Kapitel 1: Zerbrochenes Vertrauen

881 Words
Isabelle Rivers fuhr mit den Fingern über den Rand des glänzenden Hochzeitsfotos auf dem Tisch. Sie starrte das Paar im Rahmen an – ihre Lächeln eingefroren in der Zeit. Die Frau auf dem Bild sah aus wie eine Fremde – rothaarig, leuchtende Augen, strahlend, voller Hoffnung. Hoffnung, die längst versiegt war. Das Spiegelbild daneben erzählte eine andere Geschichte. Sie war dieselbe Frau, doch heute wirkte sie völlig verändert. Blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und einem schmalen, resignierten Mund. Das Haus um sie herum war still, nur das leise Summen des Kühlschranks aus der Küche war zu hören. Richard war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Es war nicht das erste Mal – aber es tat jedes Mal weh. Besonders, weil er sich nie entschuldigte oder erklärte, wo er gewesen war. Sie versuchte nicht daran zu denken, wo oder schlimmer noch, mit wem er war. Aber sie konnte nicht anders. Und sie traute sich auch nicht, ihn zu fragen – aus Angst, ihn wütend zu machen. Seine Wut war wie eine tickende Zeitbombe, und sie wollte den Stift auf keinen Fall herausziehen. Also schwieg sie jedes Mal. Keine Fragen. Heute aber fasste sie einen Entschluss. Etwas musste sich ändern. Wenn sie ihre süße Ehe und den romantischen Ehemann zurückhaben wollte, musste sie handeln – und zwar schnell. Sie griff zu ihrem Handy und tippte eine Nachricht. *Isabelle:* Ich bringe dir heute Mittagessen vorbei. Sie wartete. Doch keine Antwort kam. Nicht einmal die zwei Haken, die anzeigen würden, dass er es gesehen hatte. Ihr Brustkorb zog sich zusammen. Sie erinnerte sich daran, dass sie nicht länger stillsitzen und hoffen konnte, dass sich alles von allein besserte. Sie musste handeln. Den ersten Schritt machen. Isabelle machte sich frisch – wenn sie ihren Mann im Büro besuchen wollte, musste sie schön aussehen. Stolz. Die Ehefrau von Richard Carter, Geschäftsführer von Carter & Co. Eine Stunde später stand sie vor dem Bürogebäude, das Lunchpaket in der Hand. Sie trat selbstbewusst ein und begegnete der gelangweilten Rezeptionistin mit den scharfen Ponyfransen. Diese sah nur kurz auf. „Kann ich helfen?“ fragte sie gleichgültig. „Ich möchte Richard Carter sprechen“, sagte Isabelle mit einem kleinen Lächeln. „Haben Sie einen Termin?“ Die Frage traf sie wie ein Schlag. Ein Termin? Sie war seine Ehefrau. „Ich brauche keinen. Ich bin seine Frau.“ Die Rezeptionistin blinzelte – unbeeindruckt. „Gnädige Frau, Sie sollten nicht mit falscher Identität hausieren gehen. Das ist strafbar. Wenn Sie jetzt nicht gehen, rufe ich die Security.“ Isabelle war fassungslos. Wusste denn niemand, dass Richard verheiratet war? „Warum sollte ich lügen? Ich will nur meinen Mann sehen!“ Die Rezeptionistin seufzte. „Beweisen Sie mir, dass Sie Mrs. Carter sind.“ Isabelle zückte stolz ihr Handy. „Hier. Unser Hochzeitsfoto.“ Die Rezeptionistin bekam eine Idee – vielleicht war sie nur eine Affäre und wollte ein Drama. Also setzte sie ein falsches Lächeln auf. „Mr. Carter ist in einer Besprechung. Sie müssen warten.“ Isabelles Selbstvertrauen wankte, doch sie nickte und setzte sich. Minuten vergingen. Dann eine Stimme: „Ich sagte doch, die Zahlen stimmen nicht, Sie müssen—“ Isabelle sprang auf. Richard! Doch dann kam die andere Frau ins Bild. Elegant, groß, mit einem Kleinkind auf dem Arm. Richard lachte, berührte ihren Rücken. „Richard?“ Isabelles Stimme klang schärfer als gewollt. Er erstarrte. Für einen Moment flackerte Panik in seinen Augen, bevor sie sich zu kalter Gereiztheit wandelten. „Was machst du hier?“ fragte er scharf. „Ich hab dir Mittagessen gebracht.“ Sie hob den Behälter wie einen Schild. Die andere Frau hob eine Augenbraue. „Wer ist das?“ „Ich bin seine Ehefrau.“ Das letzte Wort brach ihr fast die Stimme. „Ah – die Isabelle Rivers?“ fragte die Frau mit einem süffisanten Lächeln. „Wer bist du?“ fragte Isabelle leise. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Rivers. Ich bin Ashley. Und das hier ist Junior Carter.“ Stille. Der Empfang war plötzlich totenstill. Richard packte Isabelle am Arm. „Nicht hier“, zischte er. Er zog sie in sein Büro. „Wer ist sie, Richard? Und das Kind – ist es deins?“ „Sprich leiser.“ Er lief nervös umher. „Antworte mir!“ Ihre Hände zitterten. Sie klammerte sich am Lunchpaket fest. „Es ist nicht, was du denkst.“ „Was dann? Du hast mich jahrelang belogen!“ Er lehnte sich über den Schreibtisch. „Es ist nichts. Du blamierst mich. Geh. Jetzt.“ „Lüg mich nicht an! Ich habe deine andere Familie gesehen!“ Er erstarrte. Für einen Moment lag Schuld in seinen Augen – dann kam die Wut zurück. „Du hast kein Recht, einfach hier aufzutauchen.“ „Ich bin deine Frau!“ „Dann benimm dich so.“ Die Worte trafen – und dann kam der Schlag. Ihre Wange brannte. Isabelle starrte ihn an. Tränen liefen über ihr Gesicht. Er rührte sich nicht. „Das ist deine Schuld, Isabelle. Du hast mich dazu gebracht. Du solltest verschwinden, bevor ich zurückkomme.“ Sie sagte nichts. Konnte nichts sagen. Später, als das Haus still war, packte Isabelle eine kleine Tasche. Wie ein Geist schlich sie sich hinaus, das kühle Nachtlicht im Gesicht. Und trat in das Unbekannte.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD