»Laßt uns aufbrechen und unsern Weg fortsetzen!« hob wiederum der Pater an, nachdem er die Überreste des gehaltenen Mahles sorgfältig in der Vorrathskammer seines Zwerchsacks aufbewahrt. »Auch meiner heutigen Tagefahrt Ziel ist die reiche Stadt am Main, denn ich muß einmal wieder anklopfen an die Thüren der Patricier und Handelsherrn, ob sie nicht einen Bissen haben für die fromme Armuth. In Höchst harret mein ein Laienbruder unsres Klosters, der einstweilen die Gaben des ehrlichen Metzgers in Ellfeld und der Mutter Else in Schierstein heimtragen mag in’s liebe Kloster. Frisch auf, Salentine! Über das wer und wohin haben wir uns nun hinlänglich verständigt; aber das woher mußt du mir noch unter Weg’s beantworten.«
Indem die beiden Wandrer rüstig und neu gestärkt den Hügel hinabschritten, begann der lustige Pater Clarus wiederum ein weltliches Lied zu singen, das mit den Worten anfing:
»Des Voglers Pfeife gar süße sang,
Da er thut den Vogelfang,
Der Bettelmönch erfreut sich baß,
Füllt er im Kloster Küch’ und Faß,
Gesellen feiern muntre Zeit,
Wenn Tanz und Spiel ihr Herz erfreut.«
Salentin hörte nicht auf die Fortsetzung des Liedes. Sein Herz klopfte in unruhigen Schlägen, während er sich der lieben Heimathsstadt näherte. Furcht und Hoffnung wechselten in seiner Seele. Des Paters Nachrichten aus dem Elternhause enthielten nichts Neues für ihn. Sie sprachen von einer Zeit, zwischen der nun schon der Raum eines Jahres lag und was konnte in diesen Tagen der Verwirrung und des Unheils nicht seitdem sich Alles ereignet haben? Er hatte lange in weiter Ferne gelebt, selten nur eine Kunde aus der Heimath erhalten. Monde waren vergangen, seit ihm ein treuer Bote das letzte Schreiben von Vatershand überbracht. Damals hatte noch nichts das stille, trübe häusliche Leben der Eltern gestört. Aber nun war die Pest mit allen ihren Schrecken auch in Frankfurt eingezogen, die Hungersnoth in ihrem Gefolge, die Zwietracht an ihrer Seite. Regina, die liebliche Waise, dachte er sich als heranblühende Jungfrau, er erkannte, daß er eine mehr als brüderliche Neigung zu ihr empfinde, er war um sie besorgt, wie um die Eltern. War der Blick in die Gegenwart dämmerig und zweifelhaft, so schien der in die Zukunft noch trüber und drohender. Von Italien herauf drängte immer näher die furchtbare Geiselfahrt und er konnte berechnen, daß mit ihm zugleich oder doch wenige Tage nach seiner Ankunft eine Schaar von mehrern Tausenden dieser wüthenden Fanatiker in der Vaterstadt eintreffen würde. Von diesen Gedanken beunruhigt, achtete er wenig auf die Umgebungen, durch welche sie ihre Wandrung führte, bis der Bettelmönch ihn anstieß und auf einige Häuser am Wege aufmerksam machte, die gänzlich ausgestorben schienen und vor deren Thüren Stangen, mit schwarzen Tuchlappen behängt, aufgepflanzt waren.
