Es waren bereits zwei Stunden vergangen. Mein Wecker zeigte bereits 23:34 an, und ich verbrachte meine Zeit immer noch damit, meine dunkle Zimmerdecke anzustarren.
Was hatte es mit den Wölfen auf sich? Waren es tatsächlich Werwölfe? Wenn ja, wer waren sie und woher kommen sie? Beruhten die gesamten Vampir- und Werwolffilme etwa auf einer wahren Begebenheit?
Meine Gedanken überschlugen sich und ich war mit der Situation völlig überfordert.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Auch Sina, die schon tief und fest geschlafen hatte, begann zu knurren.
Schon saß ich Kerzengrade im Bett. Mein Atem beschleunigte sich.
Kamen die Vampire zurück um mich zu töten?
Aber sie würden ja wohl kaum vorher kleine Kieselsteine an mein Fenster werfen, oder?
Nein, die Wölfe hatten mich gerettet. Das glaubte ich zumindest.
Sie hatten die drei Vampire bestimmt getötet, sie waren schließlich zu sechst und die Vampire nur zu dritt.
Ich war in Sicherheit. Bestimmt war ich schon längst in Sicherheit.
Ich versuchte mich an diesen Gedanken zu klammern, aber es gelang mir nicht vollständig meine immer wieder aufsteigende Panik niederzuringen.
An meiner Fensterscheibe prallten immer noch kleine Kieselsteine ab.
Wer zum Teufel warf sie an mein Fenster?!
Schließlich fasste ich all meinen Mut zusammen und stand auf.
Augenblicklich verstummte das Klirren an meiner Scheibe.
Wie konnte das möglich sein? Hatte die Person gerade jetzt aufgegeben?
Schnell schlich ich zum Fenster und öffnete es.
Dann stockte mir der Atem, ich traute meinen Augen nicht.
Unten vor meinem Fenster stand ein junger Mann.
Lediglich mit einer kurzen Hose bekleidet. In meinem Kopf ratterte es. Selbst auf die Entfernung fesselten mich sofort seine braunen, dunklen Augen, die mir seltsam bekannt vorkamen.
Ich war völlig perplex. Das alles waren zu viel außergewöhnliche Ereignisse an einem Tag.
Ihm schien es nicht anders zu gehen.
Er stand immer noch regungslos im Vorgarten unserer Nachbarn und starrte mich an.
Es kam mir so vor, als würden wir uns Minuten lang einfach nur anstarren.
Wie peinlich. Zum Glück trug ich zum Schlafen wenigstens nicht einen meiner uralten, abgeranzten Schlafanzüge, sondern ein Top und eine Short.
So blamierte ich mich nur mit meinem Verhalten, und nicht auch noch mit meinem Outfit.
„Hey“ sagte er schließlich. Hey? Einfach nur Hey? Vielleicht wusste er wirklich genauso wenig was er sagen sollte wie ich.
„Hey“ flüsterte ich zurück. Meine Stimme versagte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er es trotzdem hören konnte.
„Darf ich... kann ich mit dir reden?! Brachte er schließlich heraus.
„Ja“ mein Herzschlag überschlug sich. Mittlerweile war ich mir sicher: Es musste einer der Wölfe aus dem Wald sein. Vielleicht sogar der kastanienbraune Wolf, der mich schon vor einigen Stunden trotz der unmittelbaren Gefahr in seinen Bann gezogen hatte.
Doch seine menschliche Gestalt führte dazu, dass ich aus dem Staunen gar nicht mehr raus kam.
Selbst im Licht der Straßenlampe konnte ich seine rostbraun gebrannte Haut, seine
muskulösen Oberarme und gut trainierten Oberkörper erkennen.
Seine schwarzen, kurzen Haare passten perfekt zu seinem charmanten Gesicht mit den markanten Wangenknochen.
Kurz gesagt: Er sah so gut aus, dass es verboten sein sollte.
„Würdest du zu mir runterkommen? Ich verspreche, dass dir nichts passieren wird.“ fragte er vorsichtig nach.
