Kapitel 2 Juni 2011 Nathan

2290 Words
Ich wusste nicht wann ich zuletzt geschlafen oder mich auch nur eine Sekunde ausgeruht hatte. Wir waren schon seit Wochen auf der Jagd nach den vier Vampiren. Wir hatten davon gehört, dass sie bereits in vielen Teilen der Welt, und unter andrem auch in Washington, ein Meer von Leichen hinterlassen haben. Zuletzt jagten sie im Gebiet der Hales, einer Vampierfamilie mit der wir zwangsläufig hin und wieder zusammenarbeiten müssen. Was die Hales von anderen Blutsaugern unterscheidet, und deren Existenz für uns halbwegs akzeptabel macht, ist ihre besondere Art sich zu nähren. Sie nehmen kein Menschenblut, sondern nur Tierblut zu sich. Diese Tatsache ist aber auch schon der einzige Grund für unser Abkommen mit ihnen. Dank eines Vertrages mit Samuel, ihrem Anführer, stellen die Hales keine Bedrohung für unser Wolfsrudel dar. Zusammen mit ihnen gelang es uns die vier Blutsauger aus North Dakota und der gesamten Umgebung zu vertreiben. Damit waren zwar die Leute in unserer Heimat in Sicherheit, aber das Morden ging weiter. Wir wurden von der Natur geschaffen, weil wir die einzigen natürlichen Feinde für die Vampire darstellen. Daher ist es unsere Aufgabe, alle Menschen vor den Blutsaugern zu beschützen. Deshalb entschied sich das gesamte Rudel dafür, unsere Heimat zu verlassen. Ich war überhaupt nicht begeistert von dieser Idee, muss aber den Entscheidungen von Jackson Folge leisten, egal ob ich das will oder nicht. Er ist der Rudelführer. Die Hales sorgten sowohl im Umkreis von North Dakota, als auch in einigen Bereichen von Europa für Ordnung. Sie hatten sowohl in Deutschland, als auch in den USA verschiedene Wohnsitze und aus den dazugehörigen Jagdrevieren hielten sie fremde Vampire fern. Unser Rudel hatte sich deshalb in Deutschland angesiedelt. Zum einen deshalb, weil die Geschwister Valeria und Fergus sowie noch eine dritte Vampirin, Lysann und ein uns noch unbekannter Vampir nach Deutschland geflüchtet sind und dort wahllos weiter mordeten. Zum anderen aber auch weil es dort keine Wölfe wie uns gab, die die Menschen beschützten. Auch unsere Familien entschieden sich dafür, mit nach Deutschland zu ziehen um dort ein neues Leben anzufangen. Mit mir kam mein Vater, um den ich mich eigentlich kümmern sollte. Aber leider bleibt mir dazu keine Zeit. Meine beiden älteren Schwestern hatten uns schon lange verlassen. Aluna, meine älteste Schwester, ging nach Mallorca, um dort einen der Möchtegern-Stars zu heiraten und dort mit ihm zu leben. Was sie sich dabei gedacht hat, kann ich bis heute nicht verstehen. Ich habe ihn bis heute nicht kennen gelernt und Aluna seit Jahren nicht mehr gesehen. Mein Vater musste uns drei alleine aufziehen, und das obwohl er seit einem Kutschunfall im Rollstuhl sitzt. Bei diesem Unfall kam meine Mutter ums Leben. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt noch sehr klein. Ich weiß nur noch, dass sie verrückt nach Pferden gewesen war. Und da mein Vater Joe nie im Leben auf ein Pferd gestiegen wäre, hatte sie ihn zum Kutsche fahren überreden können. Ein Fehler, der sie ihr Leben und meinen Vater seine Beine gekostet hatte. Aluna schlüpfte dadurch, ob sie wollte oder nicht, immer mehr in die Mutterrolle. Sie kümmerte sich um Valea, meinen Vater und um mich. Insgeheim glaube ich, dass genau diese Situation und das hohe Maß an Verantwortung, welche sie als Teenager tragen musste der Grund dafür war, weshalb sie nach Mallorca durchbrannte. Das ist jetzt fünf Jahre her. Doch für mich war es, als würde ich meine