Floristin. Narr. Vergessen. Das war die Rolle, die man ihr zugedacht hatte.
Der Ballsaal des Grand Hyatt war ein lebendiges Denkmal alten Geldes und neuen Giftes. Kristallleuchter tauchten den Parkettboden in steriles Licht, dessen Licht sich in Champagnerflöten und paillettenbesetzten Kleidern spiegelte. Gefälschte Lächeln funkelten schärfer als Diamanten.
Anna saß mit steifem Rücken auf der Kante des Steinway, die Finger über Elfenbeintasten gelegt. Sie blinzelte einmal, doch der Nebel wich nicht. Ihr Puls pochte in ihren Ohren, nicht aus Angst, sondern aus der kalten Klarheit der Zurückhaltung.
Sie sollte nicht hier sein. Nicht als sie selbst.
Nicht als die Söldnerin, die einst vor dem Schatten eines Scharfschützen zurückschreckte, statt vor dem Flüstern im Ballsaal.
„Spiel“, zischte es hinter ihr.
Leona stand in den Kulissen, die Hände gefaltet, die Augen weit aufgerissen vor unschuldiger Ermutigung. Für andere wirkte sie wie ein Schutzengel. Für Anna sah sie aus wie ein Metzger, der sein Messer versteckt. Die Porzellanmaske täuschte sie nicht mehr.
Annas Finger bewegten sich. Chopin natürlich. Ein Liebling gelangweilter Aristokraten, die Pathos schick fanden. Die Töne flossen, mechanisch und leidenschaftslos. Doch je länger sie spielte, desto gieriger wurden ihre Augen.
Sie wollten, dass sie scheiterte. Dass sie zusammenzuckte. Dass sie zusammenbrach.
„Armes Ding“, flüsterte eine Frau in einem blutroten Kleid. „Nach dem Unfall war sie nie mehr dieselbe.“
Der Mann neben ihr nickte ernst. „Man sagt, sie hat einen Hirnschaden. Sehen Sie sich nur an, wie sie starrt.“
Annas Rücken versteifte sich.
Du bist nicht gebrochen. Du wartest.
Eine plötzliche Bewegung am Rand des Ballsaals. Schatten teilten sich. Eine große Gestalt trat hervor, flankiert von uniformierten Männern in gebügeltem Schwarz. Die Luft veränderte sich.
Alexander Morrison war angekommen.
Die Musik verstummte.
Kein Stichwort. Keine Warnung. Nur Stille.
Annas Hände erstarrten mitten im Ton, und die Menge hielt den Atem an, als hätte sie gerade einer öffentlichen Auspeitschung beigewohnt.
Alexander schritt auf sie zu, ohne die Anwesenden zu beachten. Sein Militäranzug saß mit brutaler Präzision. Kein unnötiger Schmuck, kein Lächeln. Nur kalte Berechnung, gekleidet in menschliche Haut.
Er würdigte sie keines Blickes. Noch nicht.
Er sah zum Klavier. Dann zu Leona.
Leona lächelte, ihre Haltung makellos. Doch ihre Finger zuckten an ihren Seiten.
Alexanders Blick glitt zu Anna und blieb stehen.
Der Moment traf sie wie eine Detonation.
Ihr Anhänger war losgerutscht, die Kette glitzerte wie Draht im Licht. Ein einzelner Smaragd, umgeben von einem seltsamen Legierungsring – Militärqualität, individuell angefertigt. Ein Relikt aus dem Kriegsgebiet.
Sein Blick konzentrierte sich. Ein Anflug von Anerkennung? Unglauben? flackerte in seinen obsidianfarbenen Augen auf.
„Das ist jetzt vorbei“, sagte Alexander. Die Worte waren nicht laut, doch sie zerschlugen die Spannung wie ein Schuss.
Anna blinzelte, überrascht. Nicht von seiner Stimme. Von dem Unterton.
Befehl.
Er wandte sich der Menge zu. „Heute Abend gibt es keine Vorstellung.“
Geflüster brach an wie eine Flut.
Leona trat mit zitternder Stimme vor. „Marshal Morrison, Anna bereitet sich seit Wochen vor. Sicherlich.“
Sein Blick durchbohrte sie wie Stahl. „Du hast sie zur Unterhaltung benutzt.“
Leona zuckte zurück. Sein Tonfall war nicht freundlich.
Anna stand langsam auf. Ihre Muskeln spannten sich unter dem zarten Kleid an. Sie bemerkte eine Bewegung über einem schwankenden Kronleuchter. Reflexartige Anspannung wand sich in ihrem Innersten. Sie kämpfte gegen den Instinkt an, sich abzurollen und zu ziehen.
Ihr seid nicht in Kandahar. Ihr seid in der Hölle.
Trotzdem lächelte sie. Sanft. Sanft.
„Mir hat es nichts ausgemacht“, murmelte sie. „Schließlich … bin ich nur ein Ersatz.“
Die Stille vertiefte sich.
