Alexanders Sicht
Anna sackte zusammen wie eine heruntergefallene Marionette.
Ein Wimpernschlag, und sie stand wieder. Im nächsten Moment fiel sie, ein Pfeil steckte noch immer in ihrem Hals.
Ich fing sie auf, bevor sie auf den Boden fiel, die Knie knickten unter ihrem Gewicht ein. Ihr Puls raste, unregelmäßig, wie ein Trommelwirbel, der nicht im Takt ist.
„Anna“, flüsterte ich und schlug ihr sanft auf die Wange. „Komm, bleib bei mir.“
Keine Antwort.
Nur ein leiser, unregelmäßiger Atemzug.
Ich hob sie in meine Arme und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
Der Körper auf dem Boden war ein Köder gewesen. Die Botschaft auf dem Spiegel eine Verhöhnung.
„Falscher Zwilling.“
Das bedeutete eines.
Es gab eine andere Version von ihr. Da draußen. Aktiv. Als Waffe.
Ich blickte auf die Frau in meinen Armen hinunter.
Anna. Meine. Die, die ich durch Stacheldraht kriechen sah und die immer noch versuchte, das Mädchen neben ihr zu retten. Diejenige, die gerade lange genug aufgehört hatte zu bluten, um mich aus der zerbombten Kirche im Kosovo zu retten.
Doch die Grenze zwischen ihr und dem anderen „Ich“ verschwamm schnell.
Ich trug sie zu dem verlassenen Sicherheitsbüro am Ende des Flurs und schloss die Tür hinter uns ab. Ein funktionierendes Terminal flackerte auf. Ich legte sie auf die Couch, riss ihr die Jacke vom Leib, die an ihrer Schulter klebte, und entfernte den Pfeil.
Was auch immer in dieser Spritze war … es war nicht tödlich. Aber es sollte etwas öffnen.
Oder jemanden.
Anna regte sich, ihr Kopf rollte zur Seite. Ihre Wimpern flatterten. Dann …
„Alexander?“
„Ich bin hier.“
Sie blinzelte. „Warum dreht sich der Raum?“
„Weil dich jemand mit einem neurologischen Gift behandelt hat, das deine Gedächtnisfilter lockern soll.“
Sie setzte sich ruckartig auf, die Augen weit aufgerissen. „Du glaubst, sie war es.“
Ich nickte. „Die Spiegelversion. Was auch immer sie ist … Klon, Zwilling oder Fragment … sie kennt dich besser als jeder andere.“ Anna fluchte leise und zuckte zusammen. „Ich habe sie gesehen. Nur für eine Sekunde. Dasselbe Gesicht. Aber …“
„Aber nicht dieselbe Seele.“
Ihre Hand wanderte zu der Pfeilwunde. „Fühlt sich an wie ein Schlangenbiss.“
„Es öffnet etwas. Deine Pupillen weiteten sich, als du bewusstlos warst. Du hast etwas auf Russisch geflüstert.“
„Was habe ich gesagt?“
Ich zögerte.
„Du sagtest: ‚Wenn er den Bauplan findet, wird er der Architekt.‘“
Ihr stockte der Atem.
Sie stand auf und schwankte leicht.
Und dann trat sie unerwartet auf mich zu. Ihre Handfläche auf meiner Brust.
„Du musst mir jetzt die Wahrheit sagen“, sagte sie leise. „Die ganze Wahrheit. Was du bei Psi gemacht hast, bevor es verbrannte.“
Ich schaute weg. „Es ging nicht nur um die Bergung.“
„Ich weiß.“
„Ich war dort, um jemanden zu retten. Ein Testobjekt mit der Markierung Omega. Sie verschwand, bevor ich sie herausholen konnte.“
Sie legte den Kopf schief. „War ich es?“ „Nein. Es war dein Bruder.“
Schweigen.
Ihr stockte der Atem. „Er wollte mich nicht nur retten.“
„Nein. Er wollte etwas auslöschen … bevor es sich wiederholen konnte.“
Sie schluckte schwer, doch ihre Hand blieb auf meiner Brust.
„Ich habe Angst“, sagte sie leise. „Nicht vor ihr. Vor dem, was passiert, wenn ich mich an alles erinnere.“
Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände. „Dann tu es nicht allein.“
Sie starrte mich einen langen Moment an und beugte sich dann langsam vor. Ihre Lippen streiften meine, leicht wie Rauch. Nicht drängend. Nicht fordernd. Nur … erdend.
Eine Verbindung.
Ihr Mund verweilte auf meinem, als würde sie eine Erinnerung prüfen. Oder sie neu schreiben.