»Da hat die Pest aufgeräumt;« sagte der Bettelmönch. »Der Tod ist terminiren gegangen und hat in seinem weiten Sacke die Opfer heimgeschleppt, die ihm die Seuche gelobt. So findest du es rings um die Stadt. Auf den Dörfern ist das Sterben schrecklicher, als in den großen Orten, weil es an Hülfe fehlt. In die Häuser der Todtkranken dringt Diebsgesindel und reißt den Sterbenden das Bett unterm Leib weg. Heiliger Franciscus, erbarme dich unsrer! Wir sind allzumal sündige Menschen, wir erkennen das, wir bereuen unsre Sünden, wir möchten uns blind weinen darüber und dann sollen wir doch wieder lustig und heiter seyn, sollen Ruhe in der Seele pflegen, damit uns die Pestilenz nicht an unserer Feigheit und unserer Kleingläubigkeit anpackt.«
Ihr Schritt führte sie noch an mehreren solcher ausgestorbenen Weiler vorüber. Es war ein wunderlicher Anblick, den diese düstern Siegeszeichen des Todes im Schooße einer reizenden und blühenden Natur gewährten. Die Strassen waren verödet, keine fleißige Hand bewegte sich im Felde, was ihnen von lebendigen Wesen aufstieß, waren einige halbverhungerte Hausthiere, Hunde und Katzen, die ihnen heulend eine Strecke Weges nachliefen. Sie erreichten eine Kapelle in der Nähe eines größern Dorfs. Hier lagerte eine kleine Anzahl bleicher, leichenfarbner Menschen und wandte sich im jammervollen, stöhnenden Gebete zu der Gebenedeiten. Der Mönch eilte mit raschen Schritten vorüber; Salentin folgte langsam. So erreichten sie den Flecken Höchst. Hier hatte Pater Clarus bald sein Geschäft abgemacht, während der jüngere Wandrer sich der Bemerkung erfreute, daß die Bewohner dieses Ortes von der Seuche noch nicht so schwer heimgesucht schienen, als die der Umgebung. Es zeigte sich einige Thätigkeit in den Straßen, selbst ein gewisser Frohsinn, der das Unvermeidliche leicht nahm, war zu erkennen.
Der Flecken lag hinter ihnen und Salentin unterbrach nun die Stille, die seit einiger Zeit zwischen ihm und seinem Reisegefährten herrschte, mit den Worten:
»Ich segne den Entschluß, der mich nun vor Jahren schon aus der Heimath trieb. Damals gedachte ich nur der blinden Mutter und um ihretwillen wanderte ich nach Paris, daß ich dort die Heilkunst erlernte. Welche Freude, sagte ich zu mir selbst, wenn ich zurückkehre und dem todten Blick der Augen das blühende Leben, das Anschaun ihrer Lieben, die ganze Welt mit ihrer Herrlichkeit wiedergeben kann! Nun hat jener Entschluß seine Früchte getragen und ich hoffe nicht allein der lieben Mutter, sondern auch allen meinen Mitbürgern ein willkommener Helfer und Freund in der Noth zu seyn.«
»Also daher kommst du, Salentine!« versetzte Pater Clarus. »Aus Paris, aus dem Sitze der Gelehrsamkeit und der Weltlüste? Heiliger Franciscus, wer hätte denken können, daß der edle Sprosse des ritterlichen Herrn Hanns vom Rhein Schwerdt und Lanze gegen Salbentöpfe und Purgirgläser hingeben könnte! Aber du bist ein frommer Sohn, ein pius Aeneas! Freilich ist’s nun vorbei mit lustigem Stechen auf den Turnierplänen und die Edelfräulein werden die feinen Nasen rümpfen, wenn du ihnen mit dem Dufte aus deiner Pflasterküche nahe kommst, aber ein Medicus ist auch ein schätzbares Subject, denn er hilft der gesunkenen Leibeskraft wieder empor, er schärft den abgestumpften Appetit auf’s Neue, er belebt den Gaumen wieder zum Wohlgefallen am köstlichen Rebensafte.«
»Und neben dieser Kunst,« nahm lächelnd der junge Mann das Wort, »habe ich auch das Spiel der Waffen nicht vernachlässigt. Ich denke meinen Mann bei jedem Turnier zu stehn und unter den waffenkundigen Franzosen gibt’s wackre Ritter, denen ich mehr als einmal den Preis beim Stechen streitig gemacht.«
»Ritter und Medicus!« sagte kopfschüttelnd der Mönch. »Wie reimt sich das? Der eine ist berufen, Wunden zu schlagen, der andre sie zu heilen. Ein Geschäft arbeitet gegen das andre; du bist der Feind des Medicus, wenn du verletzest, und der Feind des Ritters, wenn du heilst. Gibst du dem Salbentopfe den Vorzug, so wird dir die Lanze grollen und wiederum umgekehrt. Halb und halb machet noch kein Ganzes, du bist eine Mißgeburt, deren zwei Hälften nie mitsammen passen.«
»Ist es denn anders mit Euch bestellt, ehrwürdiger Pater?« erwiederte scherzhaft Salentin. »Ihr habt das Gelübde ewiger Armuth abgelegt und bettelt an allen Thüren um Reichthum.«
»Um Lebens Nothdurft!« fiel der Barfüßer ein.
