Erstes Kapitel.-4

2268 Words
»Beruhige dich, mein Töchterlein!« sagte der Mönch. »Der Herr, der in seiner unerforschlichen Weisheit deine Eltern von der Erde genommen, wird dir den schweren Verlust ersetzen. Wir alle sind hienieden Wandrer, die er von seinem großen Tisch ernährt und auch dir wird der Brosame aus seiner Hand nicht fehlen.« Das Kind versuchte aufzustehn, allein es sank wieder matt auf den Sitz zurück. Salentin erkannte, daß seine lange Entbehrung von Speise und Trank die Ursache dieser Schwäche sey. Hier mußte der Vorrath des Mönches, der sich vorsorglich nicht von allen Lebensmitteln entblößt hatte, aushelfen und in der That zeigte die junge Imagina, nachdem sie das erste, dringende Bedürfniß befriedigt, wieder die erwachenden Kräfte einer Person, die dem Mangel, aber nicht dem Anfall einer Krankheit erlegen war. Sie blickte zurück nach der Wohnung, in der sie glückliche Tage der Kindheit verlebte, aber auch nun den ersten bittern Schmerz des Lebens in all seiner Herbigkeit erfahren hatte. Sie sprang auf, sie wollte in das Haus zurück. Erst nach einiger Zeit gelang es dem sanften Zureden der beiden Männer ihr das Zwecklose dieses Unternehmens begreiflich zu machen, die stürmischen Gefühle ihres Innern einigermaßen zu beruhigen und ihre Gedanken auf die Zukunft zu richten. Sie hörte auf zu weinen, nicht weil ihr Schmerz sich milderte, nein! weil der Quell ihrer Thränen versiegt war. »Wo soll ich hin, was soll aus mir werden?« schluchzte sie, die Hände ringend. »Ich habe weder Freunde noch Verwandte, die sich meiner erbarmen und, wenn es auch wäre, so würden sie ihre Thüre derjenigen verschließen, die aus dem Pesthause kommt. O laßt mich zurück, laßt mich neben den Leichen meiner Eltern hinsterben! Es war ein unsinniges Gelüst von mir, das mich nach Hülfe, das mich unter die Menschen trieb. Ich bin ihnen eine Fremde, sie haben kein Herz für eine verlassene Waise.« Düster sah das unglückliche Kind, dem mit den Eltern jede Hoffnung verloren schien, vor sich hin. Das übermächtige Gefühl ihrer Verlassenheit machte sie zu einem starren Bilde der Verzweiflung. Sie schien wieder nur in den Erinnerungen an Alles, was ihr das Mißgeschick geraubt, zu leben; sie achtete nicht ihrer Retter, sie konnte sich nicht zu der Empfindung der Dankbarkeit erheben, welche sie diesen schuldig war. »Da kommt uns freilich ein casus dubiosus in den Weg,« sprach indessen bedenklich der Pater zu seinem jungen Freunde. »Wohin mit dem Kinde? Das Haus des heiligen Franciscus ist ihrem Geschlechte verschlossen, hier muß die Wohlthätigkeit sich dem strengen Gesetze der Ordensregel unterwerfen. Warum ist sie kein Knabe, warum nicht ein Imaginus statt eine Imagina? Dann wäre der Waise und uns geholfen. Ich nähme den Imaginus mit in’s Kloster und er könnte dermaleinst ein wackrer Diener der Kirche werden, der dem Terminirsacke keine Schande machte.« »Sie geht mit mir,« versetzte entschlossen Salentin. »Im Hause meiner Eltern soll sie die Zufluchtsstätte finden, die ihr andre Menschen grausam versagen. Komm mit, Imagina!« wandte er sich an das Mädchen. »Dich hat das Unglück schon frühe heimgesucht, aber die Zukunft besitzt auch noch Freuden, die dich entschädigen können. In deinem Alter wurzelt der Schmerz nur leicht; du wirst Freunde finden, die auch ein Herz für dich haben, du magst immerhin die verlorenen Eltern beweinen, aber auch deine Seele der Liebe öffnen, die dir auf dem neuen Lebenspfade entgegenkommt.