1. Kapitel
Das Raumschiff Lenticularis Teil 2
Frau Kapitän war inzwischen aufgestanden. „Abmarsch!“, rief sie ungeduldig. „Auf zum Maschinenraum, du wolltest mir doch zeigen, dass der Antrieb wieder voll funktionstüchtig ist.“
Karl nickte, sagte etwas, das man nicht verstand, da er den Mund voll hatte und watschelte dann vor dem Kapitän her, den g**g zum Maschinenraum entlang. Auf ihrem Weg dorthin, bot sich den beiden eine recht eigenartige Szene. Der grüne Leibwächter des Kapitäns kniete nämlich auf dem Boden und wischte eifrig etwas weg. Neben ihm stand Frau Bianca Joan, eine Ärztin und sozusagen die inoffizielle Oberärztin des Schiffes. Alles hörte im Krankensaal auf ihren Rat und ihr Kommando. Sie verlor nie den Überblick und schien immer alles voll im Griff zu haben, egal mit welchen Blessuren man zu ihr kam, ob mit Brüchen, Blutergüssen, Wunden, Bauchschmerzen, Kopfweh, Schnupfen, Infektionen oder Vergiftungen. Im Moment schien sie allerdings nicht ihrer Tätigkeit nachzugehen, sondern den Leibwächter Balthasar auszulachen. Es sah auch zu komisch aus, was dieser veranstaltete.
Verwundert blieb der Kapitän stehen. „Was ist denn hier passiert?“, wollte sie wissen.
Die Ärztin Bianca, oft wurde sie auch einfach Doc. genannt, hörte auf zu lachen und begann zu erklären. „Nun ja, es war so, ich habe ihn erwischt, wie er triefend nass durch die Gänge stapfte. Da habe ich ihn dazu verdonnert, sich abzutrocknen, sich neu einzukleiden und dann den Boden zu wischen. Blondie ist in das große Becken im Schwimmbad gefallen, keine Ahnung, wie der Unglücksrabe das hinbekommen hat.“ Bianka verzog ihren Kirschmund und ihre kleinen Stirnwölbungen bebten. Der Kapitän schüttelte mit dem Kopf. Über die Fisimatenten ihrer Crew konnte sie sich nur wundern. Zwar waren alle erwachsen, aber manchmal benahmen sie sich doch wie Kinder. Der Altersdurchschnitt an Bord lag etwas unter dreißig Jahren, Carol selbst war Mitte Zwanzig.
Kapitän Thunderstorm hatte gar nicht mitbekommen, dass ihr Haustierchen dem Bodyguard ein Schnippchen geschlagen hatte. Das kleine Biest lachte sich derweil ins Fäustchen.
„Warum hast du dich nicht im Schwimmbad abgetrocknet? Dort gibt es doch genügend Handtücher! Triefend nass musstest du durch die Gänge waten!“, schimpfte Carol.
„Typisch Mann“, prustete die Ärztin Bianca und wischte sich die Tränen des Frohsinns auf dem Antlitz. Beleidigt schielte Balthasar hinauf zu der safranfarbigen Schönheit im weißen Kittel mit ihrem azurblauen Kurzhaarschnitt und den vielen Ohrringen in ihren großen Lauschern.
Fräulein Thunderstorm regte sich nicht weiter darüber auf, sie dachte sich lediglich ihren Teil, Trottel! Was auch immer in den Köpfen der Herren vor sich ging, sie hatte es noch nie verstanden. Gibt es eigentlich intelligentes Leben im maskulinen Teil des Universums? Andererseits, es gab auch sehr geistreiche männliche Wesen. Karlchen zum Beispiel. Zwar sah der Bursche nicht so aus, aber er war nicht auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil, er war sehr pfiffig, nie um eine Antwort verlegen und ihm fiel eigentlich immer eine Lösung ein, aber leider musste er auch oft das letzte Wort haben. Ansonsten kam Carol nur noch der weise Albert in den Sinn, seines Zeichens Mystiker und Magier. Ausnahmen bestätigten eben die Regel.
