Kapitel 1

3236 Words
Kapitel Eins Der zuckende lilafarbene Tentakel schiebt sich zwischen die Beine des Mädchens. Ich werfe einen misstrauischen Blick auf meine Großmutter. Das passt zu ihr. Während die meisten Großmütter einen Herzinfarkt bekommen würden, wenn sie so etwas sehen, schaut meine mit der Faszination einer angehenden Gynäkologin zu. Ein zweiter Tentakel schließt sich dem Spaß an. Omas Faszination wird immer größer und entspricht jetzt der einer angehenden Proktologin. Ich drehe meinen Kopf vom Fernseher zu ihr und dann wieder zurück. Schließlich frage ich vorsichtig: »Oma, warum sehen wir uns einen Tentakelporno an?« Mit einem leichten Stirnrunzeln drückt sie die Pausentaste. »Es heißt Hentai. Diese Cartoons kommen aus Japan.« Ernsthaft, Japan? Rohen Tintenfisch zu essen reicht nicht? Müsst ihr jetzt auch noch meine ohnehin schon unangenehm sexbesessene Großmutter verderben? Ich seufze. »Warum sehen wir uns Hentai an?« Sie wackelt mit ihren perfekt gepflegten Augenbrauen. »Das ist etwas, das deinem Großvater und mir Spaß macht. Ich dachte, es wäre auch was für dich.« Cthulhu hilf mir … wenn too much information sich in eine Person verwandeln könnte, wäre es meine Oma. Sie ist sogar noch schlimmer als ihre Tochter – meine Mutter. »Wie kommst du darauf, dass Tentakelpornos etwas für mich sind?« Sie wirft einen Blick auf das große Aquarium am Fenster, in dem Beaky lebt, mein bester Freund, der zufällig ein riesiger pazifischer Krake ist. »Du liebst dieses Ding wirklich, und du hast eine Durststrecke hinter dir, also habe ich …« Ich räuspere mich laut und deutlich. »Willst du andeuten, dass ich auf Tiere stehe?« Ich liebe alles, was mit Kraken zu tun hat. Da ich eine Meeresbiologin und eine von acht Schwestern bin, ist das nur logisch. Das heißt aber nicht, dass ich mit ihnen sexuelle Beziehungen haben möchte. Sie zuckt mit den Schultern. »Wie ich neulich zu meinem skatophilen Freund beim Bingo gesagt habe: Ich verurteile keine Fetische.« Ich massiere meinen Nasenrücken. »Ich habe keine Vorliebe für s*x mit Tintenfischen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es so etwas gibt.« Sie grinst. »Das ist Regel Nummer 34. Wenn du es dir vorstellen kannst, gibt es einen Porno davon.« Ich spitze meine Lippen. »Wenn jemand s*x mit einem Lebewesen ohne dessen Zustimmung hat, behalte ich mir das Recht vor, ihn zu verurteilen. Und es ist mir egal, ob sie einen Kraken, eine Ziege oder eine Kakerlake belästigen.« Oma nickt Beaky zu. »Du sagst immer, wie klug er ist. Vielleicht kann er mit seinen Tentakeln Zeichensprache machen?« Mit ihr lässt sich genauso wenig streiten wie mit meiner Schwester Gia. Das passt auch, denn Gia wurde nach ihr benannt. Ich versuche es trotzdem. »Beaky und ich sind nur Freunde.« »Ihr könntet Freunde mit Extras sein.« Igitt. »Wir sind rein platonisch befreundet.« »Nun … ich habe dein Zimmer aufgeräumt und bin dabei über deinen Tentakeldildo gestolpert.« Zu meinem Entsetzen sieht sie verlegen aus, als sie das sagt – das ist definitiv eine Premiere. Ich werde so rot wie Beaky, wenn er versucht, bedrohlich auszusehen. Dann erinnere ich mich daran, dass Florida berühmt für Erdkrater ist. Könnte mich bitte jetzt einer verschlucken? »Den habe ich aus Spaß gekauft, Oma. Außerdem haben Oktopusse keine Tentakel. Du denkst an Tintenfische und Sepia.« »Oh?« Sie betrachtet das Aquarium verwirrt. »Wie nennt man denn diese acht Anhängsel?« Ich gehe zum Aquarium hinüber und nehme die Fernbedienung. »Arme.