Prolog

1936 Words
Wynta hatte sich selbst mit Silberketten gefesselt und an einen Baum im tiefsten, dunkelsten und isoliertesten Teil des Rudels gekettet. Hier gab es keine Grenzpatrouillen, weil dieses Ende des Waldes an einer steilen, unzugänglichen Schlucht lag. Ihr Liebhaber und zukünftiger Alpha Nolan versuchte, sie dazu zu bringen, zu glauben, dass sie nicht nur seine von der Mondgöttin vorbestimmte Gefährtin war, sondern auch gleichzeitig noch die seines Betas, der Yale hieß. Alles nur, damit die beiden sie gleichzeitig ins Bett kriegen konnten. Aber sie wusste es. Nachdem sie ihn zum ersten Mal in ihren drei Monaten Beziehung ihre Kleidung hatte ausziehen lassen, hatte sie immer nur mit Nolan geschlafen. Aber jetzt hatte er plötzlich seinen Beta in ihr gemeinsames Schlafzimmer gebracht und ihr gesagt, er wolle, dass sie es ihnen beiden erlaubte. Denn angeblich hatten sie beide ihren Duft wahrgenommen und waren beide ihre Gefährten. Sie mochte eine Waise und wolflos sein, aber sie war nicht so dumm gewesen, Nolan zu glauben, als er vor nur zwei Tagen mit Yale zu ihr gekommen war. Sie hatte einfach gesagt, dass sie das nicht spürte, und die ganze Idee abgelehnt. Sie waren ein wenig verärgert über sie gegangen und sie hatte Nolan von ihrem Fenster aus zu seinem Beta sagen hören: „Ich werde sie schon noch rumkriegen. Mach dir keine Sorgen!“ Sie dachten, weil sie wolflos war, würde sie sie nicht hören können. Aber sie waren nur ein paar Meter von ihrem Fenster entfernt gewesen. Selbst ein Mensch hätte sie gehört. Also hatte Wynta beschlossen, sie zu testen. Es war nur noch eine Woche bis zum Vollmond und sie war jetzt bereits achtzehn Jahre alt. Sie würde in nur sieben Tagen ihren Duft wahrnehmen können. Wenn die beiden wirklich ihre Gefährten wären, warum würden sie dann nicht einfach warten, bis sie das auch sicher wissen würde? Sie hatte überhaupt kein Interesse daran, mit Yale zu schlafen, und fand ihn nicht wirklich attraktiv. Er sah zwar gut aus, war aber nicht ihr Typ. Aber erst gestern waren sie wieder zu ihr gekommen und hatten wirklich hartnäckig versucht, sie in der Privatsphäre ihres Einzelzimmers zu überzeugen. Nachdem sie achtzehn geworden war und nicht mehr im Waisenhaus hatte bleiben können, war sie in dieses Zimmer gezogen. Sie waren sogar so weit gegangen, ihr zu versprechen, dass sie sie beanspruchen und zur zukünftigen Luna machen würden. Sie hatte ihnen nicht geglaubt, da sie wolflos und von unbekannter Abstammung war. Alles, was sie hatte, war ihr hübsches Gesicht, ihr schöner Körper und ihr scharfer Verstand. Sie hatte Nolans süße, charmante Aufmerksamkeit in den letzten Monaten genossen und sie hatte sich im Laufe ihrer Beziehung dummerweise auch irgendwie in ihn verliebt. Er hatte sie nie zu etwas gedrängt, es langsam angehen lassen und wollte immer, dass sie das Tempo der Beziehung bestimmte. Sie hatten erst vor zwei Wochen damit angefangen, miteinander zu schlafen. Also was sollte sie nun davon halten? Was er gesagt und ihr erzählt hatte, war einfach falsch. Und sie wusste, dass alles eine Lüge war. Vier Tage saß sie dort draußen. Mit Silberketten gefesselt, ohne Wasser oder Nahrung. Nur um zu beweisen, dass es alles eine Lüge war. Als sich der erste Tag in den zweiten verwandelte, gab es keine Suche nach ihr. Der dritte Tag kam und immer noch durchkämmten keine Krieger das Rudel nach einem vermissten Rudelmitglied. Aber sie wusste, dass der Alpha das normalerweise veranlassen würde. Er würde jeden Zentimeter des Rudels durchkämmen lassen, sobald jemand vermisst werden würde. Der vierte Tag kam, aber immer noch nichts: Wenn Nolan und Yale tatsächlich ihre Gefährten waren, wären sie zu ihren Vätern gegangen und hätten ihnen alles mitgeteilt. Sie hätten sie darüber informiert, dass Wynta vermisst wurde und sie sie nirgendwo finden konnten. Sie wären in völliger Panik gewesen, dass ihre Gefährtin vermisst wurde und sie keinen Kontakt mehr zu ihr