»Aber Eures Lebens Nothdurft,« sprach der junge Mann weiter, »kann nie genug erhalten und so wird sie zum Gelüst nach Reichthum. Werft einen Blick in Eure Vorrathskammern, frommer Herr, und sagt offenherzig, ob da nicht an Speise und Trank mehr lagert, als in der Burg des reichsten Ritters unsrer Gegend? Die Zwerchsäcke Eurer unzähligen terminirenden Brüder gleichen Flüssen, die das Gut aller Länder in den Hafen Eurer Klöster führen. Habt Ihr je ein Geschenk, ein Vermächtniß verschmäht um seines allzugroßen Reichthums willen? So streitet denn Euer Gelübde und Euer Wandel miteinander, wie bei mir Lanze und Pflasterbüchse.«
»Salentine,« sagte bedenklich Pater Clarus, »du bist ein Casuistiker geworden auf der gottlosen Universität Paris! Ich werde bei Gelegenheit den Zustand deiner Seele näher prüfen und ihn in seinen Irrthümern zu berichtigen suchen.«
Unter diesem Gespräche gelangten sie in die Nähe eines einzeln stehenden Hauses, vor dem auch das bedeutungsvolle, warnende Pestzeichen aufgepflanzt war. Thüre und Fenster des untern Stockes hatte man von Außen mit Brettern vernagelt, nirgends zeigte sich mehr ein Eingang in das verlassen scheinende Gebäude. Der Mönch schlug ein Kreuz gegen die öde Stätte und wollte rasch vorübergehn. Salentin aber, von jenem Mitgefühle ergriffen, für das die Jugend empfänglicher ist, als das Alter, hielt ihn zurück und sprach:
»Dieses Haus scheint das Grab seiner unglücklichen Bewohner geworden zu seyn; allein wie oft hat nicht schon eine grausame Vorsicht, eine verdammliche Selbstsucht die Opfer der Seuche von der Welt ausgestoßen und entfernt, wenn noch Hülfe möglich war, wenn die Kunst noch vermochte, dem Tode seine Beute zu entreißen. Ich weiß nicht, warum mich gerade vor diesem Hause ein solcher Gedanke ergreift! Glaubt mir, Pater Clarus, es gibt eine Stimme in uns, die manchmal die Erkenntniß einer Wahrheit anregt, wo der Schein sie zur Lügnerin machen möchte.«
»Ich habe die Leute gekannt, die hier wohnten;« versetzte der Bettelmönch. »Der Mann war Förster im Dienste des Grafen von Solms, die Frau ein gutes frommes Weib. Nie sprach ich bei ihnen vor, ohne eine Gabe zu erhalten. Auch ein liebes Kind war da, ein Mädchen von vierzehn Jahren etwa, heiter und unschuldig, wie eine Blume des Feldes. Das alles ist unter dem Hauche der Pest verwelkt, hingestorben. Laß uns weiter gehn, mein Sohn! Requiescant in pace!«
»Nein, nein!« sagte, indem er die Hand des Mönches ergriff, in einem dringenden Tone der junge Mann. »Noch hat der Friede des Todes nicht alle Bewohner dieses Hauses auf sein Lager, von dem niemand wieder erwacht, gebettet. Blickt dort hinauf nach jenem Eckfenster! Hinter den Hornscheiben bewegt sich eine hagre, schwankende Gestalt; sie möchte öffnen, aber es scheint ihr an Kraft zu fehlen.«