Ich überlegte kurz, aber irgendwie glaubte ich ihm.
„ Okey, gib mir zwei Minuten“ mit diesen Worten schloss ich das Fenster und eilte ins Badezimmer.
Kurze Zeit später trat ich aus der Haustür. Schon stand er mir gegenüber, nur wenige Meter trennten uns.
„Ich kann dir alles erklären, wenn du möchtest...“ setze er an.
„Ja, aber zuerst eine Frage. Ist das heute Abend wirklich passiert? Ist also alles aus den Filmen, Sagen und Geschichten wahr?“
„Nicht alles, aber sie sollten eine Art Warnung für die Menschen sein. Die Vampire von heute sind leider nicht die einzigen Blutsauger die aus Spaß und Lust unschuldige Menschen ermorden und aussaugen.“
„Warte. Sind? Ich dachte ihr habt sie...“ Meine Stimme versagte schon wieder.
Er senkte seinen Blick. „Nein, wir haben leider nur noch einen von ihnen erwischt. Es tut mir so leid.“
Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen stiegen, jetzt bloß nicht heulen!
Er schien zu merken, wie mir zu Mute war.
„Und die anderen beiden sind ..“ ich brach den Satz ab um zu verhindern, dass die Tränen meine Wange herunter rannen.
„Sie...besonders Valeria ist besessen von dir. Sie wird nicht aufgeben, bis sie dich gefunden und getötet hat. Und ihr Bruder Fergus wird sie bei allem unterstützen. Ihre Gefährtin Lysann vermutlich auch.“ Er wagte es immer noch nicht, mir in die Augen zu sehen.
Woher wusste er was ich sagen wollte? Es kam mir vor als ob er meine Gedanken lesen könnte. Seine Worte hallten in meinem Kopf wider.
„Es gibt noch einen?“ fragte ich völlig geistesabwesend.
„Leider ja. Sie sind immer noch zu dritt.“ gab er mit einem Kopfschütteln zu.
Obwohl ich mit dieser Tatsache schon gerechnet hatte, konnte ich mich nun nicht mehr zusammenreißen. Die Tränen flossen, aber ich gab keinen Laut mehr von mir.
Mein Schicksal war also besiegelt. Warum hatten die beiden mich nicht gleich getötet?
Er sah mich nun direkt an. Sein Blick wirkte gequält. „Wir werden alles tun um dich zu beschützen. Ich verspreche es.“
„Ich möchte nicht, dass ihr eure Leben riskiert, nur um mich zu retten.“
„Wenn sie dich nicht jagen würden, wäre es jemand anders gewesen. Außerdem ist es unsere Aufgabe die Menschen zu beschützen, dazu sind wir da.“
Damit hatte er wohl Recht, ich könnte es aber trotzdem nicht ertragen, wenn jemand anders meinetwegen zu Schaden kommen würde.
„Bitte hör auf zu weinen.“ sagte er ruhig und mit flehendem Blick.
Ich versuchte mich zusammen zu reißen.
Dann fiel mir auf, dass ich zwar im Grunde wusste, was er war, aber nicht einmal wusste wie er hieß.
„Verrätst du mir, wer du bist?“ fragte ich zum einen aus purer Neugierde, aber auch um mich von mir selbst und meinem bevorstehenden Todesurteil abzulenken.
„Ich.. ich bin Nathan. Nathan Clark. Und was ich bin, darf ich dir nicht sagen, aber ich glaube du weißt es bereits.“ antwortete er beschämt.
Ich nickte.“ Ein Werwolf“ brachte ich nur mit Mühe hervor. Ich konnte es selbst einfach nicht glauben.
„Du weißt, dass du niemandem von uns erzählen darfst?“
Ich nickte wieder.
„Versprichst du es?“
„Ja.“
Er senkte erneut den Blick. „Hast du keine Angst vor mir?“
„Ich weiß es nicht. Ich kenne dich nicht.“ gab ich ehrlich zu.
„ Das kann man ändern, wenn du möchtest.“ Nathan lächelte.
Sein Lächeln war ansteckend. Ich fühlte mich, obwohl ich ihn und die Gefahr die von ihm ausging nicht einschätzen konnte, sehr wohl in seiner Gegenwart.
Ich lächelte zurück. „Okey“ willigte ich ein.
„Du wolltest mir die ganze Geschichte nochmal von Anfang an erzählen?“ harkte ich nach.
„Klar. Aber bitte lass uns dabei ein Stückchen gehen, sonst schlafe ich gleich im Stehen ein.“ antwortete er und ein Teil der Anspannung schien von ihm abzufallen.
Für einen Moment wusste ich nicht was ich darauf entgegnen sollte. Langweilte ich ihn so sehr?
„Ich habe seit Wochen keine Nacht durchgeschlafen“ fügte er mit gesenktem Kopf hinzu. Es wirkte so, als ob er sich dafür schämte. Dann entfernte er sich einige Schritte von mir, blieb aber dann stehen da ich ihm nicht folgte.
Das Licht einer Straßenlaterne viel auf sein Gesicht. Es war wunderschön, und sein Körper erst recht. Wie schon im Wald verlor ich mich in seinen großen, dunklen Augen.
Dabei fielen mir allerdings auch erstmals die tiefen, dunklen Ringe unter seinen Augen auf.
Auf einmal fühlte ich mich richtig schlecht. Er war hier um mit mir zu reden, dabei hätte er diese Zeit nutzen sollen, um sich auszuruhen.
Ich zögerte und überlegte, ob ich ihm sagen sollte das er seine Zeit hier nicht mit mir verschwenden, sondern sich lieber schlafen legen sollte. Wer total übermüdet ist, hat keine Kraft mehr und kann dementsprechend auch nicht gegen starke Vampire kämpfen, die im Gegensatz zu Wölfen meines Wissens nach keinen Schlaf brauchen. Zumindest, wenn man den ganzen Mystery-Filmen Glauben schenken kann.
Nathan interpretierte mein Zögern als Angst vor ihm.
„Vertraust du mir?“ fragte er mich während er immer noch meinem Blick standhielt.
Ja ich vertraute ihm. Das hatte ich bereits, als ich ihn zum ersten Mal in seiner Wolfsgestalt gesehen hatte.
„Ja. Ja ich vertraue dir, aber du solltest deine Zeit nicht sinnvoller nutzen und dich ausruhen?“
„Sehe ich so schlimm aus?“ entgegnete er lachend.
Sein Lachen war wundervoll, es war das schönste Lachen, dass ich je gehört hatte.
„Nein, nur müde.“ Diese Unterhaltung war mir irgendwie peinlich. Was bildete ich mir eigentlich ein über solche Dinge mit ihm zu reden?
„Und genau deshalb gehen wir jetzt noch ein Stückchen.“ erwiderte er lächelnd. Ich glaube auch ihm war das vorherige Thema unangenehm gewesen. Jetzt versuchte er sein eigentliches Befinden so gut es ging zu überspielen.
Wenn ich beim Gucken der Filme eines gelernt habe, dann dass man einen Werwolf lieber nicht wütend machen sollte.
Also setzte ich mich in Bewegung. Dabei schlug ich die Hände um meinen Oberkörper, es war kühl geworden.
Nathan hatte nicht zu viel versprochen, es war ein wundervoller Spaziergang. Außerdem hatte er mir mehr über sich und sein Leben erzählt.
Auch was die Vampire anging, die mir mein Leben nehmen wollten, war ich nun etwas schlauer.
Und er hatte es tatsächlich geschafft mich zu beruhigen, bei ihm fühlte ich mich einfach in Sicherheit.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir noch ewig weiter durch die leeren, dunklen Straßen laufen können.
Aber ich musste auch an Nathan denken. Außerdem sollte ich wohl lieber wieder Zuhause in meinem Bett liegen, bevor meine Eltern nach Hause kommen würden.
Also gingen wir langsam zurück zu meinem Haus. Dabei fiel mir auf, dass Nathan immer einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu mir hielt.
Woran das lag, konnte ich mir selbst nicht erklären.
Aber wir kannten uns gerade einmal ein paar Stunden, also konnte ich ihn ja wohl schlecht danach fragen.
Nathan hatte mir außerdem erzählt, dass sie jede Nacht in Wolfsgestalt auf dem Waldboden schlafen und sich während der letzten Tage, wenn überhaupt, nur von gerissenem Wild ernährt hatten...
Schon irgendwie ekelig.
Jetzt standen wir wieder vor meiner Haustür.
Ich wusste nicht wie ich es ausdrücken sollte, also platzte ich einfach damit raus: „Wenn du möchtest kannst du auch bei mir schlafen, also auf meinem Sofa.
Das ist bestimmt immer noch bequemer als der Waldboden. Duschen kannst du natürlich auch. Und ich könnte dir etwas Vernünftiges zu Essen machen, wenn du möchtest.“ So, jetzt war es raus.
„Oh man, was würde ich für eine Nacht auf deinem Sofa geben. Das Angebot ist so lieb von dir, aber ich muss leider zurück zum Rudel. Wir brechen bereits in vier Stunden wieder auf. Bietest du jedem netten Kerl gleich einen Schlafplatz bei dir an?“ fragte er grinsend.
„Nein, nur denen, die mir vorher mein Leben gerettet haben.“ Bei seinem Anblick konnte ich nicht anders, ich musste auch lächeln.
„Auf das Angebot mit dem Essen, würde ich allerdings gerne zurückkommen. Ich bin mit allem zufrieden, das nicht aus rohem Fleisch besteht.“
„Kein Problem, warte kurz hier.“ Schon drehte ich meinen Schlüssel im Schloss um und eilte in die Küche. Dann stopfte ich alles in eine Plastiktüte, was ich an sofort essbaren Lebensmitteln finden konnte. Gut, dass Mutti heute erst einkaufen war. Es ging mir nicht aus dem Kopf, dass die Wölfe bereits in wenigen Stunden ihre Vampirjagd fortsetzen würden. Nathan tat mir wirklich leid, er sah ziemlich fertig aus.
Nach zwei Minuten war die Tasche mit zwei Packungen Schokobrötchen, Keksen, mehreren belegten Brötchen, Obst und Schokoriegeln gefüllt.
Als ich wieder nach draußen kam, lehnte Nathan, schon im Halbschlaf glaube ich, an der Hauswand.
Erst als ich näher an ihn her ran trat, bemerkte er mich und richtete sich augenblicklich auf.
Ich reichte ihm die Tüte.
„Danke, ich muss jetzt leider gehen.“ er sah mir tief in die Augen. Am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob wir uns wiedersehen. Stattdessen sagte ich: „Viel Glück! Und pass auf dich auf.“
Ich wusste, dass ich jetzt wieder allein sein würde. Nathan schien meine Angst zu spüren. „Hey, du brauchst keine Angst haben, wir passen auf dich auf. Dir passiert nichts, ich verspreche es.“
Mit diesen Worten ging Nathan einen Schritt auf mich zu und wollte die Hand nach mir ausstrecken, überlegte es sich dann aber doch anders und blieb stehen.
Ich nickte mit gesenktem Blick. „Danke, für Alles.“ Ich war mir relativ sicher, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Der Gedanke machte mich traurig.
„Mach‘s gut“ flüsterte er zurück.
Mit diesen Worten drehte er sich um und joggte in Richtung Wald.
Nach einigen Metern blieb er stehen und sah mich an. „Darf ich beim nächsten Mal vielleicht auf dein Angebot mit der Couch zurückkommen?“
„Na klar!“ rief ich zurück.
Er schenkte mir noch ein strahlendes Lächeln, winkte kurz und verschwand dann in der Dunkelheit.
Auch ich ging zurück ins Haus, verschloss die Tür und legte mich zurück in mein Bett.
Trotz der Ereignisse des Tages war ich irgendwie glücklich, was ich mir selbst nicht erklären konnte.
Um 01:30 blickte ich ein letztes Mal auf meinen Wecker, dann schlief ich endlich ein.