Annas Sicht
Die Innenbeleuchtung des Stützpunkts flackerte wie ein Puls am Rande eines Herzstillstands. Leuchtstoffröhren summten, als Anna Alexander den Betonflur entlang folgte. Jedes Echo ihrer Schritte hallte in der hohlen Stille wider. Ausgangssperre. Niemand rein, niemand raus.
Die Tür schlug mit einem Zischen und einer Endgültigkeit hinter ihnen zu, die sich zu sehr wie ein Sargdeckel anfühlte.
„Glaubst du, sie ist es?“, fragte Anna leise.
Alexander sah sich nicht um. „Ich glaube, jemand will, dass du das denkst.“
Sie betraten die Kaserne – klein und spartanisch, gebaut für Soldaten, die Funktionalität statt Komfort brauchten. Ein Feldbett, ein Schreibtisch, ein Regal voller Taktikhandbücher. Ein einzelner roter Punkt blinkte an der Wand.
„Warum hier?“, fragte sie.
„Weil dieser Raum offline ist. Keine Mikrofone. Keine Kameras. Nur alte Wände und schlechte Sanitäranlagen.“
Annas Mundwinkel zuckten. „Romantisch.“
„Bleib bis Sonnenaufgang“, sagte er tonlos.
Sie verdrehte die Augen. „Bild dir nichts ein.“
Doch ihre Stimme war dünner als sonst, gespannt wie ein Faden, der kurz vor dem Reißen stand. Sie hatte das Gesicht des Scharfschützen noch nicht vollständig verarbeitet. Noch nicht. Sie wollte es nicht. Nicht allein.
Sie ging zum Schreibtisch und betrachtete einen Stapel Überwachungsfotos, die verstreut herumlagen. Ein Bild löste sich.
Sie. Tanzend. In Leonas Atelier. Die Aufnahme entstand hinter verspiegeltem Glas.
Alexander sah sie still. „Clara hat es durchsickern lassen. Ihr Telefon hat zehn Minuten vor dem Hinterhalt einen CIA-Subserver angepingt.“
Anna legte das Foto hin. „Sie töten?“
Alexander antwortete nicht.
Ein plötzliches Zischen. Ein Stottern.
Dann gurgelte und explodierte die Dusche.
Wasser schoss wie ein Geysir aus dem Badezimmer – heiß, dampfend und rachsüchtig. Das Rohr war an der Wand entlang gebrochen und durchnässte den Boden und Anna mit. Ihr Baumwollnachthemd klebte sofort an ihrer Haut.
„Fantastisch“, murmelte sie.
Alexander drehte sich zu spät um, um wegzusehen. Er biss die Zähne zusammen. „Ich hole ein Handtuch.“
Sie verschränkte die Arme, völlig durchnässt, Tropfen rannen ihre nackten Oberschenkel hinunter. „Nicht nötig. Ich bin nasser geworden.“
Er reichte ihr trotzdem ein abgenutztes olivgrünes Handtuch.
Sabotage an den Wasserleitungen. Anna zählte es als Nachricht Nummer vier.
Als sie barfuß und mit feuchtem Haar vom Umziehen zurückkam, stand Alexander immer noch da. Er beobachtete sie. Das Handtuch in seinen Händen wirkte nun seltsam zeremoniell – eine Opfergabe oder vielleicht eine weiße Flagge.
Sie sagten einen Moment lang nichts.
Endlich sprach Anna. „Die Narbe. Die an meiner Seite … Du hast nicht gefragt.“
„Ich habe sie gesehen.“ Seine Stimme war ruhig. „In Prizren. Vor dem Rauch. Bevor du mir den Arsch gerettet hast.“
Sie legte den Kopf schief. „Und du hast mich trotzdem in diesem Ballsaal verbluten lassen?“
Er zuckte mit den Achseln. „Ich musste sicher sein, dass du noch bluten kannst.“
Sie grinste. „Und du? Noch fähig, Schuldgefühle zu empfinden?“
„Nein“, sagte er. „Aber ich erinnere mich an den Klang deiner Stimme, als die Verbindung abbrach. Der verschwindet nicht.“
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus wie Stacheldraht.