« Das Kind sah ihn verwirrt an. Sie mußte ihre Gedanken sammeln, um sich den Sinn seiner Worte klar zu machen. Dann röthete sich ihre Wange, ihr Auge belebte sich, in stürmischer Wallung ergriff sie die Hand des jungen Mannes und rief: »Ihr seyd ein Bote der heiligen Mutter Gottes, den sie der Verlassenen sendet. Ja, sie hat mein Gebet erhört und ihr Engel tritt zu mir! Schwebt nicht der Heiligenschein um Euer Haupt, spricht nicht aus Euern Zügen eine himmlische Verklärung, wie in denen des Heiligen Georg, der den Drachen schlug? Laßt mich Eure Magd seyn, laßt mich in Demuth Euch dienen! Mein Leben soll Euch angehören, meine Wünsche, meine Gebete! Gott will, daß Imagina noch fortleben soll und durch Euch verkündet er mir seinen Willen. Ich gehe mit Euch! Die Menschen haben mich ausgestoßen, mich aus dem Leben gewiesen, mich begraben. Ihr öffnetet furchtlos das Grab der Verpesteten, Ihr rieft mich in das Leben zurück, Ihr seyd mein Herr, mein Gebieter: nehmt mich an als Eure Magd.« Ehe Salentin es verhindern konnte, bedeckte sie seine Hand mit glühenden Küssen. Ihr Auge hing nur an ihm, sie achtete nicht des Paters, der wiederum Worte des Trostes an sie richtete. Es schien, als bedürfe sie dessen nicht mehr, als ergreife sie das neue Daseyn, in das sie trat, mit Allgewalt, als bemächtige sich ihrer ein Gefühl, das ihrem Schmerze die Wage hielt und ihn für den Augenblick verstummen ließ. Salentin machte sich gerührt von ihr los. »Du wirst als eine Freundin im Hause meiner Eltern gehalten werden;« sagte er mit ernster Freundlichkeit. »Niedre Seelen trennt das Unglück; edle vereinigt es. Beruhige dich, Kind, und sieh Alles, was dir begegnet ist, als eine Nothwendigkeit an, der du dich mit frommer Hingebung unterwerfen mußt. Ich bin nur ein schwaches Werkzeug in der Hand Gottes und seiner Heiligen. Ihnen mußt du danken, nicht mir.« Die Wandrer näherten sich mit dem Kinde, das sie einem schrecklichen Tode entrissen, der Stadt. Schon lagerte sich abendliche Dämmerung auf diese und ihre Umgebung. Die Höhen des Taunus färbten sich dunkler und zeigten sich bald nur in scharfen Umrissen als finstre Massen. Imagina schritt schweigend neben den beiden Männern hin. Halblaut, so daß es ihr Ohr nicht erreichte, erzählte Pater Clarus seinem Gefährten noch Manches aus dem häuslichen Leben ihrer Eltern und von ihrem eigenen Wesen. Die Eltern waren gute stille Leute gewesen, die sich an dem heitern, lebhaften Gemüthe des Kindes erfreut. Immer hatte Imagina ein fröhliches Herz und einen aufgeweckten Geist an den Tag gelegt. Der Barfüßer war überzeugt, daß Beides, wenn unter dem wohlthätigen Einflusse der Zeit die Wunde ihrer Seele heile, zurückkehren werde. Sie besaß manche Kenntnisse, die damals unter Leuten ihres Standes nicht gewöhnlich waren. So hatte sie, als Pater Clarus durch eine Unpäßlichkeit mehrere Wochen lang im Hause ihrer Eltern zurückgehalten worden, mit Leichtigkeit Lesen und Schreiben, worin er sie zu seiner Unterhaltung unterrichtet, erlernt. Eine besondere Empfänglichkeit besaß sie für Sagen und Legenden, die sie theils von ihm, theils aus dem Munde der frommen Mutter vernommen. Ihr Gedächtniß bewahrte sie treu und ihre Phantasie beschäftigte sich gern damit. Wie leicht konnte sie also in jenen Augenblicken, wo sie in Salentin ihren Retter erkannte, in dem damaligen hocherregten Zustande ihrer Seele, sich verleitet finden, ihn für einen Himmelsboten, für einen Heiligen selbst zu halten! Ohne daß den Wandernden etwas Besonderes begegnet wäre, langten sie in den nächsten Umgebungen von Frankfurt an. Schon konnten sie aus dem Innern der Stadt das Geräusch ihres lebendigen Treibens vernehmen, schon sahen sie die Leuchte des Wächters auf dem Nikolaithurm, die, wie ein seltsam gebildeter Stern, aus der Nacht herabglänzte. Am Wege zeigte sich ein Gebäude von ansehnlichem Umfange, mit einer weiten Umzäunung umgeben. Es schien von Holz erbaut und bestand, ungeachtet des bedeutenden Raumes, den es einnahm, nur aus dem niedrigen Erdgeschosse. Durch die kleinen Papierfenster schimmerte eine düstre Beleuchtung, von rauhen Kehlen erklang ein übellautender, weltlicher Gesang aus dem Innern. »Vale, Salentine!