Kapitel 6: Das Phantomprotokoll

1155 Words
Alexanders Sicht Die Maske lag zwischen ihnen wie eine Leiche. Weiße Keramik. Gebrochene Schläfe. Dieses Symbol – Ψ – brannte sich in ihre Stirn wie ein Brandmal des Vergessens. Alexander hatte das Siegel schon einmal gesehen. Einmal. Tief in einem redigierten Bericht vertieft, den er nie hätte lesen sollen. Anna hatte sich nicht bewegt. Sie starrte immer noch auf das Telefon, die Lippen leicht geöffnet, die Augen hohl. Ihre Stimme hallte in seinen Ohren wider. „Er ist tot. Ich habe ihn sterben sehen.“ Doch ihr Tonfall war unsicher. Es war die Angst, die versuchte, sich selbst zu überzeugen. Alexander kauerte sich wieder neben sie, mit leiser Stimme. „Erzähl mir alles, woran du dich über deinen Bruder erinnerst.“ Anna blinzelte einmal und schloss dann die Augen. „Das willst du nicht. Du wirst mich mit anderen Augen ansehen.“ „Das tue ich schon.“ Seine Stimme kam zu schnell. Zu real. Also fügte er hinzu: „Das Schiff stach in der Nacht in See, als du einen Mann mit einem Buttermesser ausgeweidet hast.“ Einen Moment. Ihr Mund zuckte leicht. „Er war mein Zwilling“, sagte sie schließlich. „Ein Geist seit unserer Kindheit. Klüger als ich. Auch verrückter. Genial. Besessen von Spielen in Spielen.“ Alexander schwieg. Sie fuhr fort: „Er ging vor mir zum Militär. Spezialeinheit für psychologische Kriegsführung. Geheime Sache. Einheit Psi war nicht nur eine Zelle. Sie war ein Schmelztiegel. Entweder zerbrach man oder man verwandelte sich in etwas … Unkenntliches.“ Alexander beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. „Und er?“ Anna sah ihn an. „Er meldete sich freiwillig, um gebrochen zu werden. Sagte, die Realität sei für Amateure.“ Er atmete langsam aus. „Also, was ist passiert?“ „Ich habe vor fünf Jahren vergraben, was von ihm übrig war“, sagte sie. „Ein Sprengsatz in einer zivilen Sicherheitszone. Ich habe die Leiche gesehen.“ „Du hast gesehen, was sie dich sehen lassen wollten“, konterte er. Stille legte sich wie Staub. Anna stand abrupt auf und ging auf und ab. „Wenn er lebt … und mit Leona zusammenarbeitet …“ Ihre Stimme überschlug sich. „Dann ist das kein politischer Putsch. Es ist persönlich. Psychologisch.“ Alexander beobachtete sie, stets berechnend, selbst beim Bremsen. „Er hat es auf deine Erinnerung abgesehen.“ Anna nickte. „Stück für Stück. Auslöser für Auslöser. Das Foto in Leonas Atelier. Der Scharfschütze. Die Wassersabotage. Alles Teile eines größeren Rituals.“ „Eine Wiederauferstehung“, sagte Alexander grimmig. Sie hielt mitten im Schritt inne, ihr Blick traf ihn. „Sag das noch mal.“ „Eine Wiederauferstehung“, wiederholte er. Anna ging zum Schreibtisch und kramte in ihrem Seesack. Sie zog ein schwarzes, verwittertes Ledernotizbuch heraus, die Ecken vom Zahn der Zeit zerfressen. Sie schlug es auf und überflog hastig die Seiten. Diagramme. Notizen. Triggersymbole. Dann erstarrte sie. „Was ist los?“, fragte er und stand auf. Ihr Finger tippte auf eine Skizze. Eine Keramikmaske. Mit Ψ gekennzeichnet. Daneben ein Satz in ihrer alten Handschrift: „Das Phantomprotokoll – Wiederauferstehung durch kontrollierte Traumaexposition.“ Alexander spürte, wie die Luft dünn wurde. „Dein Bruder ist nicht gestorben. Er ist in seiner eigenen Schöpfung verschwunden.“ „Und jetzt will er, dass ich mich daran erinnere, in wen er sich verwandelt hat.