Sie ließ sich auf der Pritsche nieder. „Und jetzt? Erzählen wir uns gegenseitig unser Trauma?“
Er setzte sich nicht. Er lehnte sich nur an die Tür. „Wir warten. Jemand hat die Sperre ausgelöst, um dich hier festzuhalten. Und sie wollen dich lebend.“
Anna musterte ihn. Den Mann, der ihr einst ohne mit der Wimper zu zucken dabei zugesehen hatte, wie sie zwei Männer tötete. Den Mann, der jetzt Wache stand, als wäre sie etwas Zerbrechliches.
Sie lehnte sich an die kalte Wand zurück. „Vielleicht wollen sie mich verwandeln.“
Seine Augen huschten zu ihr. „Niemand verwandelt ein Phantom. Sie locken es nur zurück ins Leben.“
Ihr stockte der Atem. Nicht aus Angst. Aus der Erinnerung.
Kosovo. Die Luft stank nach Benzin. Ein Kinderschrei, gedämpft von Trümmern. Alexander, mit dem Rücken zu ihr, blutend. Immer noch feuernd. Immer noch in Deckung.
Sie schüttelte es ab.
„Ich bin nicht mehr dieselbe Person“, sagte sie.
Er nickte. „Gut. Denn diese Person hätte mich schon erschossen.“
Ein schwacher Alarm piepte noch einmal, dann wieder.
Anna versteifte sich.
„Das ist kein Basiscode“, flüsterte sie. „Das ist ein Krankenhausmonitorrhythmus.“
Alexanders Kopf schnellte in Richtung Flur. „Woher kommt es?“
Anna bewegte sich schnell, barfuß glitten lautlos über den durchnässten Boden. Ihre Augen suchten die Lüftungsschlitze und die Verkleidung ab.
Dann sah sie es.
Ein rotes Licht unter der Pritsche.
Sie duckte sich und streckte die Hand aus.
Eine Keramikmaske. Halb im Staub vergraben.
Weiß. Gebrochen. Auf der Stirn prangte ein einzelnes Symbol: Ψ
Psi.
Anna zuckte instinktiv zurück.
Alexander holte tief Luft. „Was bedeutet das?“
Ihr Mund wurde trocken. „Das ist das Emblem der Einheit Psi. Psychologische Kriegsführung, geheime Operationen. Geisterzelle. Vor Jahren aufgelöst.“
Er starrte auf die Maske.
Und dann
vibrierte ein Handy unter der Matratze.
Anna schnappte es sich. Wegwerfmodell. Keine SIM-Karte.
Eine Nachricht blinkte.
„Wir erinnern uns, was du vergessen hast.“
Darunter ein Videoanhang.
Anna tippte.
Der Bildschirm leuchtete auf.
Und ihre eigene Stimme hallte wider.
„Sie weiß es nicht. Noch nicht.“
Dahinter Lachen.
Weiblich. Vertraut.
Leona.
Anna ließ das Handy fallen. Ihre Farbe wurde weich.
Alexander hockte sich neben sie. „Was zum Teufel war das?“
Doch Anna sah ihn nicht mehr an.
Ihr Blick war auf das Videobild gerichtet, auf das Spiegelbild ihres früheren Ichs im Glas.
Ein Mann.
Mit einer Keramikmaske.
Und hinter der Maske
eine zackige Narbe, die sie nur zu gut kannte.
Sie erhob sich abrupt, der Atem stockte ihr.
„Nein“, flüsterte sie. „Er ist tot. Ich habe ihn sterben sehen.“
Alexander stand auf. „Wer?“
Sie drehte sich langsam um, die Augen dunkel.
„Mein Bruder.“