« sprach der Bettelmönch. »Hier ist der Sitz der Armuth, die elende Herberge, die ihre Pforte jeglichem eröffnet, ohne daß der Wirth an der Thüre steht und mit dem Instinkt eines Spürhundes den Eintretenden taxirt: ob er ihm die Zeche mit doppelter oder einfacher Kreide anschreibe. Hier wird Alles gleich vertheilt, Brod und Wasser nach Belieben, die Rechnung ist gemacht, ehe man eintritt, und man bezahlt sie mit einem ›Gott lohn’s‹ bei’m Abmarsche. Sanct Franciscus beschütze dich, mi file, und die heilige Jungfrau wache über dem Kinde in deinem Geleite!« Der junge Mann wollte den Pater bereden, mit ihm in die Stadt zu gehen und im Hause seiner Eltern Wohnung zu nehmen. Der Minorit aber beharrte fest auf seinem Entschlusse. »Hier ist meine Einkehr schon seit Jahren;« sagte er. »Ich habe lange genug in den Häusern der Vornehmen und Reichen mich nach ihren Launen und Gewohnheiten schmiegen und bücken müssen, um der Sache überdrüssig zu werden. Mein Rücken ist krumm, meine Glieder sind steif geworden. Die Zeiten sind vorüber, wo ich meine Lust dran fand, den Hausfrauen nach ihrem Behagen vorzuschwatzen, dem Hausherrn durch Scherzreden Kurzweil zu machen, die Kinder zu hätscheln und mit dem Gesinde, besonders mit dem Zapfknechte, mich auf einen vertraulichen Fuß zu setzen. Je älter ich werde, desto mehr behagt mir die Freiheit. In der elenden Herberge zehre ich auf gemeiner Stadt Unkosten und der heilige Franciscus hat sein Wohlgefallen an dem Bruder der Armuth, der unter den Armen seine Hütte aufschlägt. Aber ich spreche bei Euch vor, Salentine: morgen oder übermorgen und dann magst du der Hausmagd einen Wink geben, daß sie meinen Zwerchsack nicht allzukärglich bedenkt.« Mit diesen Worten entfernte sich Pater Clarus und Salentin hörte ihn bald darauf an die Thüre der Herberge klopfen, welche ihm nach wenigen Augenblicken geöffnet wurde. Als der junge Wandrer mit seiner schweigsamen Begleiterin, die nun anfing, sich über die nächste Zukunft zu beunruhigen, vor dem Thore der Heimathsstadt anlangte, sollte dieses so eben geschlossen und die Zugbrücke, die über den Wallgraben führte, aufgezogen werden. Nur indem Salentin seinen Namen nannte und sich als einen der angesehensten Patriciersöhne auswies, wurde ihm der verspätete Eintritt gestattet. Nach den Mittheilungen des Minoriten erwartete er, die Einwohner der Stadt in jene stille, ängstliche Spannung versenkt zu finden, welche die Begleiterin eines über jedem Haupte stets so drohenden Unheils, wie die Pest zu seyn pflegt; allein mochte man sich dem Unvermeidlichen bereits geduldig gefügt, mochte die ernstere Betrachtung dem gewöhnlichen Leichtsinne der Menge sich unterworfen, mochte das Unglück selbst bei näherer Bekanntschaft seine Schrecken verloren haben: genug! in den Straßen herrschte ganz das laute, bewegliche Leben der frühern Zeit, selbst Ausrufungen der Lust und des Muthwillens ließen sich vernehmen und aus den zahlreichen Trinkstuben der Bürger, deren jedem, sobald er Überfluß an Wein hatte, die Erlaubniß zustand, diesen öffentlich zu verzapfen, ertönte wüstes Lärmen, Gesang und Becherklang. Nur als Salentin mit seiner jungen Gefährtin, die sich in dem Menschengewühle ängstlicher an ihn schmiegte, an einer dunkeln Seitengasse vorüberschritt und aus dieser mit beweglicher Eile ein finsterer Zug herannahete, als zugleich das Todtenglöcklein der benachbarten Kapelle geläutet wurde, stiebte unter dem Warnungsrufe: »die Pest, die Pest!