Kapitel 1

2432 Words
1 Chloe Ein Auto geht in Flammen auf, die Schaufensterscheibe zu meiner Linken explodiert, und Glasscherben fliegen weit in alle Richtungen. Ich erstarre, bin so fassungslos, dass ich kaum spüre, wie sich das Glas in meinen nackten Arm bohrt. Dann höre ich die Schreie. »Es wurde geschossen! Ruft den Notruf an!«, schreit jemand auf der Straße, und Adrenalin durchflutet meine Adern, während mein Gehirn die Verbindung zwischen dem Geräusch und den Glassplittern herstellt. Jemand hat geschossen. Auf mich. Sie haben mich gefunden. Meine Füße reagieren zuerst und laufen los, gerade als ein weiteres scharfes Pop meine Ohren erreicht und die Kasse im Inneren des Ladens explodiert. Dieselbe Kasse, vor der sich vor einer Sekunde mein Körper befand. Ich schmecke Entsetzen. Es schmeckt nach Eisen, genau wie Blut. Vielleicht ist es Blut. Vielleicht wurde ich angeschossen und sterbe gerade. Aber nein, ich laufe noch. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Ohren, und meine Lungen arbeiten, was das Zeug hält, während ich die Straße hinunterrenne. Ich kann das Brennen in meinen Beinen spüren, also bin ich am Leben. Vorläufig. Weil sie mich gefunden haben. Schon wieder. Ich biege scharf rechts ab und laufe eine schmale Seitenstraße hinunter. Über meine Schulter sehe ich zwei Männer, die mir mit einem halben Block Abstand mit voller Geschwindigkeit hinterherlaufen. Meine Lungen schreien bereits nach Luft, meine Beine drohen aufzugeben, aber ich erreiche eine verzweifelte Geschwindigkeit und rase in eine Gasse, bevor sie um die Ecke kommen. Ein eineinhalb Meter hoher Maschendrahtzaun teilt die Gasse in zwei Hälften, aber ich klettere in Sekundenschnelle über ihn, da mir das Adrenalin die Beweglichkeit und Kraft eines Athleten verleiht. Der hintere Teil der Gasse führt zu einer anderen Straße, und ein Schluchzen der Erleichterung entweicht meiner Kehle, als ich feststelle, dass es die ist, in der ich mein Auto vor dem Bewerbungsgespräch geparkt habe. Lauf, Chloe. Du schaffst das. Verzweifelt schnappe ich nach Luft, renne die Straße hinunter und suche den Straßenrand nach einem verbeulten Toyota Corolla ab. Wo ist er? Wo habe ich das verdammte Auto gelassen? War es hinter dem blauen Lieferwagen oder dem weißen? Bitte lass es da sein. Bitte lass es da sein. Schließlich entdecke ich es halb versteckt hinter einem weißen Lieferwagen. Ich krame in meiner Tasche, ziehe die Schlüssel heraus und drücke mit zitternden Händen den Knopf, um das Auto zu entriegeln. Ich bin schon drin und schiebe gerade den Schlüssel ins Zündschloss, als ich meine Verfolger einen Block hinter mir aus der Gasse kommen sehe, jeder mit einer Waffe in der Hand. Ich zittere immer noch, als ich fünf Stunden später an einer Tankstelle halte, der ersten, die ich auf dieser kurvenreichen Bergstraße sehe. Das war knapp, viel zu knapp. Sie werden immer mutiger, verzweifelter. Sie haben auf der verdammten Straße auf mich geschossen. Meine Beine fühlen sich wie Gummi an, als ich aus dem Auto steige und meine leere Wasserflasche umklammere. Ich brauche eine Toilette, Wasser, Essen und Benzin, in dieser Reihenfolge – und idealerweise ein neues Fahrzeug, denn sie könnten das Kennzeichen meines Toyotas haben. Das heißt, vorausgesetzt, sie hatten es nicht schon. Ich habe keine Ahnung, wie sie mich in Boise, Idaho gefunden haben, aber es könnte über mein Auto gewesen sein. Das Problem ist, dass das Wenige, was ich darüber weiß, wie man Verbrechern ausweicht, die auf Mord aus sind, aus Büchern und Filmen stammt, und ich habe keine Ahnung, was meine Verfolger tatsächlich nachverfolgen können. Um auf Nummer sicher zu gehen, benutze ich keine meiner Kreditkarten, und mein Handy habe ich gleich am ersten Tag weggeworfen. Ein weiteres Problem ist, dass ich genau zweiunddreißig Dollar und vierundzwanzig Cent in meinem Portemonnaie habe. Die Stelle als Kellnerin, für die ich mich heute Morgen in Boise beworben habe, wäre die Rettung gewesen, denn der Cafébesitzer war bereit, mich schwarz zu bezahlen, aber sie haben mich gefunden, bevor ich eine einzige Schicht machen konnte. Ein paar Zentimeter weiter rechts, und die Kugel wäre durch meinen Kopf gegangen, anstatt durch das Schaufenster. Eine Blutlache auf dem Küchenboden … Rosa Bademantel auf weißen Kacheln … Gläserner, blinder Blick … Mein Herzschlag beschleunigt sich, mein Zittern wird stärker, und meine Knie drohen unter mir einzuknicken. Ich lehne mich gegen die Motorhaube meines Autos und atme zitternd ein. Ich versuche, das verrückte Trommeln meines Pulses zu verlangsamen, während ich die Erinnerungen tief in mir vergrabe, wo sie meine Kehle nicht wie ein Schraubstock zerquetschen können. Ich kann nicht darüber nachdenken, was passiert ist. Wenn ich das tue, werde ich zerbrechen – und sie werden gewinnen. Sie könnten trotzdem gewinnen, denn ich habe kein Geld und keine Ahnung, was ich tue. Eine Sache nach der anderen, Chloe. Einen Fuß vor den anderen. Moms Stimme kommt mir in den Sinn, ruhig und beständig, und ich zwinge mich, mich von dem Auto aufzurichten. Was also, wenn meine Situation von verzweifelt zu kritisch gewechselt hat? Ich bin noch am Leben, und das will ich auch bleiben. Ich habe vor ein paar Stunden alle Glassplitter aus meinem Arm gezogen, aber das T-Shirt, das ich darumgewickelt habe, um die Blutung zu stoppen, sieht seltsam aus, also schnappe ich mir meinen Kapuzenpulli aus dem Kofferraum und ziehe die Kapuze hoch, um mein Gesicht vor den Überwachungskameras zu verstecken, die vielleicht in der Tankstelle sind. Ich weiß nicht, ob die Leute, die hinter mir her sind, in der Lage sind, Zugang zu diesen Aufzeichnungen zu bekommen, aber es ist besser, es nicht zu riskieren. Wiederum vorausgesetzt, sie verfolgen nicht bereits mein Auto. Konzentrier dich, Chloe. Ein Schritt nach dem anderen. Mit einem beruhigenden Atemzug gehe ich in den kleinen Supermarkt der Tankstelle, winke der älteren Frau hinter der Kasse zu und gehe direkt zur Toilette im rückwärtigen Bereich. Als meine dringendsten Bedürfnisse erledigt sind, wasche ich mir die Hände und das Gesicht, fülle meine Wasserflasche mit Leitungswasser auf und ziehe mein Portemonnaie heraus, um die Scheine zu zählen, nur für den Fall. Nein, ich habe mich nicht verrechnet oder einen Zwanziger übersehen. Zweiunddreißig Dollar und vierundzwanzig Cent ist alles, was ich an Bargeld übrig habe. Das Gesicht im Toilettenspiegel ist das einer Fremden, angespannt und hohlwangig, mit dunklen Ringen unter übermäßig großen braunen Augen. Ich habe weder normal gegessen noch geschlafen, seit ich auf der Flucht bin, und das sieht man. Ich wirke älter als dreiundzwanzig Jahre, da der letzte Monat mich um ein Jahrzehnt hat altern lassen. Ich unterdrücke den nutzlosen Anfall von Selbstmitleid und konzentriere mich auf das Praktische. Schritt eins: Entscheiden, wie ich das Geld, das ich habe, einteile. Die größte Priorität hat das Benzin für das Auto. Der Tank ist zu weniger als einem Viertel voll, und ich weiß nicht, wann ich in dieser Gegend wieder eine Tankstelle finden werde. Volltanken wird mich mindestens dreißig Dollar kosten, so dass mir nur ein paar Dollar für Essen bleiben, um die quälende Leere in meinem Magen zu besänftigen. Noch schlimmer ist, dass ich das nächste Mal, wenn mir das Benzin ausgeht, ein noch größeres Problem haben werde. Ich verlasse die Toilette, gehe zur Kasse und sage der älteren Kassiererin, dass ich für zwanzig Dollar tanken möchte. Ich schnappe mir auch einen Hotdog und eine Banane und verschlinge den Hotdog, während die Frau langsam das Wechselgeld abzählt. Die Banane verstaue ich für das morgige Frühstück in der Vordertasche meines Pullis. »Bitte sehr, meine Liebe«, sagt die Kassiererin mit heiserer Stimme und überreicht mir das Wechselgeld zusammen mit einer Quittung. Mit einem freundlichen Lächeln fügt sie hinzu: »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Zu meinem Entsetzen schnürt sich mein Hals zusammen, und Tränen brennen in meinen Augen, weil mich die Freundlichkeit völlig aus der Bahn wirft. »Vielen Dank. Ich Ihnen auch«, sage ich mit erstickter Stimme, stopfe das Wechselgeld in mein Portemonnaie und eile in Richtung Ausgang, bevor ich die Frau mit einem Tränenausbruch alarmieren kann. Ich bin schon fast aus der Tür, als mir eine lokale Zeitung ins Auge fällt. Sie steckt in einem der Ständer mit der Aufschrift GRATIS, also schnappe ich sie mir, bevor ich zu meinem Auto gehe. Während der Tank gefüllt wird, bringe ich meine widerspenstigen Emotionen unter Kontrolle, schlage die Zeitung auf und wende mich direkt dem hinteren Teil mit den Kleinanzeigen zu. Es ist weit hergeholt, aber vielleicht bietet jemand hier in der Gegend einen Job an, wie Fensterputzen oder Heckenschneiden. Selbst fünfzig Dollar könnten meine Überlebenschancen erhöhen. Zuerst sehe ich nichts, was dem entspricht, was ich suche, und ich bin kurz davor, die Zeitung enttäuscht zusammenzufalten, als eine Anzeige am unteren Ende der Seite meine Aufmerksamkeit erregt: Hauslehrer für Vierjährigen gesucht. Muss gebildet sein, gut mit Kindern umgehen können und bereit sein, auf ein abgelegenes Berggut zu ziehen. $ 3000 / Woche in bar. Um sich zu bewerben, schicken Sie Ihren Lebenslauf an tutorcandidates459@g*******m. Drei Riesen pro Woche in bar? Was zur Hölle …? Ich kann meinen Augen nicht trauen und lese die Anzeige erneut. Nein, alle Wörter sind immer noch dieselben, was verrückt ist. Drei Riesen pro Woche für einen Lehrer? In bar? Das ist ein Scherz, es muss einer sein. Mit klopfendem Herzen tanke ich zu Ende und steige ins Auto. Meine Gedanken rasen. Ich bin der perfekte Kandidat für diese Position. Ich habe nicht nur gerade mein Studium der Erziehungswissenschaften abgeschlossen, sondern habe auch während der gesamten Highschool und dem College auf Kinder aufgepasst und Nachhilfe gegeben. Und der Umzug auf ein abgelegenes Berggut? Perfekt für mich! Je abgelegener, desto besser. Es ist, als ob die Anzeige speziell für mich geschaltet wurde. Moment einmal. Könnte das eine Falle sein? Nein, das ist wirklich paranoid. Seit dem Zwischenfall heute Morgen fahre ich ziellos durch die Gegend, um so viel Abstand wie möglich zwischen mich und Boise zu bringen, während ich mich von den Hauptstraßen und Autobahnen fernhalte, um die Verkehrskameras zu umgehen. Meine Verfolger hätten eine Kristallkugel haben müssen, um zu ahnen, dass ich in dieser abgelegenen Gegend landen und dann auch noch diese Lokalzeitung nehmen und lesen würde. Die einzige Möglichkeit, wie das eine Falle sein könnte, wäre, wenn sie ähnliche Anzeigen in allen Zeitungen des Landes und auf allen großen Jobbörsen geschaltet hätten, und auch das fühlt sich weit hergeholt an. Nein, es ist unwahrscheinlich, dass es eine Falle ist, die speziell für mich gestellt wurde, aber es könnte etwas ebenso Unheimliches sein. Ich zögere einen Moment, dann steige ich aus dem Auto und gehe zurück in den Laden. »Entschuldigen Sie, Ma’am«, sage ich und gehe auf die ältere Kassiererin zu. »Wohnen Sie in dieser Gegend?« »Aber ja, meine Liebe.« Ein Lächeln erhellt ihr faltiges Gesicht. »Ich bin in Elkwood Creek geboren und aufgewachsen.« »Großartig. Wenn das so ist«, ich schlage die Zeitung auf und lege sie auf den Tresen, »wissen Sie etwas darüber?« Ich zeige auf die Anzeige. Sie holt eine Lesebrille heraus und blinzelt auf den kleinen Text. »Hm. Drei Riesen pro Woche für einen Nachhilfelehrer – muss noch reicher sein, als sie sagen.« Mein Puls rast vor Aufregung. »Sie wissen, wer diese Anzeige aufgegeben hat?« Sie schaut auf, und ihre trüben Augen blinzeln hinter ihren dicken Brillengläsern. »Nun, ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber man munkelt, dass ein reicher Russe das alte Jamieson-Anwesen oben in den Bergen gekauft und dort ein brandneues Haus gebaut hat. Hat ein paar Jungs von hier für einige Jobs hier und da angeheuert, immer gegen Barzahlung. Allerdings hat niemand etwas über ein Kind gesagt, also könnte er es auch nicht sein – aber ich kann mir niemanden in dieser Gegend vorstellen, der so viel Geld hat, geschweige denn etwas, was einem Anwesen nahekommt.« Heilige Scheiße. Das könnte wirklich wahr sein. Ein reicher Ausländer – das würde sowohl das zu hohe Gehalt als auch das Bargeld erklären. Der Mann, oder eher das Paar, da ein Kind involviert ist, weiß vielleicht nicht, wie hoch die Preise für Lehrer hier sind, oder es ist ihnen egal. Wenn man reich genug ist, sind ein paar Tausender vielleicht nicht bedeutungsvoller als ein paar Pennys. Für mich könnte jedoch ein einziger Wochenlohn den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Wenn ich so viel Geld in einem Monat verdienen würde, könnte ich mir ein anderes gebrauchtes Auto kaufen und vielleicht sogar gefälschte Papiere, damit ich das Land verlassen und für immer verschwinden kann. Das Beste von allem ist, dass es eine Weile dauern kann, bis meine Verfolger mich dort finden – wenn sie es überhaupt tun. Mit einem Gehalt in bar gäbe es keine Papierspur, nichts, was mich mit dem russischen Paar in Verbindung bringen würde. Dieser Job könnte die Antwort auf all meine Gebete sein … wenn ich ihn bekomme, heißt das. »Gibt es hier irgendwo eine öffentliche Bibliothek?«, frage ich und versuche, meine Aufregung zu zügeln. Ich will mir keine großen Hoffnungen machen. Selbst wenn mein Lebenslauf der beste ist, den sie bekommen, könnte der Einstellungsprozess Wochen oder Monate dauern, und es ist nicht sicher, so lange hierzubleiben. Wenn sie mich in Boise gefunden haben, werden sie mich auch hier finden. Es ist nur eine Frage der Zeit. Die Kassiererin strahlt mich an. »Aber ja, meine Liebe. Fahren Sie einfach etwa fünfzehn Kilometer nach Norden. Wenn Sie die ersten Gebäude sehen, biegen Sie links ab, fahren über zwei Kreuzungen, und dann liegt sie auf der linken Seite direkt neben dem Büro des Sheriffs.« »Wunderbar, vielen Dank. Haben Sie einen Stift?« Als sie ihn mir reicht, schreibe ich die Wegbeschreibung auf die Titelseite der Zeitung. Kein Smartphone mit GPS zu haben nervt. »Einen schönen Tag noch«, sage ich der älteren Dame, und als ich dieses Mal hinausgehe, habe ich einen deutlich federnden Schritt. Die winzige Bibliothek schließt um fünf Uhr nachmittags, also stelle ich eilig meinen Lebenslauf und mein Anschreiben an einem der öffentlichen Computer zusammen und schicke beides an die in der Anzeige angegebene Adresse. Anstatt einer Telefonnummer und einer E-Mail-Adresse habe ich nur meine E-Mail-Adresse in den Lebenslauf geschrieben und hoffe, dass das reicht. Als ich fertig bin, schließt die Bibliothek, also steige ich wieder in mein Auto, fahre aus der Kleinstadt hinaus und biege wahllos in enge, kurvige Straßen ein, bis ich finde, was ich suche. Eine Lichtung im Wald, wo ich meinen Toyota hinter den Bäumen parken kann, außerhalb der Sichtweite der vorbeifahrenden Autos. Als das Auto sicher geparkt ist, öffne ich den Kofferraum und hole einen weiteren Pullover aus dem Koffer, den ich zum Glück dabeihatte, als mein Leben in die Brüche ging. Ich rolle den Pullover zusammen, strecke mich auf der Rückbank aus, lege das behelfsmäßige Kissen unter meinen Kopf und schließe die Augen. Mein letzter Gedanke, bevor mich der Schlaf in die Tiefe reißt, ist die Hoffnung, dass ich lange genug am Leben bleibe, um von dem Job zu hören.
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