»Heiliger Franciscus!« rief Pater Clarus. »Das ist die kleine Imagina, das Töchterlein, von dem ich Euch sprach. Ich erkenne sie an ihrem Wuchse, an den durchschimmernden Zügen ihres niedlichen Gesichts. Man hat das arme Kind vergessen, oder sich gescheut, sie mitzunehmen. Jetzt ist sie allein, lebendig in diesem verpesteten Grabe, dem Hunger, der Verzweiflung preisgegeben. Sprich, Salentine, mein Sohn, was ist da zu thun?«
»Wir müssen hinein zu ihr und sie retten!« antwortete entschlossen Salentin. »Den vereinigten Kräften von zwei rüstigen Männern wird dieses leichte Brettergefüge nicht widerstehen. Laßt uns an’s Werk gehen, ehrwürdiger Herr! Menschenfurcht darf Euch, den Diener Gottes, und mich, den berufenen Kämpfer gegen die Greuel dieser Seuche, nicht zurückhalten. Kommt! Wir wollen die Arme dem Leben wiedergeben!«
Der Mönch stand zögernd. Da wurden die Bewegungen des unglücklichen eingesperrten Kindes ängstlicher, da vernahm man ihr klagendes Weinen aus dem Innern des Hauses.
Die Jammertöne der bekannten Stimme überwogen die Furcht in der Brust des Paters. Ohne Aufenthalt gesellte er sich jetzt zu Salentin, der schon beschäftigt war, die Bretterverhüllung von einem der untern Fenster loszureißen. Der kurze starke Dolch, den er bei sich führte, that ihm hierbei gute Dienste. Mit kräftiger Hand half ihm Pater Clarus nach und bald konnten die beiden Männer in das Innre eines Gemaches sehen, aus dem ihnen Moderduft entgegendrang, in dem sie mit Entsetzen zwei schon in Verwesung übergehende Leichen erblickten. Sie schauderten unwillkührlich zurück. Salentin netzte seine und des Paters Hände mit einem scharfen Essig, den er zur Vorsicht bei sich führte. Indem sie dessen reinigenden Duft einathmeten, sagte er:
»Nun kann ich das Werk allein vollbringen. Harrt meiner. In wenigen Augenblicken bin ich mit dem Kinde wieder bei Euch.«
Aber schon hatte die lauschende Imagina das Arbeiten ihrer Retter vernommen. Sie war, so rasch es ihre sinkenden Kräfte erlaubten, hinabgeeilt und erschien nun, eine bleiche, abgezehrte, rührende Kindesgestalt am offenen Fenster. Ihre Augen waren von langem Weinen geschwollen und geröthet, die trockne Zunge klebte am Gaumen, sie brachte nur unverständliche Klagelaute vor. Doch mehr, als alle Worte vermocht hätten, sprach ihre Leidensgestalt, ihr ganzer Zustand aus. Sie besaß nicht Kraft genug, sich aus dem Fenster zu schwingen, sie sah mit Blicken der Liebe nach den Leichen der Eltern zurück und empfand es schwer, sich selbst im Tode von ihnen trennen zu müssen. Salentin kletterte auf den Rand des Fensters empor. Sie sank, von kindlichen Empfindungen übermannt, bewußtlos in seine Arme und wurde so von ihm und dem Pater in das Freie gebracht.
Hier ließen die beiden Männer das bedauernswürdige Kind auf einen umgestürzten Baumstamm nieder. Sie wählten vorsichtig eine Lage, in der sie, wenn sie wieder zu sich kam, das ausgestorbene Elternhaus im Rücken hatte. Mit Hülfe von Salentins aromatischem Essig erwachte bald die schlummernde Lebenskraft. Imagina öffnete die Augen, sah befremdet um sich, erkannte dann den Pater Clarus und brach in ein lautes Weinen aus.