“ Anna sank auf die Pritsche und klammerte sich an den Kanten fest, als könnte sie durchfallen. Alexander setzte sich neben sie. „Wenn er es auf deine Erinnerung abgesehen hat, ist er noch nicht fertig.“ Ihr Blick huschte zu ihm. „Dieser Ort ist nicht mehr sicher.“ „Nein“, stimmte er zu. „Aber blindes Laufen ist es auch nicht.“ Er stand auf, ging zum Kommunikationspanel und gab einen verschlüsselten Code ein. Der Bildschirm flackerte und erlosch dann. „Kommunikationsausfall?“, fragte Anna. „Nur unsere. Sie denken, wir wären jetzt vom Netz getrennt. Das verschafft uns Luft zum Atmen.“ Sie nickte langsam. „Wir müssen sie rauslocken.“ Alexander verschränkte die Arme. „Köder?“ „Ich bin der Köder“, sagte sie. „Schon immer.“ Er beobachtete sie nachdenklich. „Du musst das nicht alleine machen.“ Anna legte den Kopf schief. „Bietest du Unterstützung an oder Absolution?“ Er trat näher. „Ich biete Krieg an.“ Ein langsamer Atemzug entwich ihren Lippen. „Gut. Denn wenn mein Bruder noch lebt …“ Ihre Augen verfinsterten sich. „Diesmal werde ich ihn wirklich begraben.“ Ein Klopfen zerriss den Moment. Sie drehten sich beide um. Niemand hätte während der Ausgangssperre an die Tür gelangen dürfen. Anna ging voran und griff nach der Waffe unter der Matratze. Alexander näherte sich der Tür, schweigend, und gab mit zwei Fingern auf drei ein Zeichen. Eins. Zwei. Er riss die Tür auf. Nichts. Keine Schritte. Keine Gestalt. Nur ein leises Surren, als etwas über die Schwelle rollte. Alexander bewegte sich schnell, sein Stiefel streifte die Kante des Geräts. Eine Drohne. Klein, leise. Ihr blinkendes rotes Auge fixierte Anna. Alexander zertrat sie. Zu spät. Annas Gesicht war blass geworden. „Diese Drohne … sie gehört uns. Regierungsangelegenheit. Sie sind drinnen.“ Er packte ihre Hand. „Los. Notausgang.“ Sie rannten aus der Hintertür der Kaserne, einen dunklen Flur entlang, vorbei an leeren Trainingsräumen. Irgendwo über ihnen heulten Sirenen. „Abriegelung aufgehoben“, murmelte Alexander. „Jemand hat von drinnen die Freigabe eingeholt.“ Sie erreichten das hintere Treppenhaus. Anna wandte sich zum Abstieg und blieb wie angewurzelt stehen. Eine Gestalt stand unten an der Treppe. Groß. Männlich. In einem grauen Zivilmantel, der nicht dazugehörte. Eine Keramikmaske bedeckte sein Gesicht, identisch mit der unter dem Feldbett gefundenen. Nur dass diese nicht gesprungen war. Das rote Symbol Ψ war frisch aufgemalt. Nass. Anna hob ihre Waffe. Ihre Hand zitterte. Der maskierte Mann rührte sich nicht. „Wer bist du?“, fragte Alexander. Keine Antwort. Anna trat vor. „Nimm sie ab.“ Immer noch nichts. Dann hob er die linke Hand. Darin lag eine Streichholzschachtel. Er zündete sie an. Eine Flamme zischte auf. Und mit einer einzigen, fließenden Bewegung warf er sie über das Treppengeländer. Anna und Alexander blickten beide nach unten. Ein Benzinstreifen war über das Erdgeschoss gegossen worden. Die Flamme fing sofort Feuer und schoss wie eine hungrige Schlange den Streifen hinauf. Das Treppenhaus brannte. Alexander packte Anna und zog sie zurück, als das Feuer nach oben explodierte. Die maskierte Gestalt verschwand hinter dem Rauch. Anna hustete mit weit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen. „Er ist einfach ins Feuer gelaufen“, flüsterte sie. Alexander starrte mit zusammengebissenen Zähnen in die aufsteigenden Flammen. „Er will dich nicht töten.“ Anna drehte sich zu ihm um. „Was macht er dann?“ Alexanders Blick ließ den Rauch nicht los. „Er will dich wecken.“
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