« die Menge auseinander und in einem Augenblicke war die Straße, die noch eben ein Bild des regsten Treibens gezeigt, völlig verödet. Salentin selbst drängte hastig das Kind an seiner Seite weiter, das dumpfe Rollen der Leichenkarren klang ihnen schaurig nach und erst, als der junge Mann an die Pforte des Elternhauses klopfte, verlor sich der düstre Eindruck dieser Begegnung, unter frohen Vorgefühlen eines glücklichen Wiedersehens, aus seiner Seele. Diese heitern Ahnungen wurden nicht getäuscht. Die blinde Mutter schloß den wiederkehrenden Sohn mit freudiger Lebendigkeit in ihre Arme. Der Vater, ein rüstiger Greis, den Erfahrungen und Leiden mannigfacher Art ernst gemacht, bot ihm mit frohglänzendem Blicke die Rechte, Regina, die Waise, zur reizenden Jungfrau herangeblüht, lächelte ihm durch Thränen entgegen und trat, als sein Auge mit bedeutungsvollem Ausdrucke auf ihr ruhete, erröthend und verschämt hinter diejenige, die sie als Mutter ansehn durfte und mit kindlicher Treue verpflegte. Imagina hatte sich schüchtern und mit banger Erwartung in einen Winkel des Gemaches zurückgezogen. Da ergriff Salentin sie bei der Hand und führte sie den Eltern zu. Wenige Worte reichten hin, diese mit dem Schicksale des unglücklichen Kindes bekannt zu machen. Frau Gisela, Salentin’s Mutter, ließ sie näher treten, legte ihre Rechte auf das Haupt der Verlassenen und sagte in einem Tone der Güte und des Mitleids, der tief aus dem Herzen der würdigen Matrone drang: »Die Heiligen segnen deinen Eingang in dieses Haus! Sie haben den lang vermißten Sohn an dieses Mutterherz zurückgeführt, sie haben dich ihm mitgegeben, daß ich auch dir eine Mutter sey, daß ich durch ein Werk der Liebe an dir, ihnen meine Dankbarkeit an den Tag lege. Sieh dieses Haus als deine Heimath an und fühlt sich dein jugendliches Gemüth von einer Sorge bedrängt, von Zweifeln beunruhigt, so vertraue dich mir und es soll dir an Trost und Rath, an mütterlichem Wohlwollen nicht fehlen.« Imagina konnte den Gefühlen, welche diese liebevolle Aufnahme in ihr erweckte, nicht widerstehn. Sie sank weinend der edlen Frau zu Füßen. Diese übergab das bewegte Kind Reginen und während Herr Hanns vom Rheine sich erinnerte, den Vater der Armen auf seinen Jagdzügen mit dem Grafen von Solms gesehn zu haben, schlossen in einer fernen Fenstervertiefung der häuslichen Halle die beiden Waisen einen Bund schwesterlicher Liebe, von dem sie nicht ahnten, daß er sich einst in schweren Prüfungen des Lebens bewähren müsse. Dieser Abend, der dem Hause der Eltern ihr theuerstes Kleinod zurückgab, verging heiter unter den Erzählungen Salentin’s von seinem eingezogenen Studienleben in Paris, von den Erfahrungen, die er dort und auf seinen Reisen gesammelt, von Ereignissen fröhlicher Art, die ihm während seiner Abwesenheit begegnet. Es war ihm darum zu thun, die lieben Eltern in eine unbefangene Stimmung zu versetzen, wie sie ihm als die sicherste Wehr gegen die Bedrängnisse jener unglücklichen Zeit erschien. Dabei beobachtete er, ohne es wahrnehmen zu lassen, mit großer Aufmerksamkeit die Augen der Mutter und konnte sich, als die Familie, zu der sich Regina und nun auch Imagina rechnen durften, zur Nachtruhe von einander schied, die frohe Versicherung geben: es sey der Kunst, welcher er den Fleiß und die geistigen Anstrengungen mehrerer Jahre geopfert, nicht unmöglich, den Erblindeten das Licht des Tages und mit ihm die freudige Anschauung der göttlichen Schöpfung, den Anblick der Lieben, die der zart empfindenden Frau so nahe am Herzen lagen, wieder zu eröffnen.
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