ein arges Weltkind, denn Ihr nehmt die Sache im argen Weltsinne. Uns Reinen aber ist Alles rein und so wird das Lied denn auch in allen Ländern deutscher Zunge unter Geistlichen und Weltlichen als ein Preißlied der heiligen Jungfrau gesungen. Die Heilige wandelt daher im Morgenthaue der himmlischen Milde und der Jüngling, an dessen Herzen der Bart des Glaubens entsprungen ist, so daß er nun zu einem Manne des Glaubens geworden, begegnet ihr und ruft im heißen Gefühle seines Dankes die Worte: Gelobt seyst du, Maria! Was könnt Ihr daran mäkeln, daran aussetzen? Freilich hört sichs nicht an, wie ein Minnelied des berühmten Meister’s Lukas auf der Ingelheimer Au im Rhein, aber dafür ist der Dichter auch ein gottgeweihter Mann, ein heiliger Prior und nicht ein ausgestoßener Mönch, ein verabscheuter Aussätziger, wie der Meister Lukas!«
Der Barfüßer, der diese Erklärung in einem Tone, der die Mitte zwischen ernster und launiger Zurechtweisung hielt, gegeben, bemerkte, indem er sich wieder mit dem Inhalte des Zwerchsackes beschäftigte, nicht, daß seine letzte Äußerung einen schmerzlichen Eindruck auf seinen unbekannten Gesellschafter zu machen schien. Dieser blickte trüb hinaus in die weite Gegend, seine Gedanken mochten in der Ferne weilen, der heitre Zug um seine Lippen hatte sich in Ausdruck der Wehmuth verwandelt.
»Nehmt einen Schluck aus meiner Wanderflasche und einen Imbiß, so gut ihn ein armer Bettelmönch zu geben vermag!« begann nach einer kurzen Stille, wiederum der Barfüßer, indem er Flasche und Lebensmittel aus dem Sacke hervor kramte: »Der Wein ist reiner Erbacher aus dem Mutterfäßchen der alten Else im rothen Löwen zu Schierstein, die gesalzenen Schweinskinnbacken hat mir ein wackrer Metzger in Ellfeld als ein Gelöbnis für den heiligen Franciscus, der ihn auf sein inniges Gebet von heftigem Zahnweh befreit, mitgegeben. Wollte der Heilige, daß der wackre Mann doch einmal über den ganzen Leib krank würde, so blieb an dem Kinnbacken auch noch das Übrige hängen!«
Der junge Mann nahm die ebenso gutmüthig, wie freundlich ausgesprochene Einladung des Klosterbruders an. Er fühlte sich von der weiten Wanderung, die er schon im Laufe der Morgenstunden zurückgelegt hatte, erschöpft, er wollte noch am heutigen Abend in der reichen Handelsstadt Frankfurt eintreffen und bedurfte zu diesem Gange eine Auffrischung seiner Kraft. Dabei hatte das Wesen des Barfüßers, das bei der weitern Annäherung sich so heiter und wohlwollend an den Tag legte, ihn mit dem ersten widrigen Eindrucke seiner Erscheinung ausgesöhnt und er hoffte von ihm, der in dieser Gegend zu Hause schien, eine oder die andere Kunde von Bedeutung zu erhalten. Alles, was er von seinem Ruhepunkte aus erblickte, mahnte ihn an frühere schöne Tage. In dem mächtigen Frankfurt erkannte er die lang entbehrte Heimath, die Wiege seiner Kindheit. Wie oft hatte er in heitern Spielen mit andern Knaben jene reiche Ebene durchzogen, die sich bis zum Fuße des waldgekrönten Taunus hindehnt, wie oft im schaukelnden Kahne sich von den Silberwogen des Mains forttragen lassen, wie oft in den lebensfrohen Tagen der Weinlese jene Hügel jenseits des Flusses besucht, die dann vom Jubelrufe der Winzer und der Besucher aus der Stadt widerhallten! Dort, wo sich die Kuppel des Domes, damals noch von keinem stattlichen Thurmbau überragt, wölbte, lag das Haus der Eltern. Jahre waren hingegangen, seit er sie nicht gesehen, und indem er ihrer gedachte, trat das Bild der lieblichen Waise Regina, die mit ihm erzogen worden, in seiner damaligen heitern Kindlichkeit erfreulich vor seine Seele.