Mutter ein zweites Mal verlieren. Auch Valea verließ Fargo, meine Heimatstadt, um an der Washington State University zu studieren. Wer konnte es ihr verübeln? Hier in Deutschland wohne ich gemeinsam mit meinem Vater in einem kleinen Häuschen, welches nicht viel größer als eine kleine Waldhütte ist. Für uns beiden ist der Platz allerdings ausreichend. Außerdem bin ich sowieso fast nie Zuhause. Schon die gesamte letzte Woche musste ich auf mein Bett, eine Dusche und menschliche Nahrung verzichten. Wir verfolgen die vier Blutsauger quer durch Deutschland. Sie waren leider so clever sich aufzuteilen, weshalb wir den vierten Blutsauger, Lysann verloren haben. Da unser aktuelles Rudel nur aus sechs Wölfen besteht, hatten wir uns dazu entschieden uns nicht aufzuteilen. Dank einer Art „Gedankenübertragung“ innerhalb des Rudels, sobald wir uns in Wolfsgestalt befinden, können wir zum Glück auch ohne Worte sehr gut kommunizieren. Dabei hatte Jackson Hand natürlich das Sagen. Daran musste ich mich erst noch gewöhnen. Überhaupt war diese ganze Gestaltwandlerei noch sehr neu für mich. Ich wollte nie zum Rudel gehören, weshalb ich Jackson auch meinen Rang als Rudelführer überließ. Eigentlich war es als Nachfahre von Muraco Lakota vom Stamm der Sioux-Indianer mein Geburtsrecht, das Rudel anzuführen. Aber ich hatte mich erst kürzlich zum ersten Mal gewandelt und wünschte mir, es wäre nie passiert. Eigentlich wollte ich nur mein altes, normales Leben in North Dakota zurück. In diesem Leben war es mein größtes Problem, meine alten Autos wieder fahrtüchtig zu bekommen. Wie lächerlich. Doch nach meiner ersten Verwandlung war alles anders. Ich hatte mich selbst nicht mehr im Griff. Ich kam mir selbst vor wie ein Funken der bei dem kleinsten Wutanfall alles um sich herum in Schutt und Asche versetzt. Jeder falsche Blick, jedes falsche Wort meiner Mitmenschen führte dazu, dass ich wütend wurde und nach und nach immer mehr die Kontrolle über meinen Körper verlor, bis ich mich schließlich selbst in meiner Wolfsgestalt wiederfand. In den Sekunden vor und während der Verwandlung war ich unberechenbar. Aus Angst jemanden zu verletzten hielt ich mich von Menschen, auch von meinem Vater, fern. Jackson hatte seine Freundin Mila in einem Wutanfall schwer verletzt, sodass ihre rechte Körperhälfte für den Rest ihres Lebens entstellt sein wird. Wochenlang hat sie im Krankenhaus gelegen. Mila war monatelang an den Rollstuhl gefesselt. Die Narben auf ihrem Körper würden nie mehr wieder verschwinden. Jedes Mal, wenn ich sie sah bekam ich Angst. Meine größte Angst war es, jemanden zu verletzten den ich liebte. Das einzig Positive an unserer Vampirjagd war es also, dass ich lebenden Menschen zum größten Teil aus dem Weg gehen konnte. Während ich meinen Gedanken nachging und versuchte diese von meinen Rudermitgliedern abzuschirmen rannten wir weiter durch den Wald um die Spur der Vampire nicht zu verlieren. Es dämmerte bereits. Der Geruch der Blutsauger wurde immer stärker. „Gleich haben wir sie!“ dachte Tyler Willson, einer meiner besten Freunde. Ich kannte ihn schon seit der Grundschule und war auch schon vor meiner Wandlung sehr gut mit ihm befreundet. „ Ein Mensch ist bei ihnen!“ teilte Leon uns mit. „ Das Leben des Menschen hat oberste Priorität! Los!