Alexanders Kiefer spannte sich an. Dann drehte er sich abrupt um. „Begleitet sie in den Aufenthaltsraum.“
Zwei Wachen traten vor. Anna rührte sich nicht.
Stattdessen griff sie nach unten, ihre Finger zitterten nicht vor Angst, sondern vor Präzision, und löste den Anhänger.
Sie hielt ihn ihm hin. Mit offener Handfläche. Trotzig.
Der Moment dehnte sich.
Er nahm ihn. Langsam. Seine Finger streiften ihre.
Hitze. Verwirrung. Und etwas Wildes darunter.
Die Welt schrumpfte. Nur sie beide und dieser Anhänger.
Er sah sie an, nicht ihr Gesicht, sondern ihre Haltung. Ihr Gleichgewicht.
Er sah es.
Nicht die Erbin.
Den Mörder darunter.
Leonas Stimme durchbrach die Stille. „Sie erinnert sich nicht einmal mehr, wer sie ist. Dieser Anhänger bedeutet ihr nichts.“
Anna wandte sich an Leona. „Komisch. Du scheinst dich an alles zu erinnern.“
Ein Muskel zuckte in Leonas Wange. Nur ein kurzes Zucken. Doch Anna sah es.
Dasselbe Zucken, das Leona hatte, bevor sie sie in Kysyl verriet.
Anna stieg vom Podium herab. Ihr Körper floss wie Wasser, zu glatt für eine Frau mit „Hirnschaden“.
Alexander bemerkte es.
Er sagte nichts.
Doch sein Wächter trat näher.
Anna schob sich an Leona vorbei und hielt gerade lange genug inne, um zu flüstern: „Wenn du das nächste Mal eine Falle stellst, benutze nicht meinen toten Namen.“
Leonas Gesicht erbleichte.
Als Anna hinter Samtvorhängen verschwand, erhob sich ein Gemurmel aus der Menge. Das Drama war besser als jede Oper.
Im Aufenthaltsraum senkte sich Stille wie ein schwerer Vorhang.
Anna atmete aus. Ihre Finger zuckten an der samtbezogenen Armlehne der antiken Chaiselongue.
Alexander trat einen Moment später ein. Allein.
Er sagte nichts. Er ging nur zum Kamin und starrte in die Flammen. Der Anhänger baumelte wie ein Köder an seinen Fingern.
„Du bist nicht die, für die man dich hält“, sagte er schließlich.
Sie legte den Kopf schief. „Ich kann mich nicht erinnern, jemand anderes gewesen zu sein.“
„Du erinnerst dich genug, um deinen Griff während der letzten Oktave zu korrigieren.“
Anna sagte nichts.
Er drehte sich um. „Und der Anhänger, den du mir in Bagdad gerettet hast. Vor fünf Jahren. Verschleiertes Gesicht. Blutgetränkter Schal. Ich habe ihn nie vergessen.“
Sie zuckte zusammen. Nicht vor der Wahrheit. Vor ihrer Schwere.
„Du irrst dich“, sagte sie leise.
Alexander trat vor. „Nein. Bin ich nicht.“
Sie blickte auf und erstarrte.
In seiner anderen Hand hielt er ein Foto.
Ein Überwachungsfoto. Körnig. Nachtsicht. Aber unverkennbar.
Es war sie. Nicht die schüchterne Floristin. Nicht die ausdruckslose Erbin.
Sie. In Kampfmontur. Flatternder Schleier. Gewehr gezogen. „Wo hast du das her?“ Ihre Stimme senkte sich um eine Oktave.
Alexander lächelte nicht. Er prahlte nicht mit seiner Schadenfreude. Er musterte sie nur mit der Intensität eines Scharfschützen durch ein Zielfernrohr.
„Du bist der Grund, warum ich lebe“, sagte er. „Und ich bin niemandem gern etwas schuldig.“
Anna erhob sich langsam. Sie verlagerte ihr Gleichgewicht. Bereit.
Alexanders Handy summte. Er warf einen Blick auf das Display und fluchte.
„Sie sind hier“, murmelte er. „Sie wissen, dass du wach bist.“
Bevor sie fragen konnte, wer, zerschmetterte eine Kugel das Fenster hinter ihr.
Glas explodierte.
Anna duckte sich. Rollend. Ihre Hände griffen instinktiv nach dem Schürhaken als improvisierte Waffe.
Alexander trat neben sie und zog eine versteckte Pistole.
Aus dem Flur Rufe. Schritte.
Zu viele.
„Anna“, sagte er leise, den Blick immer noch auf die Tür gerichtet.
„Was?“
„Wenn du mich das nächste Mal anlügst, achte darauf, dass der Scharfschütze nicht dein Tötungsmuster kennt.“
Und dann
knisterte eine Stimme durch Alexanders Ohrhörer.
„Sie ist nicht die Erbin. Die echte Anna ist vor drei Monaten gestorben.“
Anna gefror das Blut in den Adern.
Alexander drehte sich langsam zu ihr um.
Doch sie war bereits verschwunden.