hatten. In der Nacht des vierten Tages entfernte sie ihre Ketten und löste die Fesseln. Dann taumelte sie zurück zu ihrem Zimmer und stolperte erschöpft von dem langen Weg und bereits dehydriert in die Dusche. Vor lauter Erschöpfung stürzte sie in der Dusche zu Boden, aber konnte noch den Rudelarzt per Gedankenverbindung kontaktieren, um ihm zu sagen, dass sie Hilfe brauchte. Dann erlag sie der Dunkelheit ihrer Bewusstlosigkeit. Wynta erwachte im Rudelkrankenhaus mit einer Infusion im Arm und der Rudelarzt behandelte die Verbrennung, die die Silbermanschette an ihrem Handgelenk hinterlassen hatte. „Endlich bist du wieder wach. Du warst einen ganzen Tag lang bewusstlos. Der Alpha wird froh sein. Er muss nämlich erfahren, was genau passiert ist. Er untersucht die Angelegenheit gerade. Er hat Leute damit beauftragt, deinen Duft zu verfolgen, um herauszufinden, woher du kamst.“ Wynta sagte nichts dazu. Das bestätigte nur einmal mehr, dass weder Nolan noch Yale gewusst hatten, dass sie überhaupt vermisst worden war. Sie sah zu, wie der Arzt einen Verband um ihr Handgelenk legte. „Das wird eine Narbe hinterlassen, Wynta“, sagte er und sie nickte. „Das würde es auch, wenn ich einen Wolf hätte“, kommentierte sie, weil es sich um Silber handelte. „Hatte ich irgendwelche Besucher?“, fragte sie neugierig. „Nein, tut mir leid, Wynta.“ Er klang entschuldigend. „Niemand außer dem Alpha und der Luna, die sich über deinen Zustand erkundigt haben.“ „In Ordnung.“ Sie wusste, dass sie keine Familie hatte. Die Luna des Rudels hatte ihr den Namen Wynta gegeben, benannt nach der Jahreszeit, in der sie damals gefunden worden war: Winter. Dazu bekam sie den Nachnamen Morgan, wusste aber nicht, warum die Luna diesen Namen ausgewählt hatte. So war sie letztendlich zu Wynta Morgan geworden. Noch in derselben Nacht, während sie im Krankenhausbett lag und darüber nachdachte, was sie zu Nolan und Yale bezüglich ihrer Tatenlosigkeit sagen würde, stellte Nolan um dreiundzwanzig Uhr eine Gedankenverbindung zu ihr her und fragte ganz einfach: „Wo bist du? Wir haben doch heute ein Date und ich bin schon bei dir zu Hause. Du bist aber nicht hier.“ Sie konnte das Stirnrunzeln förmlich in seiner Stimme hören. „Ich bin im Rudelkrankenhaus“, antwortete sie ehrlich. „Obwohl wir verabredet sind? Warum würdest du eine Schicht annehmen, obwohl du weißt, dass wir uns treffen wollen?“, fragte er direkt zurück. Er war nur besorgt darüber, dass sie keinen s*x haben würden. Er hatte einfach angenommen, dass sie im Krankenhaus arbeitete. Obwohl sie noch nie zuvor im Krankenhaus gearbeitet hatte. „Ich bin mir sicher, dass du bis zum Vollmond warten kannst“, entgegnete sie trocken und unterbrach die Gedankenverbindung. Der Vollmond kam und ging nur zwei Tage später. Es waren zwei Stunden vergangen, seit sie ihren Gefährten im Rudel erschnuppert hatte. Sie wusste sogar, wer es war, weil sie die beiden natürlichen Düfte ihres Liebhabers erkannte. Sie vernahm jedoch keinen anderen Duft. Sie roch Yale nicht. Das war nur ein weiterer Beweis für die Lüge, die sie ihr aufgetischt hatten, um zu bekommen, was sie von ihr wollten. Sie lag immer noch im Rudelkrankenhaus und war immer noch an einen Tropf angeschlossen. Ihre Verbrennungen heilten nur langsam, weil sie keinen Wolf hatte. Eine Krankenschwester saß neben ihrem Bett mit einem Verbandswagen und kümmerte sich um die Reinigung ihrer Wunde, als Nolan das Krankenzimmer betrat. Endlich hatte er sie aufgespürt. Er stand da und starrte sie ein wenig mehr als schockiert an. Sie starrte ihn an, als seine Augen über sie in diesem Bett wanderten, während sie von einer Krankenschwester behandelt wurde. Dann bat er die Krankenschwester, ihnen einen Moment allein zu geben. Er sagte ihr, dass sein Vater ihn gebeten hatte, etwas Privates mit ihr zu besprechen. Er musste allerdings warten, bis die Wunde wieder ordnungsgemäß verbunden war. Sie sah zu, wie er ihre Krankenakte aufnahm und