“ befahl Jackson. Wir hatten die Blutsauger und den Menschen erreicht. Es war ein Mädchen mit langen, hellbraunen Haaren, welches vor Angst keinen Ton von sich gab. Wir versuchen die Vampire einzukreisen. Dabei traf mein Blick den des Mädchens. Ich wusste in dem Moment wirklich nicht, was mit mir geschah. Irgendwie zog sie mich in ihren Bann. Ich vergaß für eine Sekunde warum wir überhaupt hier waren und die Gefahr, die von den Vampiren ausging. Ich glaube, es ging ihr ähnlich. Auch sie starrte mich an und schien für einen Moment wie in Trance zu sein. „Nathan!“ Jackson riss mich aus meinen Gedanken und holte mich ins hier und jetzt zurück. Die drei Vampire hatten bereits die Flucht ergriffen. Scheiße! Die Anstrengungen der letzten Tage hatten uns einen Großteil unserer Kräfte entzogen, doch aufgeben kam nicht in Frage. Trotzdem verloren wir Fergus und Valeria als sie einen Abgrund hinuntersprangen. Der dritte Vampir jedoch zögerte einen Moment. Einen Moment zu lange, denn Jackson bekam ihn gerade noch zu fassen, als er zum Sprung in die Tiefe ansetzte. Der Vampir war definitiv noch ein Frischling, denn er wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah. Jackson drückte ihn mit Leichtigkeit zu Boden und nur eine Sekunde später biss Leon ihm den Kopf ab. Es war vorbei. Und wieder war für mich eine Chance verstrichen, gegen einen Vampir zu kämpfen. Wir verbrannten die Vampirgliedmaßen und beschlossen uns einen Ort in der Nähe für die Nacht zu suchen. So schnell würden die beiden übrigen Vampire nicht aus der Schlucht entkommen können. „Habt ihr den Blick der Frau gesehen?“ wollte Mason wissen. Oh ja, ich hatte diesen Blick gesehen und wusste nur allzu gut was er bedeutet. „Sie ist besessen von ihr. Sie hat ihr Blut gerochen und will sie töten. Koste es, was es wolle.“ sprach Jackson meine Gedanken aus. „Euch ist schon klar, dass wir das auf gar keinen Fall zulassen können?!“ Wenn ich mich nicht schon in meiner Wolfsgestalt befunden hätte, hätte ich mich spätestens jetzt unfreiwillig verwandelt, mein Puls schnellte in die Höhe. Aber warum? „Was war da eben zwischen dir und der Kleinen?“ warf Marc ein. „Das ist doch jetzt völlig unwichtig!“ Ich knurrte ihn an. Um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung was das eben war. Sie ging mir einfach nicht aus dem Kopf und ich fühlte mich auf irgendeine Art und Weise von ihr angezogen. Dieses Gefühl hatte ich noch nie, aber für eine „Lakota“ war das Gefühl nicht annähernd stark genug. Das glaubte ich zumindest. Lakota bedeutet in der Sprache der Sioux „Die Verbündeten“. Aus diesem Grund ist sowohl der Indianerstamm, als auch eine einzigartige Verbindung zwischen Mann und Frau nach diesem Wort benannt. Ein Werwolf geht nur einmal in seinem Leben ein solches Bündnis ein. Er ist im Laufe seines Lebens, welches meist weit über die menschliche Lebenserwartung hinaus geht, zwar in der Lage mehrere menschliche Frauen zu lieben, allerdings gibt es für ihn nur eine Seelenverwandte. Manche Wölfe finden sie nie, daher gilt es als großes Glück eine solch starke Verbindung eingehen zu dürfen. Allerdings ist es Schicksal, ob und mit wem man sich verbündet. Einem wird jegliche Entscheidungsfreiheit genommen. Man würde alles und zu jeder Zeit für seine Seelenverwandte tun und seine eigenen Bedürfnisse vollkommen in den Hintergrund stellen. Aber so wie ich es gehört hatte, verlief eine Lakota völlig anders, als der magische Augenblick den ich eben erlebt hatte. Der war nämlich nicht ansatzweise intensiv genug gewesen. Ich musste es mir eingebildet haben… Außerdem schien sie ein paar Jahre jünger zu sein als ich, aber ich bin sehr schlecht im Schätzen. Ich selbst war auch erst gerade einmal siebzehn Jahre alt, sah aber aus wie Mitte zwanzig, was natürlich an dem Werwolfgen lag. Man trug es