Zurückgelassen 4

1597 Words
Das Leben lief weiter. Es war ihm egal, ob ich mit wollte oder noch eine Auszeit brauchte. Die Schule verlangte meine Anwesenheit und auch mein Vater hatte mir nur zwei Tage Pause gegönnt, bevor er von mir wieder Funktionalität forderte. Ich selbst war noch lange nicht so weit. Immer wieder tauchte dein Gesicht vor mir auf. Dein Lächeln und auch der Schmerz in deinen Augen, als wir uns verabschiedet hatten. Ich war voller Hoffnung, dass wir einander wiedersehen würden, doch für dich war dies schon der Abschied für immer. Das wurde mir mit jedem weiteren Durchlauf der Szene bewusster. Hattest du zu dieser Zeit schon beschlossen, dass du dich umbringst? Warum? Das ergab keinen Sinn. Klar, Timmy und Mitsumi waren fies zu dir gewesen, aber das ist doch kein Grund. Es ist eine Zeit, die vorbeigeht und wenn man tot ist, dann konnte es doch nicht besser werden. Ich wollte Antworten haben, doch niemand konnte sie mir geben. Nur dieser Brief von dir an mich, den Mutter erwähnt hatte. Dafür musste ich zu dir. Deine Beerdigung. Sie war nicht mehr weit entfernt, doch bis jetzt hatte ich noch nicht die Kraft unseren Vater darum zu bitten, dass ich dorthin durfte. Denn tief in meinem Inneren trug ich einen lähmenden Verdacht, was seine Antwort betraf. Solange ich ihn nicht gefragt hatte, konnte ich mir noch einreden, dass es auch anders sein könnte. Mich dieser Illusion hingeben. ‚Taiyo! Beantworte bitte meine Frage.‘ Ein Schatten legte sich über mich und als ich aus meinen Gedanken zurück in die Realität kam, stand mein Lehrer vor mir. Eine tiefe Falte zog sich zwischen seine Augenbraue, doch dort war ein sanftes Glitzern in seinen grünen Augen. Ich seufzte und lächelte gequält. ‚Tut mir leid, wie war die Frage?‘ Ein Zischen und er schüttelte den Kopf. ‚Hör auf zu träumen. Es geht hier um deine Zukunft.‘ Schon rief er jemand anderen auf, doch die Antwort tauchte am Rande meines Bewusstseins ab. Dort warst wieder du und dein lebloser Blick. Hätte ich mich vernünftig von dir verabschiedet, hättest du es dann besser angenommen? Wie konnte ich von dir verlangen, dass du meine Worte glaubtest, wenn ich sie nur sagte, um dich zu beruhigen? Erneut ein brennender Stich, der sich in meine Brust bohrte und meine Lippen bebten. Ich wollte diese Trauer nicht mehr spüren, doch sie fraß sich weiter durch meine Gedanken und meinen Körper. Erschütterte sie und trieb sie immer näher an den Abgrund. Ich wollte nicht schwanken, doch mein fester Stand, den ich mir all die Jahre aufgebaut hatte, begann zu schwinden. Etwas zog an meinem Ärmel und brachte mich ins Wanken. Lange habe ich mich dagegen gewehrt hinunter zu sehen, doch jetzt erschienst du mir jedes Mal im Traum. Dein leidendes Gesicht, das sich zu einem Lächeln zwang und die Scharade erst recht zerstörte. Niemand glaubte dir, dass es für dich okay war und dennoch nahm ich diese offensichtliche Lüge dankend an, um mich selbst in Sicherheit zu wiegen. Immer wieder war dort deine Berührung. Nur ein Hauch, doch er blieb und so wie ein Tropfen Wasser einen Stein aushöhlen konnte, begann ich zu wanken. Ich wollte meine Sicherheit nicht verlieren und weiter in meinem Leben stehen, doch du ließest es nicht zu. Was sollte ich nur tun? Ließ mich unser Vater zu deiner Beerdigung gehen? Ich hatte nur noch drei Tage, dann war sie schon. Kurz war dort der Wunsch, heimlich zu verschwinden, doch Vater würde es bemerken und dann kamen wieder die Polizisten. Ich strich mir durch die Haare und löste meinen Haargummi, bevor ich damit zu spielen begann, um meine Nerven zu beruhigen, doch es brachte nichts. Meine Finger zitterten immer noch und mein Blick verschwamm mit jedem Atemzug mehr. Ich hätte es verhindern müssen. Dieses Leid und deinen Tod. All das hätte nicht sein müssen. Wäre ich doch nur an das Telefon gegangen. Dein letzter verzweifelter Versuch, nach mir zu greifen. Ich hätte dich aus dem reißenden Strom ziehen können, wenn ich nicht–. Ich biss mir auf die Unterlippe, um diesem Schuldgefühl zu entkommen, doch es klebte unerbittlich an mir. Du starbst, während ich mich mit einem Mädchen vergnügte. Nur deswegen konnte ich deinen letzten Hilfeschrei nicht hören. Meine Schwäche mit dir in Kontakt zu bleiben hatte dich getötet. Ich habe dich getötet. Die Erkenntnis brach den Damm in meinem Inneren und Tränen liefen über meine Wangen, die ich immer wieder verzweifelt wegwischte. Kurz traf sich mein Blick mit dem des Lehrers und Mitgefühl zuckte durch sein Gesicht, bevor er mich für die restliche Stunde in Ruhe ließ. Der Schulgong läutet zum Abschied. Ich hatte wieder einen Tag geschafft und packte meine Sachen zusammen. Langsamer als der Rest, weil du immer noch dort warst und dein trauriges Lächeln alles war, was mir von dir noch blieb. Immer weiter verschlang es all die positiven Erinnerungen und die gemeinsame Zeit. Wir konnten keine neuen mehr schaffen. Mit einem tiefen Seufzer schulterte ich meine Schultasche und steuerte wie all meine Mitschüler die Tür an. ‚Taiyo? Bleib bitte noch hier, ja?