durchlas. Sie wusste, dass er alle Details über ihre Verletzungen sah und auch wie sie gefunden worden war. Sie hatte die Krankenakte bereits selbst gelesen. Er legte sie mit einem Stirnrunzeln beiseite, sagte aber nichts dazu. Sie hatte sich dummerweise in den Mann vor ihr verliebt, der im selben Alter wie sie war und ab morgen früh auf die Alpha-Universität gehen würde, wenn er während dieses Vollmonds keine Gefährtin erschnuppern würde. Sie wusste auch allein durch die Tatsache, dass er alleine hier war und seine Eltern ihn nicht begleiteten, um zu sehen, wer seine Gefährtin war, dass er hier war, um sie abzulehnen. Denn sie wusste, dass er ihren Duft auch erkannt haben musste, da der Mond vor zwei Stunden untergegangen war. Niemand wartete so lange, um eine Gefährtin zu finden, die er beanspruchen wollte. Die Krankenschwester verließ schließlich das Zimmer und Nolan schloss die Tür. Sie verstand das auch. Es sollte privat geschehen, damit niemand in diesem Rudel erfahren würde, dass sie eigentlich Gefährten waren „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du verletzt bist, als ich fragte, wo du warst?“, fragte er sie ganz direkt. Sie zog eine Augenbraue hoch. Denn sie hatte ihm ja schließlich gesagt, dass sie im Krankenhaus war. Diese Information hätte eigentlich ausreichen sollen. „Ich war vier Tage lang vermisst“, erklärte sie. „Du wusstest nicht einmal davon, oder? Ich war mit Silberketten gefesselt und verschwunden. Wenn du mich wirklich damals, wie du sagtest, gewittert hättest, hättest du davon gewusst und überall nach mir gesucht. Du und dein Beta, ihr wolltet nur gleichzeitig mit mir schlafen, aber ich habe es nicht zugelassen. Du bist jetzt auch erst zwei Stunden nach dem Untergang des Mondes hier, Nolan. Das spricht auch schon Bände. Du bist nicht der Mann, für den ich dich gehalten habe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Lehne mich ab und geh! Reise morgen früh wie geplant ab und geh auf die Alpha-Universität!“ Er stand einfach nur da und starrte sie an. Sie fragte sich, ob er dachte, dass sie seinen Eltern davon erzählen würde, wenn er sie nun ablehnte. Sie sagte nichts und ließ ihn absichtlich im Unklaren. Nach einer vollen Minute seufzte er schwer und schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, ob er tatsächlich mit sich selbst haderte und sich nicht wirklich sicher war, ob er sie ablehnen wollte. Aber sie würde jemanden wie ihn nicht akzeptieren. „Na schön, dann mache ich es eben“, erklärte sie und sah ihm direkt in die Augen. „Ich, Wynta Morgan, lehne dich, Nolan Holland, als meinen Gefährten ab.“ Sie sprach es einfach locker aus, meinte aber jedes Wort ernst. Er stand immer noch da, starrte sie an und schien unfähig, zu begreifen, dass sie ihn gerade abgelehnt hatte. „Hätte ich mich von dir und Yale überreden lassen und euch beiden erlaubt, mit mir zu schlafen, würdest du mich jetzt genau deswegen ablehnen. Weil ich mit deinem eigenen Beta geschlafen hätte ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht an jemanden gebunden sein, der mich offensichtlich zu etwas zwingen wollte. Akzeptiere die Ablehnung einfach, Nolan!“ Er nickte langsam. „Ich, Nolan Holland, akzeptiere deine Ablehnung, Wynta Morgan. Du bist nicht mehr meine Gefährtin oder die zukünftige Luna dieses Rudels“, erklärte er. Sie spürte die vollständige Trennung ihrer Gefährtenbindung und hörte ihn vor Schmerz zischen. Es verursachte aber nur ein dumpfes Ziehen in ihrer Brust. Keinen Wolf zu haben, hatte anscheinend doch auch einige Vorteile. „Wynta, wir werden darauf zurückkommen, wenn ich von der Alpha-Universität zurück nach Hause komme“, sagte er und verließ den Raum. Er wollte erst in einem Jahr darüber sprechen? Glaubte er wirklich, sie würde einfach herumsitzen und warten, bis er seine Meinung änderte? Weil er ein Alpha war und sie keinen Wolf hatte? Das würde ganz bestimmt nicht passieren.
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