« Sie blinzelt mich an. »Was ist der Unterschied?« Ich weiß, dass ich vor dem falschen Publikum in meinen Meeresbiologie-Modus verfalle, aber ich kann nichts dagegen tun. »Wenn überall Saugnäpfe …« »Saugnäpfe?« Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Ach, Oma, hör auf. Wie ich schon sagte: Wenn überall Saugnäpfe sind, ist es ein Arm. Wenn sie nur an der Spitze sind, ist es ein Tentakel. Die Arme lassen sich auch besser kontrollieren, während die Tentakel verlängert sind und …« »Okay, okay, es tut mir leid«, sagt sie. Ich verenge die Augen. »Es tut dir leid, dass du vorgeschlagen hast, dass ich eine Beziehung mit meinem Oktopus habe? Oder tut es dir leid, dass du in meiner privaten Schublade geschnüffelt hast?« Ihr Grinsen ist so schelmisch wie das eines ungezogenen Kindes. »Tut mir leid, dass ich gefragt habe.« Mit einem Räuspern aktiviere ich den Motor unter dem Aquarium, und es beginnt, zu rollen. »Falls es noch nicht klar ist, Beaky und ich gehen spazieren.« Meine Großmutter winkt zum Abschied und setzt dann ihren Porno genauso fasziniert wie zuvor fort. Hey, ich verurteile sie nicht. Ich schaue mir immer Aquaman an, wenn ich in Stimmung bin. Das Anime-Mädchen stöhnt mit der quietschenden, hohen Stimme, die für dieses Genre typisch ist. Finden japanische Männer kindliche Stimmen sexy? Gut. Vielleicht verurteile ich ein wenig. Da ich nicht mehr willkommen bin, führe ich Beakys motorisiertes Aquarium in den Essbereich, wo ich meinen Großvater am Tisch sitzen und liebevoll ein Scharfschützengewehr zusammenbauen sehe. Wie meine Großmutter ist er gut in Form, besonders für einen Achtzigjährigen. Mit seinem dichten Haar und seinen muskulösen Armen könnte er jüngeren Männern Testosteron spenden. Er schaut von seiner Waffe auf, und ein Lächeln umspielt seine verwitterten Lippen. »Ah, Kaper. Was hast du vor?« Ich grinse. Mein Name ist Olive – meine Eltern sind böse in ihrem Hippie-Dippie-Dasein –, und wenn Opa mich Kaper nennt, meint er kleine Olive, wodurch ich mich wieder wie ein kleines Mädchen fühle. Natürlich werde ich ihm nie sagen, dass sein Spitzname für mich botanisch nicht korrekt ist. Kapern sind die Blüten eines Strauches, während Oliven eine Baumfrucht einer ganz anderen Art sind. »Ich gehe mit Beaky spazieren«, antworte ich und nicke dem Aquarium zu. Opa blinzelt in Richtung des Glases, und Beaky wählt genau diesen Moment, um wie ein Stein auszusehen – wie jedes Mal, wenn Opa versucht, ihn anzuschauen. Opa reibt sich die Augen. »Ist da wirklich ein Oktopus drin? Ich habe das Gefühl, dass du und deine Großmutter mir weismachen wollt, ich würde senil werden.« »Nein. Es ist Beaky, der dich auf den Arm nimmt.« Ich kann es meinem Großvater nicht verübeln, dass er meinen achtarmigen Freund nicht sieht. Wenn es um Tarnung geht, sind Kraken den Chamäleons weit überlegen. Und wenn ein Chamäleon im wahrsten Sinne des Wortes baden gegangen wäre, würde keine noch so gute Tarnung es davor bewahren, das Mittagessen eines Oktopus zu werden. Opa schüttelt den Kopf. »Warum?« Ich zucke mit den Schultern. »Er ist eine Kreatur mit neun Gehirnen, eins im Kopf und eins in jedem Arm. Der Versuch, sein Denken zu entschlüsseln, würde jedem Kopfschmerzen bereiten.« Opa blinzelt wieder zum Aquarium, aber Beaky bleibt bei seiner Felsenverkleidung. »Warum gehst du überhaupt mit ihm spazieren?« »Damit er sich nicht langweilt. Was er wirklich braucht, ist ein größeres Aquarium, aber im Moment muss er sich mit einem Tapetenwechsel begnügen.