Zurückgelassen 2

1210 Words
Das Klopfen an meiner Tür durchbrach meine Gedanken und raubte mir dein lächelndes Gesicht, das sich vor mein inneres Auge geschoben hatte. ‚Taiyo? Telefon für dich.‘ Im nächsten Moment stand schon mein Vater in meinem Zimmer und hielt mir den Hörer entgegen. Er zwang sich zu einem Lächeln, doch in seinen Augen funkelte Missgunst und das beklemmende Gefühl in meiner Brust verstärkte sich. Doch er sagte nichts mehr, als er mir den Hörer unseres Festnetzes überreichte. ‚Hallo? Taiyo hier.‘ Ich lauschte dem schweren Atem und dem leisen Wimmern. Ein Schluchzen folgte und dann erklang eine zittrige, weibliche Stimme: ‚Bist du es wirklich, Taiyo?‘ ‚Ja, wer sind Sie?‘ Sie kam mir bekannt vor, doch ich konnte sie nicht zuordnen. Erneut ein Wimmern und Schluchzen, die mir einen weiteren Stein in den Magen warfen. ‚Tsuki –‘ Sie überging meine Frage und als dein Name fiel, erschauderte ich unter der Erkenntnis: unsere Mutter. Wieso rief sie an? Was war mit dir geschehen? Lag es daran, dass ich deine Stimme gehört hatte? Warst du vielleicht abgehauen? ‚Er ist nicht hier.‘ Ein letzter, verzweifelter Versuch, sich der Wahrheit zu entziehen und dieses brennende, aber auch eiskalte Ziehen in meiner Brust zu entschärfen. Es klappte nicht, denn sie lachte kurz traurig auf. ‚Das weiß ich. Er kann nicht bei dir sein. Er kann nirgends mehr sein.‘ Die Vorahnung fraß sich schneidend als Erkenntnis durch meine Gedanken und meine Sicht verschwamm. ‚Was ist los?‘ ‚Da war so viel Blut.‘ Erneut schluchzte sie und weinte. Ich lauschte ihren Tränen und schluckte die bittere Galle, die sich durch die Panik unter meiner Zunge gesammelt hatte, herunter. Sie musste weitersprechen, doch dort war auch der Impuls aufzulegen und so dieser grausamen Wahrheit zu entfliehen. ‚So viel Blut unter Tsuki.‘ Erneut ein Wimmern und sie rang nach Atem: Schluchzte, weinte und schniefte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um den Schmerz, der sich ebenfalls aus meiner Kehle herauskämpfen wollte, festzuhalten. ‚Ist er verletzt? Hatte er einen Unfall?‘ Ich klammerte mich an den letzten Rest der Hoffnung, doch dann hörte ich einen Knall auf der anderen Seite der Leitung. Ein verzweifelter Schrei, so voller Schmerz, dass ich ebenfalls wimmerte. Wie ein Echo auf ihr Leid, doch ich wischte die Tränen sofort weg. Solange sie es noch nicht ausgesprochen hatte, bestand die Möglichkeit, dass es anders war. ‚Er hat geschworen, dass er es nicht mehr tut.‘ Der Satz war nicht für mich. Es war ein Mantra, das sie sich selbst aufsagte, um sich dem Schrecken zu verweigern. Doch in mir wuchsen die Panik und die Gewissheit. Dein letzter Schrei glitt über meine Wirbelsäule und stellte all meine Haare auf. Sofort schlossen sich meine Finger fester um den Hörer. ‚Was ist mit Tsuki passiert?‘ Ich schrie nach ihrer Aufmerksamkeit, auch wenn die Frage nur ein Flüstern war, dort war nur ihr wahnsinniges Lachen, das wieder in ein Wimmern überging. ‚So viel Blut um Tsuki herum. Er hatte es mir versprochen.‘ ‚Mutter, bitte, was ist mit Tsuki geschehen?‘ Ich sank auf mein Bett nieder und lauschte erneut ihrem Wimmern und dem Mantra. ‚Er hat geschworen, dass er es nicht mehr tut. Er hatte es mir versprochen. Blut. Überall Blut.‘ ‚Ist Tsuki –?‘ Ich stockte und schluckte schwer. Ich konnte es nicht aussprechen, denn erneut zog sich meine Kehle zusammen und meine Zunge war wie gelähmt. Es verzerrte mich nach Gewissheit, doch dort war auch die Angst, dass aus dem Verdacht Wahrheit wurde, und das ertrug ich nicht. Wir hatten uns versprochen, dass wir einander wiedersahen. ‚So viel Blut.