‘ Ich stockte und sah den Lehrer irritiert an. Dort war das Getuschel und Gekicher meiner Mitschüler. Der letzte Rest, der noch nicht verschwunden war und in einer Stunde wussten es auch die anderen. Ich zischte über diese Blamage hinweg und trat dann an das Lehrerpult. ‚Was gibt es denn?‘ Ich wollte nicht mehr hierbleiben und wischte vorsichtshalber noch einmal über meine Wangen, um auch die letzten Spuren der Tränen zu vernichten. Mein Herz flatterte immer noch unter dem Schmerz und pumpte nur widerwillig weiter. ‚Ich will nur mit dir reden, wenn alle weg sind. Als Klassenlehrer ist das meine Pflicht.‘ Ja, ich war nicht mehr für ihn: Nur eine lästige Pflicht. Ich zischte, aber blieb widerwillig stehen, bis auch der letzte Mitschüler gegangen war. ‚Es gibt nichts zu bereden‘, unterband ich jeden weiteren Versuch, mir näher zu kommen. Ich wollte nicht hier sein und vor allem nicht mit ihm reden. Es gab nichts oder sie verstanden es sowieso nicht. ‚Das sehe ich anders. Du bekommst vom Unterrichtsstoff nichts mit und fängst zu weinen an. Ich weiß, dass du einen großen Verlust erlitten hast, aber das Leben läuft weiter, Taiyo. Auch für dich.‘ Er stand auf und trat ein wenig näher, doch blieb auf respektvollen Abstand stehen und sah mir direkt in die Augen. Mir begegnete ein Verständnis, das ich in den letzten Tagen von niemanden bekommen hatte. ‚Ein Trauerfall ist immer mies. Desto näher wir dieser Person stehen, umso unangenehmer wird es. Du hast deinen Zwillingsbruder verloren. Ich kann mir nicht ausmalen, wie es in dir gerade aussieht. Aber wenn du noch nicht bereit bist, hier mitzumachen, dann solltest du einen Arzt um Hilfe bitten, der dich zur Not noch eine Weile freistellt.‘ Er zeigte mir einen neuen Weg, doch etwas sträubte sich in mir. ‚Das Leben muss weitergehen. Es wartet nicht auf mich und es bringt mir nichts, mich zuhause einzuschließen.‘ Ich zuckte mit den Schultern, unfähig festzustellen, wie ich mit diesem Angebot und der Situation umgehen sollte. Niemand hatte mit mir über deinen Verlust sprechen wollen und jetzt stand er vor mir und bat mir all das, was ich mir gewünscht hatte. ‚Ja, aber manchmal muss man auf Pause drücken bevor man darunter zerbricht.‘ Er lächelte mich an und verschränkte seine Arme vor der Brust, bevor er sich mit seinem Hintern an das Lehrerpult lehnte und auch die Beine überschlug. ‚Für mich gibt es keine Pause.‘ Ich lachte kurz gequält auf und die Worte unseres Vaters hallten in meinem Kopf wieder: Niemand wird auf dich warten. Das Leben frisst dich auf, wenn du zögerst und dir eine Pause gönnst. Stillstand ist der Tod. ‚Das behauptet wer?‘ Er widersprach mir und stieß nun auch gegen meinen festen Stand, brachte meine Seele zum Taumeln und meine Sicht verschwamm erneut. ‚Mein Dad. Wer rastet, den frisst das Leben.‘ Dieser Satz klang in meinen Ohren falsch und mir wurde klar, dass ich nicht hinter ihm stand, sondern nur weg von ihm wollte. Ich war in seinen Augen doch schon lange nicht mehr sein Sohn, sondern nur ein Statussymbol. Nur wegen ihm durfte ich keine Schwäche zeigen. ‚Das ist aber eine sehr törichte Sichtweise.‘ Er zuckte mit den Schultern und sah aus dem Fenster. Stille trat zwischen uns, die ich nicht zerbrechen konnte. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mir wurde doch gerade klar, dass er damit recht hatte. ‚Früher haben alle so gedacht und dadurch ist viel Leid entstanden. Heute wissen wir es eigentlich besser. Aber bei manchen ist es leider noch nicht angekommen. Taiyo, ich weiß, dass du noch nicht volljährig bist, aber alt genug, um eigenständig zum Arzt gehen zu können. Wir wissen beide, dass die Schule nicht das ist, was du gerade brauchst. Traurig, dass dein Vater das anders sieht.‘ Er stieß sich vom Tisch ab und trat dann wieder an seine Tasche, um auch den Rest einzupacken, bevor er die Aktentasche in seine Hand nahm und sich noch einmal zu mir wandte. ‚Klingt das nach einem Plan für dich, Taiyo?‘ Ich nickte und wir gingen schweigend gemeinsam nach draußen. Seine Nähe und die Stille waren mir nicht unangenehm. Er verstand mich und das linderte meinen Schmerz für einen Moment, doch dann waren dort wieder dein Lächeln und all die gemeinsame Zeit. Nur noch Erinnerungen, die mich langsam auffraßen. Stück für Stück, bis nichts mehr von mir übrig blieb. Gar nichts.
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