von Geburt an im Körper, doch die meisten entdeckenten diese tierische Seite erst an sich, wenn sie die Pubertät beinahe durchlebt hatten. Um die erste Verwandlung auszulösen, ist es aber notwendig, dass sich Vampire in der Nähe befinden. Ist das nicht der Fall, verwandeln sich die Genträger nicht und sobald sie vollständig erwachsen sind, müssen sie nicht mehr befürchten sich in ein riesiges Tier auf vier Pfoten zu verwandeln. Genau so war es bei meinem Vater. Er selbst hat sich nie verwandelt und doch das Gen an mich weitergegeben. Da ich unter meinen Geschwistern der einzige Junge war, traf mich dieser Fluch als einziger. Von weiblichen Genträgern hatte ich noch nie etwas gehört. Und ich war vor wenigen Wochen einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Zu nah an Lysann, Fergus und Valeria… Jetzt zählte allerdings nur eins: Ich musste dieses unbekannte Mädchen beschützen... Komme was wolle. Jackson stellte sich zwischen uns, bevor es zu einem Kampf kommen konnte. „Wir müssen uns um sie kümmern, sie hat zu viel gesehen. Entweder sie bringt unser Geheimnis in Gefahr oder wird für verrückt erklärt. Wenn sie nicht bereit ist, mit uns zu kooperieren müssen wir uns etwas überlegen. Kein Mensch außerhalb unseres Stammes darf von unserer Existenz wissen.“ „Dann soll man sie doch für verrückt erklären und in die Klapse stecken, ihr wird sowieso niemand glauben.“ Dieser Kommentar war zu viel für mich. Ich wollte Marc angreifen, obwohl ich mich kaum noch in der Lage fühlte auf meinen eigenen Pfoten zu stehen. Was war nur in mich gefahren? Doch bevor es soweit kommen konnte versperrten Tyler und Mason mir den Weg. Resignierend, aber immer noch wütend sackte ich in mich zusammen. „Bitte Jackson, lass mich mit ihr reden.“ winselte ich ihn an. Jackson schien zu überlegen. „Nathan, ich glaube wir sollten uns lieber alle erst einmal ausruhen. Ich glaube nicht, dass du heute noch in der Lage bist dich mit einem wahrscheinlich völlig verstörten Mädchen auseinanderzusetzen.“ „Lass mich wenigstes nachsehen, ob es ihr gut geht.“ Jackson nickte nur. „Leon übernimmt die erste Nachtwache, Marc die Zweite. Bei Tagesanbruch versuchen wir die Spur der Blutsauger wieder aufzunehmen.“ Damit war das telepathische Gespräch für den heutigen Tag beendet und das Rudel legte sich zum Schlafen auf den Waldboden. Ich hätte einige Stunden Schlaf sehr gut gebrauchen können, aber vorher musste ich mich vergewissern, wie es ihr geht. Ich trabte durch den Wald, wobei ich ihrer Geruchsspur folgte. Als ich an ihrem Haus angekommen war, wandelte ich mich im Schatten der Häuser. Es tat gut nach so langer Zeit auch mal wieder auf zwei Beinen zu stehen. Praktischerweise haben wir Wölfe immer ein Gummiband am Hinterbein, an dem eine sehr klein zusammengefaltete Hose befestigt ist. So musste ich ihr wenigstens nicht völlig nackt gegenübertreten. Nachdem ich wenigstens unten herum bekleidet war, schämte ich mich trotzdem ihr so begegnen zu müssen. Was sollte sie bloß von mir denken? Aber in Wolfsgestalt konnte ich ja wohl schlecht mit ihr reden. Wie sollte ich überhaupt an sie herankommen, ohne sie noch mehr zu verschrecken? Ich beschloss es auf die ganz altmodische Weise zu versuchen: Ich warf kleine Kieselsteine an ihr Zimmerfenster, indem noch ein kleines Licht zu brennen schien. Ich konnte noch ihre Angst und ihre Tränen riechen, da konnte ich ja wohl schlecht einfach bei ihr einbrechen. Was sollte ich sagen, wenn sie tatsächlich das Fenster öffnen würde?
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD