Isabelle stand auf dem schwach beleuchteten Gehweg und klammerte sich an den Gurt ihrer Tasche. Die kühle Nachtluft war erfrischend auf ihrer tränenverschmierten Haut, doch sie konnte den Sturm in ihrem Inneren nicht beruhigen. Sie hatte keinen Plan, kein Ziel – nur den verzweifelten Drang zu fliehen.
Ihre Schritte führten sie instinktiv zu dem einzigen Ort, der ihr einfiel: das Haus ihres Vaters. Der Gedanke, ihm nach all den Jahren wieder gegenüberzustehen, war beängstigend – doch sie brauchte Hilfe. Sicherlich würde er sie verstehen.
Als sie schließlich das vertraute eiserne Tor ihres Elternhauses erreichte, war es bereits tief in der Nacht. Sie zögerte, ihre Hand schwebte über dem Klingelknopf. Eine kleine Stimme in ihrem Kopf schrie, sie solle umkehren, aber sie drückte sie zur Seite und betätigte den Knopf. Sie wusste, dass sie vielleicht nicht willkommen war – nicht mit dieser Stiefmutter – aber ihr leiblicher Vater war auch dort, und er würde doch nicht tatenlos zusehen, wie sie misshandelt wurde.
Nach einer langen Pause knackte der Lautsprecher. „Wer ist da?“
„Ich bin’s… Isabelle“, sagte sie mit zitternder Stimme.
Es folgte ein weiterer Moment der Stille, dann klickte das Tor. Sie trat ein, schleppte ihre Tasche müde hinter sich her und näherte sich der Haustür.
Als diese sich öffnete, stand Margaret, ihre Stiefmutter, im Türrahmen. Die Jahre der Trennung hatten weder ihre scharfen Gesichtszüge gemildert noch die Kälte in ihren Augen verschwinden lassen.
„Isabelle“, sagte Margaret, mit einer Mischung aus Überraschung und unverhohlener Abneigung. „Was führt dich hierher?“
Isabelles Mutter war gestorben, als sie fünf war, und ihr Vater hatte wieder geheiratet. Er behauptete, es sei, um Isabelle eine Mutterfigur zu geben – aber für Isabelle war es die Hölle. Besonders, als Margaret ihre eigene Tochter bekam und nach und nach ihren Vater gegen sie aufhetzte.
„Ich muss mit Papa sprechen“, sagte Isabelle leise und vermied Margarets stechenden Blick.
Margarets Lippen verzogen sich zu einem falschen Lächeln. „Nach all den Jahren? Und du siehst aus wie ein Häufchen Elend.“ Sie deutete abschätzig auf Isabelles zerzaustes Äußeres.
„Bitte, ich muss ihn einfach sehen“, flüsterte Isabelle, ihre Stimme drohte zu brechen.
Mit einem übertriebenen Seufzer trat Margaret zur Seite. Der Unterschied zwischen der Kälte ihres Empfangs und der Wärme im Haus war gewaltig.
„Warte hier“, sagte Margaret, bevor sie die Treppe hinaufging.
Isabelle sank auf die Sofakante, klammerte sich an ihre Tasche wie an ein Rettungsseil. Die einst vertraute Umgebung wirkte fremd – seit Margaret da war, hatte sich alles verändert. Früher dachte Isabelle, böse Stiefmütter gäbe es nur in Märchen – Margaret hatte sie eines Besseren belehrt.
Die Stimme ihres Vaters riss sie aus den Gedanken. „Isabelle? Was ist denn los?“
Sie stand auf, als er das Wohnzimmer betrat. Sein Haar war grauer geworden, sein Rücken leicht gekrümmt, aber die scharfen Augen waren dieselben. Sie musterten sie mit Sorge – und Misstrauen.
„Papa“, begann Isabelle zitternd. „Ich brauche deine Hilfe.“
Er runzelte die Stirn. „Hilfe? Was ist denn passiert? Was kann ich tun, was dein Mann nicht kann?“
Isabelle zögerte. Es laut auszusprechen, würde es real machen. „Es geht um Richard… Er tut mir weh.“
Margaret tauchte wieder auf, die Arme verschränkt. „Tut dir weh? Was soll das heißen?“
„Er schlägt mich“, sagte Isabelle, ihre Stimme schwoll vor Frustration. „Und… er hat eine andere Familie. Er hat mich jahrelang belogen.“
Das Gesicht ihres Vaters verdunkelte sich – aber nicht mit der Wut oder Empörung, die sie erwartet hatte. Nicht die Reaktion eines liebenden Vaters. „Was hast du getan, dass er dich schlägt?“
Isabelles Mund blieb offen. „Was?“
Margaret schüttelte mitleidig den Kopf. „Ach, Isabelle. Ein Mann schlägt seine Frau nicht ohne Grund. Bestimmt hast du etwas getan. Was verschweigst du uns?“
„Ich sage die Wahrheit!“ rief Isabelle verzweifelt. „Er betrügt mich, belügt mich, behandelt mich wie Dreck. Ich konnte nicht länger dortbleiben.“
Der Blick ihres Vaters wurde hart. „Eine Ehe ist kein Kinderspiel, Isabelle. Man rennt nicht weg, nur weil’s schwierig wird.“
„Schwierig?“ Ihre Stimme war nur noch ein Hauch. „Er ist gewalttätig, Papa. Verstehst du das nicht? Er liebt mich nicht!“
Margaret verschränkte die Arme, der Ton gönnerhaft. „Vielleicht würdest du nicht geschlagen, wenn du dich wie eine richtige Ehefrau benehmen würdest. Richard Carter ist ein anständiger Mann. Vielleicht wollte er dir nur zeigen, wie man sich benimmt. Und überhaupt – wo sind deine Beweise? Ich sehe keinen einzigen Kratzer.“
Isabelle spürte, wie sich die Wände um sie schlossen. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Ein Fehler, zu glauben, sie würden helfen. Zu glauben, ihr Vater würde sie verteidigen – nicht mit dieser Frau an seiner Seite.
Ihr Vater richtete sich auf, sein Blick entschlossen. „Du gehst zurück zu ihm.“
„Nein!“ Isabelle trat einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf. „Ich werde nicht.“
„Doch, wirst du“, sagte er scharf. „Du wirst diese Familie nicht blamieren, indem du vor deinem Ehemann davonläufst. Du wirst das in Ordnung bringen.“
Er wandte sich an Margaret. „Ruf Richard an. Sag ihm, er soll sie abholen.“
„Papa, bitte—“ flehte Isabelle, Tränen strömten über ihr Gesicht.
Aber seine Entscheidung stand fest. „Genug, Isabelle. Du gehst zurück. Und du wirst deine Ehe reparieren. Das ist mein letztes Wort.“
„Dann gehe ich… und ihr werdet mich nie wieder sehen“, drohte Isabelle, in der Hoffnung, es würde ihn umstimmen.
Doch er warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu und sagte dann zu Margaret: „Liebling, schließ die Tür ab. Sie darf nicht raus, bis Richard kommt. Ich hab keine Zeit für ihren Unsinn.“
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Richard kam weniger als eine Stunde später, sein Gesicht eine Mischung aus Wut und selbstzufriedener Arroganz. Isabelle stand an der Tür, die Tasche noch immer in den zitternden Händen, als ihr Vater ihn empfing.
„Danke, dass du gekommen bist, Richard“, sagte ihr Vater und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich bin sicher, du wirst das regeln.“
„Oh, das werde ich“, sagte Richard kalt.
Er wandte sich an Isabelle, seine Augen schmal. „Komm, Liebling.“
Sie sah ihren Vater ein letztes Mal an, stumm flehend. Doch er wich ihrem Blick aus. Margaret hingegen grinste voller Genugtuung.
Ohne andere Wahl folgte Isabelle ihm nach draußen, das Herz schwer wie Blei.
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Die Autofahrt nach Hause war still – die Spannung war so dicht, dass man sie schneiden konnte. Richards Knöchel waren weiß, so fest hielt er das Lenkrad, sein Kiefer angespannt vor unterdrückter Wut.
Zuhause angekommen, sagte er kein Wort, während er sie hineinführte. Doch kaum war die Tür geschlossen, brach seine Wut los.
„Weißt du überhaupt, was du mir damit eingebrockt hast?!“ knurrte er und drückte sie gegen die Wand.
Isabelle zuckte zusammen, ihr Körper spannte sich, als er sich ihr näherte. „Zu deinem Daddy rennen? Mich bloßstellen?!“
„Ich habe ihnen nichts gesagt“, flüsterte sie – eine Lüge, um die Schläge in dieser Nacht zu vermeiden. In ihr wuchs ein neues Leben, das überleben musste – egal was es kostete. Sie hatte ihm noch nichts davon gesagt, und dies war sicherlich nicht der richtige Moment.
„Lüg mich nicht an!“ schrie er und schlug mit der Faust gegen die Wand neben ihrem Kopf.
Tränen liefen über ihr Gesicht, aber sie wagte es nicht, sich zu rühren.
„Du gehörst mir, Isabelle“, zischte er. „Und du wirst nirgends hingehen. Wenn du es versuchst, finde ich dich. Und dann bringe ich dir bei, wie man gehorcht.“
Als er davonstürmte, sie zitternd und gebrochen zurückließ, wurde Isabelle eines klar:
**Sie musste hier raus – um jeden Preis.**