‘ Nur ein Hauch, der sich schwer in meinem Zimmer ausbreitete und dann war dort wieder das verzweifelte Lachen, das in ein Wimmern und Schluchzen überging. Der Drang, zu euch zu eilen, verstärkte sich, doch ihr ward zu weit weg. Anstatt nur ein paar Minuten brauchte ich jetzt Stunden, um euch zu erreichen. Mir blieb nichts anderes übrig als auf meinem Bett zu sitzen und ihrem Wimmern zu lauschen. ‚Warum?‘ Die erste Frage und ich biss mir auf die Unterlippe, um all die bösen Sätze zurückzuhalten. Ich wusste zu wenig, um das Risiko einschätzen zu können, ob sie sich nicht auch etwas antat, wenn ich sie mit der grausamen Wahrheit konfrontierte. ‚Ich war doch da. Er hätte jederzeit mit mir reden können.‘ Sie suchte nach Antworten, doch fand keine. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie bereit dafür war. ‚Warum hatte er nicht mit mir gesprochen? Akirai ist auch weg. War sie der Grund?‘ Sie redete über mich hinweg und ich sah auf mein Telefon. Dort war die Nachricht an dich, die niemand je las. Du hattest dich auch nicht mir anvertraut und diese Tatsache hinterließ einen bitteren Nachgeschmack des Verrates in meiner Kehle. ‚Sie war alles für ihn. Aber das ist doch noch lange kein Grund.‘ Erneut brach sie ab und schniefte. Langsam beruhigte sie sich und ich wagte es, den Kontakt zu suchen. ‚Mutter, was ist mit Tsuki geschehen?‘ ‚Er hat sich umgebracht.‘ Der Satz war so nüchtern, dass er mir den Boden unter den Füßen wegriss. Auch wenn ich es geahnt hatte, riss er ein tiefes Loch in meine Seele und trieb neue Tränen in meine Augen. ‚Er hat sich einfach umgebracht.‘ Sie lachte erneut unter dem Schmerz auf und ergab sich wieder der Trauer. Meine Lippen zitterten und ich griff verzweifelt nach meinen Gedanken, die mir entwichen und jedes Wort unbedeutend machten. ‚Wann ist die Beerdigung?‘ Die Frage entwich mir ohne irgendeine Beileidsbekundung. Wir trugen den gleichen Schmerz in uns. Sie erschufen nur einen Abgrund, den ich nicht haben wollte. Meine Mutter war alles, was mir neben unserem Vater jetzt noch an Familie blieb. Ich wollte mich nicht von ihr entfremden. ‚In einer Woche.‘ Diese nüchterne Frage durchbrach ihre Trauer und auch wenn ihre Stimme immer noch leicht zitterte, so war das Schluchzen verstummt und sie schniefte noch einmal kräftig, bevor sie sich schnäuzte. ‚Ich werde kommen.‘ Es war ein Vorsatz. Ich begleitete dich auf deiner letzten Reise. Das war das wenigste, was ich für dich und unsere Mutter tun konnte: Ihr in dieser grausamen Zeit beistehen und dir die letzte Ehre erweisen. ‚Danke, das hätte Tsuki so gewünscht.‘ Sie legte auf ohne eines Wortes des Abschieds und ich lauschte noch einer Weile dem Freizeichen. Immer wieder kreisten meine Gedanken um deinen Tod und ich begann deine letzten Worte zu verstehen. Denn du hattest Recht: Es gab keine richtigen Worte für den Abschied oder gar den Tod. Nichts konnte diesen Schmerz lindern, der sich durch die Gedanken und den Leib fraß. Er trieb mir weiter Tränen in die Augen und zog meine Brust qualvoll zusammen. Ich wimmerte, aber rollte mich zusammen, um der Pein zu entgehen, doch sie blieb. Immer mehr Tränen liefen über meine Wangen. Warum, Tsuki? Warum hast du das getan? Wir wollten uns wiedersehen und jetzt hast du diese Möglichkeit zerstört. Ich wollte dich doch kennenlernen und noch so viel mit dir unternehmen. Wieso? Wieso hast du mir nicht mehr vertraut?
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