Als wir uns schließlich trennten, lehnte sich ihre Stirn an meine.
„Du bist immer noch der Einzige, dem ich zutraue, mich zu erschießen, wenn es darauf ankommt“, flüsterte sie.
„Das muss ich nicht.“
„Das weißt du nicht.“
„Nein“, sagte ich. „Aber ich weiß, ich werde die Welt niederbrennen, bevor ich zulasse, dass dich noch einmal jemand nimmt.“
Sie schloss die Augen.
Und irgendwo in der Ferne schallte ein Schrei durch das obere Stockwerk der Anstalt.
Hoch. Weiblich.
Aber nicht hilflos.
Anna riss sich zurück.
„Das war ich“, flüsterte sie.
„Nein“, sagte ich. „Das war sie.“
Sie drehte sich zur Tür um. „Wir müssen sie finden.“
„Oder sie findet uns.“
Zu spät.
Das Terminal auf dem Schreibtisch piepte.
Ein eingehender Video-Feed. Rauschen. Dann Klarheit.
Anna stand auf dem Bildschirm.
Aber sie war direkt hier neben mir.
Die Spiegel-Anna, die mit der tieferen Narbe unter dem Auge, die, deren Gesichtsausdruck sich nie veränderte, starrte in die Kamera.
Hinter ihr sackte ein weiterer Körper an einer Wand zusammen.
Leona.
Verletzt. Blutend. Noch am Leben.
Spiegel-Anna lächelte. „Sie hat versucht, dir deine Blaupause zu stehlen.“
Sie zog Leona am Kragen hoch.
Anna trat vor, ihre Knöchel waren weiß. „Nein.“
Die Frau auf dem Bildschirm legte den Kopf schief. „Erinnerst du dich an Kosovo? An den Jungen mit der Münze? Was hat er dir vor der Explosion gegeben?“
Anna erstarrte.
„Ich –“, stockte sie.
Das Lächeln der Spiegelversion wurde breiter. „Genau. Keine Erinnerung. Ein Auslöser. Du warst die letzte Omega-Kandidatin, die den Spiegel abgelehnt hat.“
Sie hob einen kleinen schwarzen Kasten ins Bild.
„Ich habe die Akte geborgen, die dein Bruder zu vergraben versuchte.“
Sie blickte direkt in die Linse.
Und sprach mit Annas Stimme.
„Ich bin nicht dein Feind. Ich bin deine Versicherung.“
Dann wurde der Bildschirm schwarz.
Ein Countdown begann.
05:00
04:59
Alexander trat vor Anna. „Das ist ein Zündzeitpunkt.“
„Wo?“
„Hier“, sagte ich. „Die ganze Anstalt.“
Anna starrte auf den Bildschirm und atmete schnell.
„Sie will uns nicht umbringen“, sagte sie. „Sie will die Beweise vernichten.“
„Oder dich zwingen“, sagte ich.
Sie drehte sich zu mir um. „Wir müssen uns trennen.“
„Nein.“
„Ja“, sagte sie. „Du kümmerst dich um die Zündschnur. Ich kümmere mich um sie.“
„Sie ist nicht stabil.“
„Ich auch nicht.“
Sie rannte.
Und ich ließ sie.
Annas Sicht
Ich rannte.
Durch verwinkelte Korridore.
Vorbei an verrosteten Krankentragen und zerbrochenen Spritzen.
Der Erinnerung entgegen, die nicht mehr nur mir gehörte.
Spiegel-Anna wartete auf dem Dach. Sie musste. Es war der höchste Ort. Der Ort mit dem deutlichsten Fall.
Die Treppe ächzte unter mir.
Ich stürmte aufs Dach.
Wind. Rauch. Und sie.
Am Rand stehend.
Die schwarze Kiste haltend.
Ihre Augen trafen meine.
Und für einen Moment fühlte ich nichts.
Kein Hass. Keine Angst.
Nur Wiedererkennen.
„Du solltest nie aufwachen“, sagte sie.
Ich hob meine Waffe. „Zu spät.“
Sie warf die schwarze Kiste weg.
Sie landete zwischen uns.
Sie blinkte immer noch.
Sie zählte immer noch.
00:37
00:36
Sie trat langsam vor.
Und zog etwas aus ihrer Tasche.
Ein Foto.
Wir.
Seite an Seite.
Lächelnd.
Und dann
ließ sie es fallen.
Zusammen mit einem Satz, den ich nie erwartet hätte.
„Entscheide dich für eine Seite, Anna.“
„Denn nur eine von uns geht von diesem Dach.“