Kapitel 7: Die Omega-Akte

1287 Words
Annas Sicht Die Luft stank nach Rauch und Erinnerungen. Annas Atem brannte in ihren Lungen, als Alexander sie die Feuerleiter hinaufzog. Das Gebäude hinter ihnen spuckte Flammen. Sirenen heulten in alle Richtungen, doch keine kam näher. Das war nicht beabsichtigt. Das war Eindämmung. Notfallrettung. Die Dachluke öffnete sich ächzend unter ihren Händen. Kühle Luft klatschte gegen ihre schweißnasse Haut, als sie hustend, verletzt und adrenalingetränkt herausstürzten. Sie spuckte Asche aus. „Das war keine Nachricht.“ „Nein“, sagte Alexander und wischte sich den Ruß vom Kinn. „Es war eine Herausforderung.“ Sie standen schweigend da und sahen zu, wie die Baracken unten brannten. Annas Gedanken rasten. Die Maske. Die Flamme. Die Streichholzschachtel. Ψ. Hey war am Leben. Und er wollte sie wieder im Spiel haben. Alexanders Stimme wurde klarer. „Was hat dein Bruder dir sonst noch hinterlassen?“ Sie blinzelte. „Was?“ Er trat näher und presste seine Worte zusammen. „Eine Erinnerung. Ein Satz. Eine Akte. Irgendetwas, das er als Anhaltspunkt benutzen könnte, um dich zurückzuholen.“ Sie zuckte zusammen. Ihre Gedanken wanderten. Und dann … Ein Blitz. Betonböden. Ihr Bruder lachte in einem Krankenhausflur. „Wenn ich verschwinde, finde die Omega-Akte. Da fängt das Spiel erst richtig an.“ Ihr wurde ganz flau im Magen. „Da ist etwas“, sagte sie mit rasendem Puls. „Eine Akte. Ich habe sie nie geöffnet. Er hat sie vor dem letzten Einsatz in meiner Ausrüstung gelassen. Ich dachte, es wäre ein Scherz.“ „Wo ist sie?“ „In meinem Tresorraum. Unter dem Blumenladen. Aber –“ Sie schluckte schwer. „Ich habe sie verschlüsselt. Nur biometrischer Zugriff. Ich wollte nicht, dass jemand in eine geheime Trauma-Situation stolpert.“ Alexander hob eine Augenbraue. „Also brechen wir in deinen eigenen Tresorraum ein?“ Anna nickte. „Und bete, dass mein früheres Ich die Verschlüsselung nicht zu schlau gemacht hat.“ Er grinste. „Erinnere mich daran, nie mit dir Schach zu spielen.“ Sie erwiderte seinen Blick. „Ich verliere nie.“ *** Zwanzig Minuten später erreichten sie die Fassade von Blume & Thorn Annas Blumenladen im ruhigen Stadtviertel. Alles sah unberührt aus. Blütenblätter hinter Glas. Ein Kreideschild pries noch immer Tulpentherapie für müde Seelen an. Sie deaktivierte den Alarm in nur drei Sekunden. Unter der Kasse blinkte ein Netzhautscanner rot. Anna presste ihren Blick an die Scheibe. Die Blende klickte. Ein Regal schob sich zur Seite und gab den Blick auf eine schmale Treppe frei. Alexander folgte kommentarlos. Die Tresortür war aus kaltem Stahl, einbetoniert. Anna presste ihre Handfläche an das Lesegerät. Ein leises Zischen. Dann … Zugriff verweigert. Ihr Herz setzte aus. „Nein. Das ist nicht möglich.“ „Versuch es noch einmal“, sagte Alexander. Sie tat es. Zweimal. Zugriff verweigert. Sie ging langsam weg. „Er hat es geändert.“ Alexander hockte sich hin und betrachtete das Bedienfeld. „Biometrisches Schloss, aber die Software wurde neu gethreadet. Externes Überschreiben.“ „Von wem?“ Ein Klicken hinter ihnen antwortete. Sie wirbelten beide herum. Die Kühlschranktür stand angelehnt. Ein leises, mechanisches Summen hallte von innen wider. Anna ging vorsichtig Schritt für Schritt darauf zu. Im Kühlschrank, zwischen Vasen mit Lilien und Gladiolen, stand eine silberne Dose. Fehl am Platz. Sie glänzte bedrohlich. Sie hob den Deckel. Darin: eine einzelne Blume. Eine weiße Chrysantheme. In rotes Wachs getaucht. Und darunter ein Laufwerk. Mit Ψ gekennzeichnet. Ihre Finger zitterten. Sie zog es heraus und sah Alexander an. „Wenn es das ist, was ich denke …“ „Wir entschlüsseln es“, sagte er. „Aber wenn es ein Köder ist?“ Er begegnete ihrem Blick. „Dann beißen wir vorsichtig zu.“ Zurück im unterirdischen Tresorraum steckte Alexander die Festplatte in ein Offline-Terminal. Das System bootete. Prompt flackerte ein Passwort auf. Anna starrte auf den Bildschirm. Versuch eins: Bruder – abgelehnt. Versuch zwei: Omega – abgelehnt. Versuch drei: Psi-Protokoll – Zugriff gewährt. Der Bildschirm ruckelte einmal. Dann öffnete sich ein Videofenster. Rausch. Und dann Das Gesicht ihres Bruders. Lebendig. Enttarnt. Aber älter. Härter. Ein Mann, neu erschaffen von etwas Monströsem. „Wenn du das siehst, Anna … dann herzlichen Glückwunsch. Du hast Phase Eins bestanden.“ Sie schluckte Galle herunter. „Alles, woran du dich erinnerst, ist unvollständig. Alles, was du vergessen hast, wurde absichtlich gelöscht.“ Hinter ihm blinkten OP-Lampen. „Du warst auch Teil von Psi. Das letzte Testobjekt. Aber sie haben es dir nie gesagt. Du hast bestanden. Ich nicht.“ Anna spürte, wie sich der Boden unter ihr neigte. Alexander stand wie erstarrt neben ihr. „Ich musste dich vor Leona wecken. Sie ist nicht hinter deinen Geheimnissen her. Sie ist hinter deinem Plan her.“ Das Video ruckelte erneut. „Wenn du wissen willst, wer du wirklich bist, komm in die alte Anstalt. Dort findest du den Rest. Zimmer 313. Bring Alexander mit. Er hat ein Stück, das ich nicht habe.“ Anna blinzelte. „Was zum Teufel meint er damit?“ Der Bildschirm wurde schwarz. Dann tippte sich eine letzte Nachricht über den Bildschirm: „Du bist nicht die Waffe. Du bist die Blaupause.“ Anna wandte sich an Alexander. „Welches Stück hast du?“ Doch Alexander starrte bleich auf den Bildschirm. „Ich kenne die Anstalt“, sagte er. „Sie wurde vor fünf Jahren auf die schwarze Liste gesetzt. Dort wurden Psi-Experimente durchgeführt. Meine Einheit hat sie geschlossen.“ Anna erstarrte. „Du warst dort?“ „Ich sollte Akten holen. Aber das Gebäude ging in Flammen auf, bevor ich es konnte.“ Sie trat näher. „Warum glaubt mein Bruder dann, dass du ein Stück hast?“ Alexander antwortete nicht. Sein Blick fiel auf den Anhänger an ihrem Hals. Den, den sie seit dem Schlachtfeld nicht mehr abgelegt hatte. Den, den er ihr nach der Gala zurückgegeben hatte. Anna griff danach. Langsam. Drehte den Verschluss. Klick. Der Anhänger zerbrach in zwei Hälften. Darin befand sich ein Mikrochip. Sie sah ihn fassungslos an. „Du hast das geplant?“ „Nein“, sagte er langsam. „Ich habe ihn in den Ruinen von Psi gefunden. Ich wusste nicht, dass er dir gehört.“ Sie starrte ihn an. Lügner. Aber nicht jetzt. Später. Gerade jetzt zog jemand Fäden aus ihrem Schädel. Und dieser Jemand kannte alle ihre Verräter. Eine Stunde später erreichten sie die verlassene Anstalt. Nebel wand sich um verrostete Tore wie ein Versprechen von Albträumen. Anna stand vor den Eisentüren. „Dieser Ort wurde wegen Menschenrechtsverletzungen geschlossen.“ Alexander nickte. „Das heißt, er ist perfekt für Geister.“ Sie gingen hinein, die Waffen im Anschlag. Jeder Korridor roch nach Schimmel und Geheimnissen. Bodenfliesen knackten unter ihren Stiefeln. Geflüsterte Stimmen drangen durch die kaputten Sprechanlagen. Zimmer 313 war im dritten Stock. Anna stieß die Tür mit dem Lauf ihrer Waffe auf. Drinnen: ein Operationstisch. Ketten an der Wand. Ein Zweiwegespiegel, der beim Aufprall zerbrach. Und auf dem Boden eine Leiche. Anna erstarrte. Alexander trat vor und duckte sich. Noch warm. „Jemand ist gerade gegangen“, sagte er. Anna ging zum Spiegel. Blut verschmierte das Glas. Worte, mit einem Fingernagel hineingeritzt: „Falscher Zwilling.“ Sie drehte sich abrupt um. Alexanders Handy vibrierte. Er zog es heraus. Nummer gesperrt. Eine Nachricht: „Sie war erst der Anfang. Jetzt nehmen wir den Spiegel.“ Annas Blut gefror. „Welcher Spiegel?“ Alexander blickte auf. Und dann zersplitterte die Deckenbeleuchtung. Ein Schatten fiel von der Decke, fast. Zu schnell. Anna drehte sich kaum um, als ihr eine Nadel in den Hals stach. Sie schoss – einmal – daneben. Ihre Knie gaben nach. Alexander rief ihren Namen. Die Welt drehte sich. Und das Letzte, was Anna sah, war ein vertrautes Gesicht. Ihr eigenes. Lächelnd.
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