Nach diesem unfreiwillig komischen Ereignis begab sich Frau Kapitän zum Maschinenraum und dort zeigte Karl ihr, was er mit Hilfe der anderen Mechaniker repariert hatte. Er präsentierte ihr die Anzeigen des Kontrollbildschirms und versicherte ihr immer wieder, dass alle Fehler und Schäden behoben seien. Kapitän Thunderstorm nickte, sie war sehr zufrieden mit der Arbeit der Maschinenbauer, verabschiedete sich von diesen und schlenderte zurück zum Cockpit. Begleitet wurde sie nur von Min, denn Karl Grünbart blieb an seinem Arbeitsplatz zurück. Es gab noch viel zu tun für ihn, auch wenn der Antrieb wieder auf Hochtouren lief. Das Raumschiff konnte mit einer Höchstgeschwindigkeit von 33facher Lichtgeschwindigkeit fliegen, im Moment bestätigte die Anzeige modere 20fache. Die Höchstgeschwindigkeit war nur für Notfälle gedacht und in diesem Moment war alles friedlich. Feinde waren nicht in Sichtweite, dafür gab es gute Neuigkeiten. Kurz nachdem der Kapitän im Cockpit ankam, meldete ihr Laura, dass das neue Etappenziel der Reise in Sicht war und sofort nahm die Kommunikationsassistentin Kontakt mit dem Planeten auf, in dessen Umlaufbahn sie einschwenkten. Die Bewohner freuten sich über den bereits angekündigten Besuch und hießen das Raumschiff im Orbit herzlich willkommen. Nun war die Zeit für die Kommission gekommen. Das Komitee bestand aus mehreren Botschaftern, Gelehrten, dem Seher Albert Weisenstein und anderen in der interplanetaren Verständigung versierten Personen. Die Delegation war gebildet worden, um mit den Einwohnern von fernen Planeten oder deren Vertretern zu verhandeln, Verträge zu entwerfen und die Einheimischen dazu zu bewegen, in den Bund der geeinten Planetensysteme und Völker einzutreten. Die Kommission bestand aus ausgebildeten Fachkräften, die ihr Handwerk verstanden. Sie hatten bisher schon viele erfolgreiche Sitzungen hinter sich gebracht. Gegen notorische Skeptiker oder blanke Ablehnung waren sie jedoch wie alle Diplomaten machtlos. Reden konnten sie allerdings, manchmal sogar ihr Gegenüber in Grund und Boden. Frau Kapitän vertraute diesen Fachkräften, so wie sie dem Rest ihrer Crew vertraute und vor allem setzte der Rat des Bundes alle Hoffnungen in seine Abgesandten.
Während man das Komitee nun auf den Planeten brachte, zum obersten Bürgermeister des dort beheimateten Volkes, ging die Mannschaft an Bord weiter ihren Tätigkeiten nach. Messdaten vom Planeten wurden aufgenommen, man katalogisierte ihn, scannte jeden Berg und jede Untiefe des Meeres, berechnete die Landflächen und trug Informationen von der Biodiversität bis zur Demografie zusammen, an die man gelangen konnte. Es wurde in der Historie des beheimateten Volkes recherchiert, ihre biologischen Parameter erhoben und die Vielfalt der Flora und Fauna begutachtet. Einige Forscher begaben sich auch nach unten, sprachen mit den Bewohnern und machten dreidimensionale Lichtbilder von ihnen, natürlich nur nach vorheriger Einverständniserklärung. Man ließ sich das tägliche Leben auf dem Gestirn beschreiben, hörte sich Vorträge über den dortigen Religionen an und errechnete auch die Bevölkerungsdichte pro Quadratkilometer. Es gab viel zu tun, man wollte genau im Bilde sein, wen man möglicherweise als neues Mitglied im Bund willkommen hieß. Denn die Einwohner hatten Ambitionen hierfür, sie waren höflich, kaum über anderthalb Meter hoch, gänzlich grün und mit überdimensionalen Facettenaugen und Katzenohren ausgestattet, die im Kontrast zu ihren eher schmalen Mündern standen. Darüber hinaus besaßen sie drei Armpaare und einen für Empathie empfänglichen Stirnfleck. Krieg war dem grünen Volk fremd. Der Vertrag war schon so gut wie unter Dach und Fach. Nun mussten vom Komitee nur noch die allerletzten Feinheiten des Bündnisses ausgearbeitet werden.
Da die Crew so geschäftig war, wollte auch ihr Kapitän nicht untätig herumsitzen. Sie ließ sich ebenfalls auf die Planetenoberfläche bringen, um sich die neuen Mitglieder anzusehen. Dank neuester Technik war dies bequem per Teleportation möglich. Doch leider begegnete sie auf dem Weg zum Transporter-Raum ihrem Leibwächter. Eigentlich hatte sie vorgehabt, allein nach unten zu gehen, doch daraus wurde nichts. Balthasar bestand kategorisch darauf, mitzukommen. Seine Berufsehre stand auf dem Spiel. Also gab sich Carol geschlagen und nahm ihn mit, ihr blieb ja auch nichts anderes übrig.
Nahe dem Bürgermeisteramt ließ der Teleporter sie wieder auftauchen. Dort tagte bereits das Komitee mit ausgewählten Vertretern der einheimischen Bevölkerung. Kapitän Thunderstorm hatte nicht vor, in die Tagung hineinzuplatzen. Lieber sah sie sich das alltägliche Leben in den Straßen an und ihr Leibwächter folgte ihr wie ein Schatten. Die Einheimischen waren recht verdattert, denn Besucher von Außerhalb waren selten. Kontakt hatte man zwar schon vor einiger Zeit aufgenommen, doch Diplomatie braucht viel Vorlauf. Ganz so unerwartet wie sie taten kam der Besuch den Bewohnern jedoch nicht über den Hals. Alles war angekündigt und anständig vorbereitet worden, inklusive einer Volksabstimmung im Vorfeld, in dem die Mehrheit für einen Beitritt zum Bund gestimmt hatte.
„Hier will man gerne zum großen Ganzen gehören“, murmelte Carol bei sich als sie Willkommensbanner für die Gäste von Außerhalb entdeckte, „man möchte neue Leute, fremde Welten und das ganze Drum und Dran kennen lernen.“
In der Tat gab es viel voneinander abzuschauen. Die Technik hier vor Ort war allerdings nicht auf dem neuesten Stand, man konnte noch keine eigenen Raumschiffe bauen und Waffen gab es nicht. Dafür war dies ein Planet des Friedens und die Völker des Bundes konnten viel aus der Mentalität dieser Leute lernen, die es geschafft hatten, ein friedliches Miteinander auf ihrem Planeten zu schaffen, in Einklang mit der Natur und der heimischen Tierwelt. Nicht alle Rassen der Galaxie waren schon so weit entwickelt, immer wieder gab es Auseinandersetzungen und Streit. Von der bewegten Geschichte der Menschheit auf dem fernen Planeten Erde, geprägt von Krieg und Egoismus, wusste man hier nichts, selbst Carol kannte die Geschichte ihrer Ahnen nur vom Hörensagen. Es war alles viel zu lange her und zur Abwechslung hatte sich die Geschichte nicht wiederholt, seit die Kolonie auf Belix gegründet worden war.
Doch ab sofort würde auch das grüne Volk in der Lage sein, durchs All zu reisen, auf Schiffen, die dem Bund gehörten oder auf Raumfahrzeugen, die man selbst zu bauen lernte. Denn mit dem Abschluss des Vertrages würden den – liebevoll als Grünlinge bezeichneten – Leuten viele Erfindungen zuteilwerden, sowie deren Baupläne und Herstellungsanleitungen. Der Haken bei der Sache war nur, dass es darunter auch Bauanleitungen für Waffen gab oder für Dinge die sich als solche verwenden ließen. Daher hatte sich das Komitee im Vorfeld darauf geeinigt, den Grünlingen erst einmal lediglich Baupläne für Waffen auszuhändigen, die allenthalben betäubten. Die Einwohner waren strenge Vegetarier, hatten noch nie getötet und sollten jetzt nicht urplötzlich damit anfangen.
Derweil man nun eifrig im Bürgermeisteramt debattierte schlenderte Kapitän Carol Thunderstorm durch die Straßen, grübelte über Ethik und Evolution, und sah sich nebenbei die Geschäfte an, die Müßiggänger auf dem Markt oder die Waren in den Schaufenstern. Zwischendurch wurde sie immer wieder von Bewohnern angehalten und gefragt, ob sie zu dem Raumschiff gehörte, welches gekommen war, um sie in den Bund aufzunehmen. Carol bejahte dies, die Grünlinge strahlten, stellten viele Fragen über das All, ließen sich die Vorteile der Raumfahrt aufzählen und träumten davon, bald selbst durch die Unendlichkeit zu reisen. Es musste wunderbar sein, an Planeten, Elektronensternen oder ganzen Sonnensystemen vorbeizufliegen, Asteroiden zu sehen und vor allem fanden sie es großartig, wenn Carol ihnen von der Entdeckung neuer Gestirne und Lebensformen erzählte und von ihren Versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Auch vom Vorhaben des Bundes, noch weitere Völker zu integrieren, waren sie begeistert. Die Bürger hörten fasziniert zu und schließlich fragte man auch nach Carols Funktion an Bord. Da Carol keine gute Lügnerin war, blieb sie bei der Wahrheit und ergänzte noch schnell Balthasars Funktion als Bodyguard. Die Brust schwoll ihm an und er wäre vor Stolz beinahe geplatzt. Die kleinen Grünen staunten Bauklötze und sahen ehrfürchtig zu dem Riesen im schwarzen Jackett auf.
So verging die Zeit und Carol lernte eine Menge über das Leben hier. Sie zog mit Balthasar durch die Gassen, bis sie irgendwann abrupt stehen blieb. Sie hatte aber nicht vor, sich mit einem Einheimischen zu unterhalten. Ihr Leibwächter stoppte ebenfalls. Verwundert sah er sie an.
„Was ist?“, fragte er, doch er bekam keine Antwort.
Mit entrücktem Blick starrte Carol zu einer kleinen Rasenfläche mit ein paar Bäumen. Unter einem dieser Bäume saßen zwei Kinder. Sie waren noch kleiner als die Erwachsenen und es handelte sich allem Anschein nach um ein Mädchen und einen Jungen. Der Junge war vielleicht ein Jahr jünger als das Mädchen, sie spielten ausgelassen und wirkten vergnügt. Carol wandte den Blick wieder ab, denn diese Szene weckte alte Erinnerungen. Balthasar guckte zu den Kindern und kratzte sich ratlos am Hinterkopf. Er hatte keine Ahnung, was mit dem Kapitän auf einmal los war. Sie sagte kein Wort, sondern stapfte schnurstracks davon und Balthasar Chan folgte ihr eilig.
„Was ist denn nur los?“, fragte er besorgt. Sein Kapitän antwortete nicht. Stattdessen wischte sich Carol etwas aus dem Augenwinkel. Balthasar war sprachlos, er hatte diese unverwüstliche Frau, die nichts aus der Ruhe brachte, die kein Sturm zur Umkehr zwang, die niemals aufgab und sich keine Vorschriften machen ließ, noch niemals weinen sehen. Was in drei Himmels Namen geht hier vor? Er wollte es jetzt unbedingt wissen, also hakte er wiederholt nach. Es dauerte eine Weile, bis sie ihm antwortete.
„Es ist nichts, ich habe nur Staub in die Augen bekommen. Gehen wir, ich will zurück auf das Schiff.“ Mit diesen Worten drückte sie auf einen speziellen Knopf auf ihrer Armbanduhr, die gleichzeitig ein multifunktionales Funkgerät und ein Kompass war. Durch das Drücken des Knopfes gab sie den ultimativen Befehl, sie auf das Schiff zu teleportieren, was auch umgehend geschah. Balthasar Chan sah ziemlich verdutzt aus der Wäsche und kapierte das alles nicht. Seine Frau Kapitän war schon eine eigenwillige Person. Sonst war sie immer hart und unantastbar und eben war sie ihm für einen Augenblick regelrecht zerbrechlich vorgekommen. Die beiden Kinder waren der Schlüssel, Balthasar hätte zu gerne gewusst, für was. Nur noch kurz grübelte er, raffte seinen schwarzen Anzug, rückte seine Sonnenbrille zurecht, drückte dann einen Knopf an seiner Armbanduhr und schon wurde auch er an Bord zurückgeholt. Dort angekommen, teilte man ihm mit, dass sich Frau Kapitän in ihre Kabine zurückgezogen hatte und dass sie befohlen habe, er solle sich den Rest des Tages frei nehmen. Balthasar verließ den Transporter-Raum, sich dabei ratlos am Kopf kratzend.
Ungewohnt grüblerisch wäre er im Flur dann um ein Haar in Laura hineingerannt, die adrette Computerfrau. Sie lächelte kokett.
„Na, Balthasar?“, fragte sie. „Was ist passiert? Warum schlurfst du ganz in Gedanken versunken durch das Schiff?“ Balthasar brummte irgendetwas, Laura verstand ihn nicht. „Was hast du gesagt, Brummelchen?“
Einen Moment herrschte Schweigen, dann rückte er endlich mit der Sprache heraus, „Ich mache mir Sorgen um unseren Kapitän. Sie ist so sonderbar. Ich glaube, sie hat geweint, aber ich verstehe nicht, warum. Sie sah zwei Kinder, die spielten. Dann wollte sie unbedingt zurück. Ich vermute, sie wurde an irgendetwas erinnert. Aber sie wollte mir nicht sagen, was los ist.“
Laura überlegte angestrengt. „Natürlich nicht“, sagte sie dann lächelnd, „du bist ein Mann und du weißt, es ist ein offenes Geheimnis, dass sie schon von vielen Männern enttäuscht wurde. Dir würde sie garantiert nicht ihr Herz ausschütten. Ich als Frau hätte vielleicht eine Chance. Zufällig bin ich auch noch ihre Freundin. Ich werde nach ihr sehen, du könntest ja inzwischen in den Fitnessraum gehen und trainieren. Ich glaube, du hast den Geräten dort schon lange keinen Besuch mehr abgestattet. Es wird also Zeit, sonst setzt du Fett an.“ Sie feixte und er brummte irgendetwas Unverständliches und verschwand dann in Richtung Fitnessraum, was er genuschelt hatte, hatte sich angehört wie: „Aye, Chefin.“ Laura kicherte leise und machte sich dann auf den Weg und während sie nun an der Tür der Kapitänskabine klopfte, brachten die Fitnessgeräte Balthasar zum Schwitzen.