« »Sich langweilt?« »Ja. Ein gelangweilter Oktopus ist schlimmer als ein siebenjähriger Junge auf Koffein und Geburtstagskuchen. In Deutschland hat ein Krake namens Otto wiederholt das gesamte elektrische System des Sea-Star-Aquariums kurzgeschlossen, indem er Wasser gegen den Zweitausend-Watt-Scheinwerfer spritzte. Weil ihm langweilig war.« Opa zieht seine buschigen Augenbrauen hoch. »Aber machst du keine Puzzle für ihn? Lässt ihn fernsehen?« Ich nicke. Ich bin berühmt dafür, Puzzles für Kraken zu machen, und so habe ich meinen neuen Job bekommen. »Spielzeug und Fernsehen helfen«, sage ich, »aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass er sich eingesperrt fühlt.« Grunzend kramt Opa in seiner Tasche und holt eine Handfeuerwaffe heraus, die so groß ist wie mein Arm. »Nimm die mit.« Er drückt sie mir in die Hand. Ich schaue auf das Instrument des Todes. »Warum?« »Schutz.« »Wovor? Wir sind in einer geschlossenen Wohnanlage.« Er schiebt die Waffe mit größerer Dringlichkeit zu mir. »Es ist besser, eine Waffe zu haben und sie nicht zu brauchen.« Ich nehme das Angebot nicht an. »Die Kriminalitätsrate in Palm Islet ist zehnmal niedriger als in New York.« Opa nimmt das Magazin aus dem Gewehr, prüft es, schiebt eine zusätzliche Patrone hinein und lässt es wieder einrasten. »Es würde mich beruhigen, wenn du sie nehmen würdest.« »Bei Cthulhu«, murmele ich vor mich hin. »Gesundheit«, sagt Opa. »Das war kein Nieser. Ich sagte ›Cthulhu‹.« Opa blickt mich ausdruckslos an, und ich seufze. »Er ist ein fiktives kosmisches Wesen, von H. P. Lovecraft. H. P. Lovecraft mit Oktopus-Merkmalen.« »Oh. Ist er das in den sexy Cartoons deiner Großmutter?« »Auf keinen Fall.« Ich erschaudere bei dem Gedanken. »Cthulhu ist Hunderte von Metern groß. Er ist einer der Großen Alten, und seine Aufmerksamkeiten würden eine Frau genauso schnell zerreißen wie in den Wahnsinn treiben.« »Na gut.« Opa versucht erneut, mir die Waffe in die Hand zu drücken. »Nimm sie und geh.« Ich verstecke meine Hände hinter meinem Rücken. »Ich habe keinen Waffenschein.« »Du machst Witze.« Er sieht mich ungläubig an. »Morgen bringe ich dich zu einem Kurs für verdecktes Tragen.« Ich kämpfe gegen ein Cthulhu-großes Augenrollen an. »Ich habe morgen viel zu tun, ich fange einen neuen Job an und so.« Mit einem Stirnrunzeln packt er die Waffe weg. »Wie wäre es mit diesem Wochenende?« »Mal sehen«, sage ich so unverbindlich wie möglich, bevor ich meine Handtasche von der Lehne des in der Nähe stehenden Stuhles nehme und erneut auf den Knopf der Fernbedienung drücke, um das Aquarium in die Garage zu rollen. Meine Großeltern, wie auch andere Floridianer, ziehen es vor, ihr Haus auf diese Weise zu verlassen, anstatt zum Beispiel durch die Haustür. Sobald mein Großvater außer Sichtweite ist, hört Beaky auf, ein Fels zu sein, breitet seine Arme aus und wird aufgeregt rot. »Du solltest dich schämen«, sage ich nachdrücklich zu ihm. Wir sind der Gottkaiser des Aquariums, und von Cthulhu ernannt. Wir werden den Ruhm unseres Anblicks nicht an Unwürdige verschenken. Beeil dich, unsere untertänige Priesterin. Wir wollen den Sonnenschein auf unseren Saugnäpfen schmecken. Jepp. Ellen DeGeneres sprach in Findet Dorie mit einem fiktiven fühlenden Kraken, während mein echter Krake in meinem Kopf mit mir spricht. Und ich bin nicht der Einzige, der diese imaginären Unterhaltungen führt. Seit meine Schwestern und ich Kinder waren, haben wir Tieren Stimmen gegeben. In meiner Vorstellung klingt Beaky wie neun Menschen, die gemeinsam sprechen – das Hauptgehirn und die acht in seinen Armen –, und sein Ton ist herrisch – Kraken haben schließlich blaues Blut. Oh, und seine Worte kommen mit diesem schwachen, gurgelähnlichen Soundeffekt heraus, der in Aquaman verwendet wird, wenn die Atlanter unter Wasser sprachen. Ich öffne das Garagentor. Draußen ist es trotz der alten Eichen, die viel Schatten spenden, super sonnig. Seufzend nehme ich eine große Tube meiner Lieblingssonnencreme auf Mineralbasis aus meiner Tasche und bedecke mich von Kopf bis Fuß mit einer dicken Schicht. Der UV-Index ist 10, also warte ich ein paar Minuten und decke mich dann mit einer zweiten Schicht ab. Ich mache das heimlich in der Garage, um zu verhindern, dass meine Großeltern mich hänseln, weil ich einen Job im Sunshine State angenommen habe, während ich paranoid bin, was die Sonne betrifft. Und nein, ich bin keine Vampirin – obwohl meine Schwester Gia mit ihrem Gothic-Make-up verdächtig danach aussieht. Die Sonne zu meiden ist angesichts der schädlichen Auswirkungen von UV-Strahlen, sowohl A- als auch B-Strahlen, sowie von blauem, infrarotem und sichtbarem Licht wissenschaftlich durchaus sinnvoll. Sie alle verursachen DNA-Schäden. Ich bin vor einigen Jahren auf dieses Thema gestoßen, als Sushi, mein Clownfisch, an Hautkrebs erkrankte, wahrscheinlich, weil sein Aquarium an einem Fenster stand. Seitdem bin ich vorsichtig und habe sogar eine dreifache Schicht UV-Schutzlack auf Beakys Aquarium aufgetragen. Ist mir klar, dass ich mir ein wenig mehr Sorgen um die Sonne mache als jeder andere, der kein paranoider Dermatologe ist? Sicher. Aber kann ich damit aufhören? Nein. Ich glaube, ein gewisses Maß an Neurose ist in meine DNA programmiert, zumindest wenn ich mir meine eineiigen Sechslings-Schwestern anschaue. Aber hey, wenn ich in meinen Achtzigern bin und jünger aussehe als alle meine Schwestern, werden wir sehen, wer zuletzt lacht. Nach dem Sonnenschutz ziehe ich eine leichte Jacke mit Reißverschluss an, die mit UV-Schutzmitteln beschichtet ist, einen breitkrempigen Hut und eine riesige Sonnenbrille. So. Wenn ich es wirklich zu weit treiben würde, würde ich eines dieser Darth-Vader-Visiere tragen, oder? Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich Beakys Aquarium in die pralle Sonne folge, aber ich beruhige mich, indem ich mich daran erinnere, dass der Sonnenblocker seine Aufgabe erfüllen wird. Als das Aquarium die Auffahrt hinunter und auf den schattigen Bürgersteig am See rollt, wird meine Atmung noch gleichmäßiger. So weit, so gut. Jetzt hoffe ich nur, dass ich nicht zu viele nervige Fragen von neugierigen Nachbarn bekomme. Ein Reiherpaar fliegt in unserer Nähe, während wir am Seeufer entlangspazieren. Beaky betrachtet es aufmerksam und ändert einige Male seine Form. Wir möchten diese Dinger probieren. Sei eine gute untertänige Priesterin und liefere sie im Aquarium ab. Ich klopfe auf die Oberseite des Aquariums. »Ich gebe dir eine Garnele, wenn wir zurück sind.« Wir entdecken beide einen Waschbären, der im Gras am See wühlt, wahrscheinlich auf der Suche nach Schildkröten- oder Alligatoreneiern. Die wollen wir auch probieren. »Ich gebe dir eine Garnele ohne Puzzle«, sage ich ihm. Normalerweise stecke ich seine Leckereien in eine meiner Kreationen, damit ihm die Mahlzeit besonders viel Spaß macht, aber wenn er sich durch das Beobachten der Landtiere Appetit geholt hat, möchte ich seine Belohnung nicht hinauszögern. Ein ein Meter fünfzig langer Alligator kriecht langsam aus dem See. Ja, wir sind definitiv in Florida. Als Beaky ihn entdeckt, holt er zwei Kokosnussschalen vom Boden seines Beckens und bedeckt sich damit, so dass er für die Welt – und den Alligator – wie eine unschuldige Kokosnuss aussieht. »Er kann nicht in dein Aquarium eindringen«, sage ich beschwichtigend. »Ganz zu schweigen davon, dass er Angst vor mir hat. Hoffentlich.« Die Statistiken über Alligatorangriffe stehen zu unseren Gunsten. In einem Staat mit Schlagzeilen wie Florida-Mann verprügelt Alligator und Florida-Mann wirft Alligator durch Fenster in Wendy’s Drive-in haben die Alligatoren gelernt, sich weit, weit weg von den wahnsinnigen Menschen aufzuhalten. Weil Beaky keine Nachrichten liest oder Online-Statistiken checkt, schaut sein Auge skeptisch aus den Kokosnussschalen heraus. Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Bürgersteig und entdecke ihn. Einen Mann. Und was für einen Mann. Er hätte anstelle von Jason Momoa die Hauptrolle in Aquaman spielen können. Wenn ich den Hauptdarsteller für meine feuchten Träume casten würde, würde dieser Typ definitiv die Rolle bekommen. Der Gedanke lässt meine Unterleibsregionen heiß werden, besonders den Teil, den ich privat als meine Wunderpus bezeichne – zu Ehren von wunderpus photogenicus, einer erstaunlichen Krakenart, die in den achtziger Jahren entdeckt wurde. Übrigens, ich habe einmal ein Foto von meiner Wunderpus gemacht, und sie ist auch photogenicus. Aber zurück zu dem Fremden. Starke, männliche Züge, die von einem tadellos gestutzten Bart umrahmt werden, blaugrüne Augen so tief wie der Ozean, ein gebräunter, muskulöser Körper, der in tief sitzende Jeans und ein ärmelloses Oberteil gekleidet ist, das seine kräftigen Arme zeigt, dichtes Haar mit blonden Strähnen, das ihm bis auf die breiten Schultern fällt – er würde wie ein Surfer aussehen, wäre da nicht der grüblerische Ausdruck in seinem Gesicht. Beaky muss den Alligator vergessen haben, denn er ist aus seiner Kokosnuss herausgekrochen und schaut den Fremden fasziniert an. Das passt zu ihm. Aquaman kann mit Kraken und anderen Meeresbewohnern sprechen. Ich merke, dass ich ihn ebenfalls anstarre, und spanne mich an, als er näher kommt. Anders als in New York, wo es üblich ist, an einem Fremden vorbeizugehen, ohne ihn zu grüßen, grüßt hier in Florida jeder zumindest seine Nachbarn. Was soll ich sagen, wenn er mich anspricht? Traue ich mich überhaupt, meinen Mund aufzumachen? Was ist, wenn ich ihn versehentlich bitte, mit mir zu machen, was er will? Moment einmal. Ich glaube, ich hab’s kapiert. Er geht auch mit einem Haustier spazieren, in seinem Fall einem Dackel, auch bekannt als Hotdog-Hund, das phallischste Mitglied der Hundespezies. Ich muss nur etwas über sein Wiener Würstchen sagen – das, das mit dem Schwanz wedelt, nicht seine Aqua-Männlichkeit. Als der Mann nur noch ein paar Meter von mir entfernt ist, scheint er mich zum ersten Mal zu bemerken. Tatsächlich richtet sich sein Blick auf Beakys Aquarium, und sein grüblerischer Gesichtsausdruck wird geradezu feindselig – der Kiefer ist angespannt, der Mund nach unten gezogen, die Augen funkelnd. Das Verrückte daran ist, dass er jetzt nicht weniger heiß aussieht. Vielleicht sogar noch mehr. Was stimmt nicht mit mir? Kein Wunder, dass ich am Ende mit Arschlöchern wie … Seine tiefe, sexy Stimme ist die Art von Kälte, die selbst in dieser feuchten Sauna für Kälte sorgen kann. »Wie viel für den Kraken?« Ich blinzele, dann verenge ich meine Augen auf den Fremden, und meine Nackenhaare richten sich auf wie die Stacheln eines Kugelfisches. Er will Beaky kaufen? Warum? Will er ihn essen? Dies ist der Staat, in dem die Menschen Alligatoren, Schildkröten – sogar die geschützten Arten –, Ochsenfrösche, burmesische Pythons und Limettenkuchen essen. Mit zusammengebissenen Zähnen zeige ich auf den schwanzwedelnden Hund an seiner Seite. »Wie viel für die Bratwurst?« Ein Grinsen umspielt seine vollen Lippen. »Lassen Sie mich raten … eine New Yorkerin?« Aquaman? Eher Aqua-Arschloch. »Lassen Sie mich raten. Florida-Mann?« Ich kann mir schon den Rest der Schlagzeile vorstellen. »… stiehlt Tintenfisch aus Aquarium und versucht, s*x mit ihm zu haben.« Wenn man bedenkt, was meine Großmutter über Regel Nummer 34 gesagt hat und wo ich bin, ist das gar nicht so weit hergeholt. Ich habe einmal einen Artikel über einen Mann aus Florida gelesen, der versuchte, einen lebenden Hai auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums zu verkaufen. Was ist s*x mit einem Oktopus im Vergleich dazu? Seine dicken braunen Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Die Geschichten, auf die Sie anspielen, handeln von Zugezogenen. Sie handeln nie von echten Floridianern.« »Oh, ich habe gelesen, worüber Sie sprechen«, sage ich mit einem Schnauben. »Florida-Mann wird erstmals p***s von einem Pferd transplantiert.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass in dem Artikel stand, dass der tapfere Pionier in Melbourne geboren und aufgewachsen ist – das ist zwei Stunden von hier entfernt.« Ups. Bin ich zu weit gegangen? Hier scheint wirklich jeder eine Waffe zu tragen. Und da ich ihn vorhin attraktiv fand, könnte er sich bei meiner Dating-Bilanz durchaus als gefährlich erweisen. Anstatt eine Waffe zu ziehen, reibt sich der Fremde den Nasenrücken. »Geschieht mir recht, wenn ich versuche, mit einer New Yorkerin zu streiten. Vergessen Sie die Nachrichten. Das Aquarium ist zu klein für diesen Kraken. Wie würde es Ihnen gefallen, Ihr Leben in einem Mini Cooper zu verbringen?« Ich atme tief ein, und mein Magen zieht sich zusammen. »Wie würde es Ihnen gefallen, an der Leine geführt zu werden?« Ich deute mit dem Kinn auf sein Würstchen, dessen Schwanz nicht mehr wackelt. »Oder gezwungen zu sein, Ihre schreiende Blase und Ihren Darm zu ignorieren, bis Ihr Herrchen sich herablässt, mit Ihnen Gassi zu gehen? Oder dass man an Ihren Fortpflanzungsorganen herumpfuscht?« Er starrt mich wütend an. »Tofu ist nicht kastriert. In der Tat, ist er …« »Tofu?« Mir klappt die Kinnlade herunter. »Ein Tofu-Hotdog? Das ist Tierquälerei.« Die Adern, die in seinem Nacken hervortreten, sehen unheimlich sexy aus. »Was ist falsch an dem Namen Tofu?« Bevor ich antworten kann, jammert Tofu jämmerlich. »Gute Arbeit«, sagt der Fremde. »Jetzt haben Sie ihn verärgert.« »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das getan haben. Indem Sie dem armen Hund den Namen Tofu gegeben haben.« »Diese Unterhaltung ist vorbei.« Er dreht mir den Rücken zu und zieht an der Leine. »Komm, Tofu.« Tofu wirft mir einen traurigen Blick zu, der zu sagen scheint: Ich mag es nicht, wenn mein Daddy und meine neue Mommy streiten. Mit einem Schnauben rolle ich Beakys Aquarium in die entgegengesetzte Richtung.
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